85.
Geburtstag
Uri Avnery - 27.12. 08
„Gush Shalom“ hatte meinem Wunsch zugestimmt, meinen 85. Geburtstag
nicht mit einer öffentlichen Feier zu begehen wie dies an meinem
achtzigsten Geburtstag der Fall war, sondern mit einem
Brainstorming, das den Hauptproblemen Israels gewidmet sein sollte.
Die Veranstaltung fand am 21.12. 08 in Tel Avivs angesehener
Cinematheque statt und zwar unter der Überschrift „Bis (weißer)
Rauch aufsteigt – Ansichten und Konfrontationen.“ Sie bestand aus
zwei Debatten, nämlich „Zwei Staaten für zwei Völker – realistisch
oder unmöglich?“ und „Die Medien: dienen sie der politischen Macht
und dem Geld oder der Öffentlichkeit?“.
Im
ersten Streitgespräch, die vom früheren Haaretz-Chefredakteur David
Landau moderiert wurde, behaupteten Israela Oron ( von der Genfer
Initiative) und Gilad Sher (früherer Berater von Ehud Barak und
ranghoher israelischer Vertreter bei der 2000 Camp-David-Konferenz),
dass die Zwei-Staatenlösung realisierbar sei, während der
Historiker Meron Benvenisti behauptete, sie sei unmöglich; während
Dr. Menachem Klein (Bar Ilan Universität) eine mittlere Position
vertrat.
Im
zweiten Streitgespräch vertraten die bekannte Journalistinnen Ron
Ben-Yishai (die in dem bemerkenswerten Film „Waltz with Bashir“
mitspielt) und Rina Matzliach, die israelischen Medien seien frei,
während Prof. Yaron Ezrachi und der bekannte Journalist Ofer Shelach
behaupteten, sie seien eingeschränkt.
Am
Ende der Veranstaltung wurde ich aufs Podium gebeten: Hier ist , was
ich sagte
Ein Kongress von Friedenssuchern
LIEBE FREUNDE, LIEBE PARTNER,
Ich muss zugeben, dass ich bewegt bin; denn während meines langen
Lebens bin ich mit Äußerungen der Zuneigung nicht verwöhnt worden.
Ich bin eher an Bekundungen von Hass gewöhnt. Deshalb
entschuldigen Sie bitte, dass ich etwas verlegen bin.
EINIGE LEUTE FRAGEN mich: Wie fühlt man sich mit 85?
Nun, es ist seltsam. Schließlich war es erst gestern, als ich mit
nur 42 Jahren das jüngste Mitglied in der Knesset war. Ich fühle
mich nicht älter oder weiser als damals.
85
wird auf alte hebräische Weise mit den Buchstaben P und H
ausgedrückt. PH kann poh – „hier“ bedeuten, und es stimmt,
ich bin hier und beabsichtige noch eine Weile hier zu
bleiben – zunächst einmal, weil es mir Freude macht, und zweitens,
weil ich hier noch einige Dinge zu Ende bringen möchte.
PH
kann aber auch Peh, „Mund“ bedeuten – der Mund befähigt mich,
meine Gedanken zu äußern. Ich möchte diese Gelegenheit nützen, um
mit Euch die Gedanken zu teilen, die mir heute durch den Kopf
gehen.
Hat es mit den 85-Jährigen in Israel etwas Besonderes auf sich?
Zunächst einmal sind wir die Generation, die den Staat gegründet
hat. Als solche – meine ich – tragen wir eine besondere
Verantwortung für das, was hier geschieht. Wenn unser Staat nicht
zu dem geworden ist, was wir uns ursprünglich in unseren Träumen
ausmalten– dann ist es unsere Pflicht, dies zu verändern.
UND HIER stehen wir vor einem seltsamen Widerspruch. Wir sind
Mitstreiter im Rahmen eines bedeutenden historischen Erfolges – und
wir sind ebenso Teilnehmer an einem bedrückenden Misserfolg.
Vielleicht können nur Leute meiner Generation vollständig die Größe
des Erfolges bei der Umwandlung des nationalen Bewusstseins
begreifen, auf die wir mittlerweile zurückschauen können.
Viele Leute fragen mich, woher ich meinen Optimismus nehme, nachdem
die Situation so schlecht geworden ist und gute Leute von
Depressionen und Verzweiflung heimgesucht werden. In solchen
Augenblicken erinnere ich mich – und erinnere die Leute, die mir
zuhören – daran, wie wir angefangen haben. Ich wiederhole dies immer
wieder für die, die das nicht durchgemacht haben, und für jene, die
dies vergessen haben.
Als einige von uns am Tage nach dem Krieg – dem Krieg von 1948 -
sagten: es existiert ein palästinensisches Volk, und wir müssen mit
ihm Frieden schließen, waren wir hier, ja, in der ganzen Welt, nur
ein paar vereinzelte Leute. Wir wurden ausgelacht. Es gibt keine
Palästinenser, wurde uns gesagt. „So etwas wie ein palästinensisches
Volk gibt es nicht!“ behauptete Golda Meir noch wesentlich später.
Gibt es heute jemand, der die Existenz des palästinensischen Volkes
leugnet?
Wir behaupteten, um Frieden zu erlangen müsse ein
palästinensischer Staat entstehen. Man lachte uns aus. Was denn?
Wozu? Es gibt Jordanien, Ägypten, insgesamt 22 arabische Staaten –
das genügt.
Heute ist es ein weltweiter Konsens - zwei Staaten für zwei Völker.
Wir sagten, dass wir mit den Feinden reden müssten – und der Feind
war damals die PLO. Vier Kabinettsminister forderten, dass ich
wegen Hochverrats vor Gericht gebracht werden sollte, nachdem ich
mich mit Yasser Arafat während der Belagerung in Beirut getroffen
hatte. Alle vier trafen sich später mit Arafat, und der Staat
Israel unterzeichnete offizielle Verträge mit der PLO.
Die Verträge wurden zwar nicht erfüllt und führten nicht zum
Frieden. Aber die gegenseitige Anerkennung zwischen Israel und der
PLO, zwischen Israel und dem palästinensischen Volk, wurde eine
Tatsache. Das war eine Revolution, und dies kann nicht rückgängig
gemacht werden.
Heute sagen wir: wir müssen mit der Hamas reden. Die Hamas ist ein
integraler Teil der palästinensischen Realität. Selbst diese Idee
wird immer mehr anerkannt.
Was für einen Aufruhr entfachten wir damals, als wir sagten,
Jerusalem müsse die Hauptstadt der zwei Staaten werden! Heute weiß
fast jeder, dass dies geschehen muss, dass es geschehen wird.
Ich habe diesem Kampf 60 Jahre meines Lebens gewidmet – und dieser
Kampf ist noch in vollem Schwange. Wir haben die Idee von Großisrael
besiegt und bringen die Alternative der zwei Staaten voran, die in
Israel und in aller Welt inzwischen überzeugend klingt. Sogar so
weitgehend überzeugend, dass diejenigen in den aufeinander folgenden
israelischen Regierungen, die dieser Idee gegenüber gegnerisch
eingestellt sind, nun gezwungen sind, so zu tun, als würden
sie sie unterstützen, um Stimmen im Wahlkampf zu gewinnen.
Denken Sie daran, wenn sie verzweifelt sind. Schauen sie sich das
ganze Bild an und nicht nur das naheliegendste Puzzleteil.
ABER WIE groß auch unser Sieg sein mag, so groß ist auch unser
Scheitern.
Man muss nur auf diese kommenden Wahlen blicken: die drei großen
Parteien benutzen fast dieselbe Ausdrucksweise, und keine von ihnen
stellt einen Friedensplan auf.
Es
gibt noch kleine Parteien, die gute und aufrichtige Dinge sagen,
aber genau zu diesem Zeitpunkt brauchen wir einfach mehr. Was uns
fehlt, ist eine große politische Macht, die bereit ist, Frieden zu
schließen.
Es
ist ziemlich klar, dass die Ergebnisse der bevorstehenden Wahlen
schlecht sein werden, und die einzige Frage ist die, ob sie nur
schlecht oder sehr schlecht oder sogar noch schlimmer sein werden.
Warum geschieht dies? Dafür gibt es viele Gründe, viele Vorwände.
Wir kritisieren – zu Recht - viele Dinge: die Medien, das
Bildungssystem, alle unsere aufeinander folgenden Regierungen, den
Präsidenten der USA und alle Welt.
Aber eines vermisse ich – die Selbstkritik.
Mein Vater pflegte zu sagen: wenn die Situation schlecht ist, frage
als erstes dich selbst, ob du in Ordnung bist. Also frage ich mich.
Bin ich in Ordnung? Sind wir in Ordnung?
Doch, wir haben die richtigen Ideen geäußert. Unsere Ideen haben den
Sieg errungen, aber haben wir alles getan, um auf dem politischen
Schlachtfeld diese Ideen in die Praxis umzusetzen?
Politik ist eine Sache von Macht. Was
haben wir getan, um eine progressive politische Macht in Israel zu
schaffen? Wie konnte es geschehen, dass die Linke, das
Friedenslager, fast von der politischen Bildfläche verschwunden ist?
Warum haben wir keine politische Macht, warum haben wir nicht einmal
eine Zeitung, ein Radio oder eine
Fernsehstation? Wie hat die israelische Linke innerhalb der letzten
Generation all ihre Machtpositionen verlieren können?
Wir im Friedenslager haben wunderbare Männer und Frauen, die sich
jede Woche der Armee beim Kampf gegen die Mauer entgegenstellen,
die die Checkpoints beobachten, die sich weigern, sich der
Besatzungsarmee anzuschließen, die auf vielerlei Weisen gegen die
Besatzung kämpfen. Viele von uns in jedem Alter nehmen an diesen
Aktionen teil.
Doch während wir stehen und protestieren, eilen die Siedler voran.
Noch eine Ziege, noch einen Quadratmeter, noch eineb Hügel und noch
einen Außenposten. Manchmal habe auch ich das Gefühl, dass die Hunde
bellen und die Karawane weiterzieht – und ich bin nicht bereit, der
Hund in dieser Analogie zu sein. Wir sind hinter den Moskitos her,
aber der Sumpf, aus dem die Moskitos kommen, wird größer und
größer.
Der Sumpf ist politisch. Nur eine politische Macht kann ihn
trockenlegen. Mit andern Worten: nur eine Macht kann sich mit den
herrschenden Mächten anlegen, und die Entscheidungen der Regierung
und der Knesset beeinflussen.
Das ist ein historisches Versagen – und wir tragen die Verantwortung
dafür.
WENN ES mir erlaubt ist, einen Geburtstagwunsch zu äußern: ich
wünsche mir, dass wir am Tag nach den Wahlen über die nächsten
Wahlen nachzudenken beginnen.
Wir müssen auf eine neue Weise nachdenken. Von Grund auf neu. Wir
müssen alles prüfen, was wir bis jetzt gemacht haben , und
herausfinden, wo wir einen falschen Weg eingeschlagen haben.
Warum gelang es uns nicht, viele der jungen Leute zu überzeugen, die
Leute aus der orientalisch-jüdischen Gemeinde, die Immigranten aus
Russland, die arabische Gemeinschaft in Israel oder die aus dem
moderaten religiösen Sektor, warum konnten wir sie nicht davon
überzeugen, dass es jemand gibt, mit dem wir Friedensgespräche
führen können, dass es möglich ist, einen Wechsel herbeizuführen,
ja, dass wir es tatsächlich können!
Warum gelang es uns nicht, die Herzen der jungen Generation zu
erreichen, die von den Politikern angeekelt sind – und von der
Politik, so wie sie sie bisher kennen gelernt haben?
Was dringend nötig ist, ist etwas vollkommen Neues, geradezu ein
neuer Schöpfungsakt. Ich möchte sagen: wir müssen den Boden für
einen israelischen Obama vorbereiten.
Obama bedeutet: ein Licht der Hoffnung anzuzünden, wo keine Hoffnung
mehr ist. Eine grundlegende Veränderung zu fordern und davon
überzeugt zu sein, dass es möglich ist, diesen Wechsel
herbeizuführen. Den Enthusiasmus der Massen junger Leute für eine
Botschaft zu entzünden, die das Herz berührt, eine Botschaft, die
das Ende der Besatzung fordert, eine Botschaft der sozialen
Gerechtigkeit, der Sorge für unseren Planeten. Die Sehnsucht nach
einem anderen System – säkular, gerecht, anständig, friedensuchend.
Die neue Botschaft muss das Herz und den Verstand ansprechen, die
Emotionen ansprechen und eben nicht nur den Intellekt. Sie muss
wieder den Idealismus erwecken, der sich in so vielen Herzen
verbirgt und der es nicht wagt, sein Gesicht zu zeigen.
Das große Hindernis für solch eine Explosion ist die Verzweiflung.
Es ist viel leichter, viel bequemer zu verzweifeln. Es fordert
nichts. Es ist leichter zu sagen, dass alles verloren ist; dass sie
unseren Staat gestohlen haben. Aber Pessimismus bringt – wie
bekannt sein dürfte – nichts Neues hervor. Er führt nur zu innerer
und äußerer Emigration.
Ich weigere mich, pessimistisch zu sein: ich habe in meinen 85
Jahren zu viel überraschende, wunderbare, unerwartete Dinge gesehen
– im guten wie im bösen Sinne – um nicht an Unerwartetes zu glauben.
Mit Obama hat keiner gerechnet – doch es geschah vor unsern Augen.
Der Fall der Berliner Mauer war völlig unerwartet, und keiner hätte
es sich nur wenige Augenblicke, bevor es geschah, vorstellen können.
Sogar der Sieg der Grünen bei den Gemeindewahlen in Tel Aviv vor
kurzem war so etwas.
ICH MÖCHTE vorschlagen, dass der Anfang neuer Bemühungen einen Tag
nach den Wahlen beginnt. Ich würde am liebsten vorschlagen, dass
sich die Intellektuellen und die Friedensaktivisten, die sozialen
Aktivisten und die Kämpfer für die Umwelt versammeln und anfangen,
gemeinsam nachzudenken, um dass israelische Wunder zu bewirken.
Ich wünsche mir einen großen Kongress all jener, die einen Wechsel
wollen, eine Art Sanhedrin für Friedens- und
Menschenrechtsaktivisten, eine Art alternative Knesset.
Vom Gipfel meiner 85 Jahre möchte ich all jenen zurufen, denen
unsere Zukunft am Herzen liegt, Juden und Arabern und besonders den
jungen Leuten, sich in Bewegung zu setzen, um mit gemeinsamen
Anstrengungen den Boden für eine große Veränderung, für das andere
Israel, für einen Staat vorzubereiten, in dem es Spaß macht zu
leben, ein Israel, auf das wir stolz sein können.
Das ist kein Spiel, das zwischen bestehenden Organisationen
gespielt werden kann, was es braucht, ist eine vollkommen neue
politische Schöpfung, die eine neue Sprache sprechen wird, die eine
neue Botschaft bringen wird.
Ich bin davon überzeugt, dass dies geschehen wird, wenn nicht
morgen, dann eben übermorgen. Für mich selbst und für alle, die
hier im Saal anwesend sind, wünsche ich, dass wir das noch mit
unsern eigenen Augen sehen, dass wir Partner sein werden, dass wir
sagen werden können: es ist uns gelungen, den Staat guten Händen zu
übergeben.
UND JETZT möchte ich euch, meinen Freunden, noch meinen herzlichen
Dank ausdrücken, dass ihr gekommen seid, um meinen Geburtstag mit
einem Austausch von Meinungen zu begehen, und Themen zu
debattieren, die für uns alle so wichtig sind.
Herzlichen Dank auch den Moderatoren und den Referenten, die die
Themen für uns offengelegt haben; den Organisatoren dieser
wunderbaren Veranstaltung, den Mitgliedern von Gush Shalom, die es
möglich machten. Danke Euch allen, die ihr hier von nah und fern
gekommen seid, und danke für alle guten Wünsche, mit denen ihr mich
überschüttet habt.
Ich hätte mir keinen erfreulicheren und spannenderen Geburtstag
wünschen können. Danke.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
PS noch etwas Aktuelles von
Gush Shalom
Kurz bevor wir dies auf Englisch hinaussandten, nahmen wir noch an
einer nahen, spontanen Protestdemo gegen das Blutbad in Gaza
teil. Mindestens 1000 Aktivisten, durch eine hektische Email/
Telefon/ SMS-Aktion zusammengerufen, gingen wir durch die Straßen
Tel Avivs, von berittener Polizei behindert. Fünf junge Aktivisten
wurden verhaftet. Das Verteidigungsministerium war unser Ziel, wo
Olmert gerade eine Pressekonferenz hielt ….
(dt. Ellen Rohlfs)
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