Der
Krieg der Lügen
Uri Avnery, 9.Juni 2012
IN DIESER Woche sind es 30 Jahre her, dass die
israelische Armee die Grenze zum Libanon überquerte und den
dümmsten Krieg in Israels Geschichte begann. Er dauerte 18 Jahre.
Über 1500 israelische Soldaten und unzählige Libanesen und
Palästinenser wurden getötet.
Fast alle Kriege sind auf Lügen gebaut. Lügen werden
als legitime Instrumente des Krieges angesehen. Der 1. Libanonkrieg
(wie er später genannt wurde) war ein ruhmreiches Beispiel.
Vom Anfang bis zum Ende (falls er je geendet hat)
war er ein Krieg der Täuschung und des Betruges, der Unwahrheit und
der Lügenmärchen.
DIE LÜGEN begannen mit dem offiziellen Namen:
„Operation Frieden in Galiläa“.
Wenn man heute Israelis fragt, dann würden 99,9% von
ihnen allen Ernstes sagen: „Wir hatten keine andere Wahl. Jeden Tag
schossen sie vom Libanon Katjuschas nach Galiläa. Wir mussten sie
stoppen.“ Fernsehmoderatoren und -moderatorinnen wie auch frühere
Kabinettsminister wiederholten dies – ganz ernsthaft - während der
ganzen letzten Woche. Sogar Leute, die zu jener Zeit erwachsene
Bürger waren.
Die einfache Tatsache ist, dass elf Monate lang vor
dem Krieg kein einziger Schuss über die israelisch-libanesische
Grenze abgefeuert wurde. Ein Waffenstillstand war in Kraft, und die
Palästinenser auf der andern Seite der Grenze hielten ihn
gewissenhaft ein. Zu jedermanns Überraschung gelang es Yassir
Arafat, ihn auch allen radikalen Fraktionen aufzuerlegen.
Ende Mai 1982 traf sich der Verteidigungsminister
Ariel Sharon mit dem Außenminister der USA Alexander Haig in
Washington DC. Er bat um amerikanisches Einverständnis, in den
Libanon einzufallen. Haig sagte, dass die USA dies nicht erlauben
könne, wenn es nicht eine klare und international anerkannte
Provokation gäbe.
Und siehe da, die Provokation wurde sofort geliefert.
Abu Nidal, der Anti-Arafat- und Anti-PLO-Meisterterrorist, sandte
seinen eigenen Cousin, um den israelischen Botschafter in London zu
ermorden. Dieser wurde nur ernsthaft verletzt.
Aus Rache bombardierte Israel Beirut, und die
Palästinenser schossen – wie erwartet – zurück.
Ministerpräsident Menachem Begin erlaubte Sharon, bis
zu 40km in libanesisches Gebiet vorzudringen, um die Siedlungen in
Galiläa außerhalb der Schusslinie der Katjuschas zu halten.
Als einer der Nachrichtenchefs Begin beim
Kabinett-Treffen erklärte, dass Abu Nidals Organisation kein
Mitglied der PLO sei, antwortete Begin mit dem berüchtigten Wort:
„Sie sind alle PLO“.
General Matti Peled, zu jener Zeit mein politischer
Verbündeter, glaubte fest, Abu Nidal habe als Agent von Sharon
gehandelt. Das glaubten auch alle Palästinenser, die ich kenne.
Die Lüge „ sie schossen jeden Tag auf uns“, hat sich
in der öffentlichen Meinung so gehalten, dass es heute sinnlos ist,
darüber zu disputieren. Es ist ein aufschlussreiches Beispiel, wie
ein Mythos Besitz von der öffentlichen Meinung nimmt,
einschließlich der Leute, die erlebt haben, dass das Gegenteil der
Fall ist.
NEUN MONATE vor dem Krieg erzählte Sharon mir von
seinem Plan für einen neuen Nahen Osten.
Ich schrieb einen langen biographischen Artikel über
ihn in Zusammenarbeit mit ihm. Er war von meiner journalistischen
Integrität überzeugt, also erzählte er mir seinen Plan „ganz im
Vertrauen“ und erlaubte mir, ihn zu veröffentlichen, aber ohne ihn
zu zitieren. Das tat ich auch.
Sharon war eine gefährlich psychische Mischung: eine
primitive Gesinnung, unberührt von irgendeiner Kenntnis von
Geschichte – außer der jüdischen - und ein fatales Verlangen nach
großen Plänen. Er verachtete alle Politiker – einschließlich Begin
- als kleine Leute, die keine Visionen und Phantasie haben.
Sein Plan für die Region war, wie er mir erzählte
(und wie ich es neun Monate vor dem Krieg veröffentlichte):
(1)
den Libanon angreifen und dort einen
christlichen Diktator einsetzen, der Israel dienen würde;
(2)
die Syrer aus dem Libanon treiben;
(3)
die Palästinenser aus dem Libanon nach
Syrien vertreiben, von wo sie dann von den Syrern nach Jordanien
weiter getrieben würden;
(4)
die Palästinenser dahin zu bringen,
dass sie in Jordanien eine Revolution ausführen, König Hussein
absetzen und aus Jordanien einen palästinensischen Staat machen
würden;
(5)
ein funktionales Abkommen schließen,
nach dem der palästinensische Staat (in Jordanien) die Machtfunktion
in der Westbank mit Israel teilen würde.
Da er ein zielbewusster Unternehmer war, überzeugte
Sharon Begin, den Krieg zu beginnen und sagte zu ihm, es sei sein
einziges Ziel, die PLO 40km weit zurück zu treiben. Dann setzte er
Bashir Gemayel als Diktator des Libanon ein. Dann ließ er die
christlichen Phalangisten das Massaker in Sabra und Shatila
ausführen, um die Palästinenser zu terrorisieren, damit sie nach
Syrien fliehen.
Die Folgen des Krieges waren das Gegenteil von seinen
Erwartungen. Bashir wurde von den Syrern getötet, und sein Bruder,
der dann durch israelische Kanonen gewählt wurde, war ein unfähiger
Schwächling. Die Syrer stärkten ihre Macht über den Libanon. Das
schreckliche Massaker brachte die Palästinenser nicht dazu, zu
fliehen. Sie rührten sich nicht von der Stelle. Hussein blieb auf
seinem Thron, Jordanien wurde nicht Palästina. Arafat und seine
bewaffneten Männer wurden nach Tunis evakuiert, wo sie
eindrucksvolle politische Siege errangen, als die „einzigen
Vertreter der palästinensischen Volkes“ anerkannt wurden und
schließlich nach Palästina zurückkehrten .
DER MILITÄRISCHE Plan ging von Anfang an schief,
genau wie der politische. Da der Krieg in Israel als ein
ruhmreicher militärischer Sieg gefeiert wurde, wurde keine
militärische Lektion aus ihm gezogen – so dass der 2. Libanonkrieg
etwa 24 Jahre später ein um so größeres militärisches Desaster
wurde.
Die einfache Tatsache ist, dass 1982 keine Einheit
der Armee ihr Ziel erreicht hat oder ihr Ziel nicht zur rechten
Zeit erreicht hat. Kühner palästinensischer Widerstand in Sidon (Saida)
hielt die Armee auf, und Beirut war außer Reichweite, als eine
Feuerpause erklärt wurde. Sharon brach sie einfach, und erst dann
gelang es den Truppen, die Stadt einzukreisen und sie von der
östlichen Seite zu betreten.
Im Gegensatz zu seinem Versprechen gegenüber Begin
(mir gegenüber von einem sehr ranghohen Koalitionspartner
wiederholt) griff Sharon die syrische Armee an, um die
Beirut-Damaskus-Straße zu erreichen und abzuschneiden. Die
israelischen Einheiten an dieser Front erreichten niemals diese
wichtige Straße, sondern erlebten eine überwältigende Niederlage bei
Sultan Yaakub.
Kein Wunder. Der Stabschef war Rafael Eitan, Raful
genannt. Er war von Sharons Vorgänger Ezer Weizman ernannt worden.
Zu jener Zeit fragte ich Weizman, warum er so einen Idioten ernannt
hätte. Seine typische Antwort war: „Ich habe genug IQ für uns
beide. Er wird meine Befehle ausführen.“ Aber Weizman trat zurück,
und Raful blieb.
EINER DER bedeutendsten und dauerhaften Ergebnisse
des 1. Libanonkrieges betrifft die Schiiten.
Von 1949 bis 1970 war die libanesische Grenze die
ruhigste von allen unsern Grenzen. Leute überquerten versehentlich
die Grenze und wurden zurück gebracht. Allgemein wurde gesagt, dass
„der Libanon der 2. arabische Staat sein wird, mit dem Israel Friede
machen wird“, weil er es nicht wage, der erste zu sein.
Die Bevölkerung auf der andern Seite der Grenze war
vor allem schiitisch, damals die unterdrückteste und machtloseste
von Libanons verschiedenen ethnish-religiösen Kommunen. Als König
Hussein mit Israels Hilfe die PLO-Kräfte im Schwarzen September
1970 vertrieb, richteten sich die Palästinenser im Südlibanon ein
und wurden dort die Herrscher der Grenzregion, die in Israel bald
als „Fatahland“ bekannt wurde.
Die meistens schiitische Bevölkerung liebte ihre
neuen palästinensischen Herren nicht, die Sunniten waren. Als
Sharons Soldaten das Gebiet betraten, wurden sie tatsächlich mit
Reis und Süßigkeiten empfangen (Ich sah es mit eigenen Augen). Die
Schiiten, die Israel nicht kannten, glaubten, dass ihre Befreier die
Palästinenser vertreiben und dann nach Hause gehen würden.
Sie brauchten nicht lange, um ihren Irrtum
einzusehen. Sie begannen dann einen Guerillakrieg, für den die
israelische Armee völlig unvorbereitet war.
Die schiitischen Mäuse verwandelten sich schnell in
schiitische Löwen. Angesichts dieser Guerillas entschloss sich die
israelische Regierung, Beirut und einen großen Teil des Süd-Libanon
zu verlassen und sich auf eine „Sicherheitszone“ zurück zu ziehen,
die, wie erwartet, zu einem Guerilla-Schlachtfeld wurde. Die
moderaten Schiiten wurden durch die neue radikalere neue Hisb-allah
(Partei Gottes) ersetzt, die schließlich die politische und
militärische Hauptkraft im ganzen Libanon wurde.
Um sie zu stoppen, ermordete Israel ihren Führer
Hassan al-Mussawi, der prompt durch einen weit begabteren
Assistenten – Hassan Nasrallah ersetzt wurde.
Zur selben Zeit begannen Sharons Doppelgänger in
Washington einen Krieg, der den Irak zerstörte, das historische
arabische Bollwerk gegen den Iran. Eine neue Achse des schiitischen
Irak, Hisbollah und das alawitische Syrien wurden eine dominante
Tatsache. (Die Alawiten, die Assads Syrien beherrschen, sind eine
Art Schiiten. Ihr Name kommt von Ali, dem Schwiegersohn des
Propheten, dessen Nachkommen von den Sunniten zurückgewiesen und von
den Schiiten akzeptiert wurden).
Wenn Sharon aus seinem Koma aufwachen sollte, das
seit den letzten sechs Jahren sein Schicksal gewesen ist, wäre er
von diesem Ergebnis geschockt – das einzig praktische – seines
Libanonkrieges.
EINES DER Kriegsopfer war Menachem Begin.
Viele Legenden wurden um sein Gedenken gewoben. Begin
hatte viele ausgezeichnete Qualitäten. Er war ein Mann von
Prinzipien, ehrenhaft und hatte persönlichen Mut. Er war auch ein
großer Redner in der europäischen Tradition, fähig die Emotionen
seiner Zuhörer zu wecken.
Aber Begin war ein sehr mittelmäßiger Denker,
vollkommen ohne originelle Gedanken. Sein Mentor Vladimir Jabotinsky
behandelte ihn mit Herablassung. Er war auf seine Weise naiv. Er
ließ sich leicht von Sharon täuschen. Er widmete sich zielstrebig
der Niederlage der Palästinenser und dem Versuch, die Herrschaft
des „jüdischen Staates“ über das ganze historische Palästina
auszudehnen, kümmerte sich darum nicht wirklich um den Libanon, den
Sinai oder die Golanhöhen.
Sein Verhalten während des Libanonkrieges grenzte ans
Lächerliche. Er besuchte die Soldaten und stellte Fragen, die zur
Zielscheibe von Witzen unter den Soldaten wurden. Im Nachhinein
fragt man sich, ob er schon zu dieser Zeit psychisch krank war. Bald
nach dem Sabra und Shatila-Massaker, das ihn zutiefst schockierte,
zog er sich in tiefe Depressionen zurück, die noch bis zu seinem Tod
nach zehn Jahren andauerte.
DIE MORAL von der Geschichte ist noch immer relevant:
Jeder Tor kann einen Krieg beginnen, nur eine sehr
weise Person kann einen verhindern.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)