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Die falsche Seite
Uri
Avnery
5. März 2011
VON
ALLEN erinnerungswerten Sätzen, die von Barack Obama in den letzten
zwei Jahren geäußert wurden, ist mir einer aus seiner historischen
Rede, die er in Kairo zu Beginn seiner Amtszeit gehalten hat, mehr
als jeder andere im Gedächtnis geblieben. Er warnte die Nationen
davor, sich "auf die falsche Seite der Geschichte" zu stellen.
Es
scheint, dass die arabischen Nationen diesem Ratschlag mehr
Beachtung geschenkt haben, als er erwartet hatte. In den letzten
Wochen sprangen sie von der falschen auf die richtige Seite der
Geschichte. Und was für ein Sprung das war!
Unsere Regierung bewegt sich jedoch in die entgegengesetzte
Richtung. Sie ist entschlossen, so wie es scheint, sich so weit wie
möglich von der richtigen Seite zu entfernen.
Wir
sind in einer Sackgasse. Und es liegt in der Natur der Sackgasse,
dass man, je tiefer man dort hineingerät, umso weiter zurückgehen
muss, wenn die Zeit kommt.
DIESE WOCHE fand ein faszinierendes Telefongespräch statt. An einem
Ende war Benjamin Netanyahu, an dem anderen die deutsche
Bundeskanzlerin.
In
den vergangen Zeiten sprachen die Weltführer grundsätzlich nicht
direkt miteinander. Bismarck nahm nicht das Telefon, um mit Napoleon
III. zu sprechen. Er hatte routinierte Diplomaten gesandt, die genau
wussten, wie man Kanten glättet und wie man mit sanfter Stimme ein
Ultimatum überbringt.
Netanyahu
rief an, um Angela Merkel wegen Deutschlands Votum zugunsten der
Resolution des UN-Sicherheitsrates zur Verurteilung der Siedlungen
zurechtzuweisen – der Resolution, die durch das skandalöse Veto der
USA verhindert wurde. Ob unser Premierminister den Holocaust erwähnt
hat, weiß ich nicht, aber mit Sicherheit brachte er seinen Ärger zum
Ausdruck, dass Deutschland es gewagt habe, gegen den "jüdischen
Staat" zu stimmen.
Über die Antwort war er schockiert. An Stelle einer reuevollen Frau
Merkel, die sich unterwürfig entschuldigt, hörte sein Ohr die
Vorwürfe einer Schullehrerin, die ihm klipp und klar ihre Meinung
sagte. Sie sagte ihm, dass er all seine Versprechen gebrochen hätte
und dass keiner der Weltführer auch nur einem einzigen seiner Worte
von nun an Glauben schenken werde. Sie verlangte von ihm, dass er
mit den Palästinensern Frieden schließe.
Wenn jemand wie Netanyahu als "sprachlos" gelten könnte, wäre dies
in diesem Moment geschehen. Zu Netanyahus Glück kann ihm so etwas
jedoch einfach nie passieren.
Dieses Gespräch ist ein Symptom eines fortschreitenden Prozesses –
der langsamen, aber ständigen Verschlechterung von Israels
internationalem Ansehen.
In
Israel nennt man das "Delegitimatsia". Man sieht darin eine
unheimliche, weltweite Verschwörung, eher analog den ‚Protokollen
der Weisen von Zion’. Ganz klar, es steht mit nichts im
Zusammenhang, was wir tun – da ja all unsere Taten so rein wie Gold
sind. Die einleuchtende Folgerung daraus: Israels Feinde in der
ganzen Welt – einschließlich ihrer Fünften Kolonne in Israel selbst
– planen insgeheim die Zerstörung Israel mit Hilfe aller
Boykottarten.
Unsere Führer wissen, wie man diesen geplanten Anschlag verhindern
kann –nämlich, indem Gesetze erlassen werden. Jeder, der den Feinden
Israels Listen von Unternehmen, die in den Siedlungen ansässig sind,
liefert, wird bestraft. Jeder, der zu einem Boykott gegen Israel
oder die Siedlungen aufruft, ist – in den Augen der Gesetzesmacher
ein und dasselbe – er muss astronomische Strafgelder und
Entschädigungen zahlen, Millionen Dollar. Und wenn all das noch
nicht hilft, dann werden die Feinde des Regimes ins Gefängnis
gesteckt, so wie es bereits Jonathan Pollak, einem Demonstranten für
Frieden, ergangen ist.
Aber es hat den Anschein, unsere Führer verlassen sich nicht einzig
und allein auf diese Maßnahmen . Deshalb entschied unser
stellvertretender Außenminister, Danny Ayalon (erinnern Sie sich?,
das Genie, das den türkischen Botschafter demütigen wollte, indem er
ihn auf einen niedrigen Stuhl platzierte), entschied, nach noch
radikaleren Mitteln zu greifen: Alle israelischen Botschafter werden
nun zu einem historischen Treffen mit unserem Urvater Abraham zur
Höhle von Machpela in Hebron gesandt, der gemäß dem jüdischen
Glauben dort beerdigt ist (Archäologen denken, dass es ein
muslimischer Scheich ist, der dort liegt.)
Im
Ernst, unsere Führer sehen nun aus wie der Junge in der Legende, der
seinen Finger in den Deich steckt, um das Wasser aufzuhalten, obwohl
in unserem Falle der gesamte Deich bereits bröckelt.
JA,
ISRAELS Ansehen in der Welt sinkt tatsächlich ständig weiter, aber
nicht aufgrund eines weltweit geplanten Anschlags, bei dem sich
"Antisemiten" und "selbsthassende Juden" vereinen.
Unser Ansehen sinkt, weil wir auf der falschen Seite der Geschichte
stehen.
Israel hat seit Jahrzehnten ein Besatzungsregime aufrecht erhalten.
Es fährt damit fort, ein anderes Volk zu beherrschen und zu
demütigen. Ideologisch und praktisch lebt es in der mentalen Welt
des 19. Jahrhunderts, wohingegen der Rest der Welt zum Leben im 21.
Jahrhundert startet. Israels Politik ist schlicht und einfach
anachronistisch.
Das
21. Jahrhundert wird das Zusammenkommen der Nationen sehen. Es wird
den Beginn einer Weltordnung sehen, und ich habe keinerlei Zweifel,
dass dieser Gedanke realisiert werden wird.
Dies ist keine Vision von blauäugigen Idealisten. Es ist eine
bedeutende Notwendigkeit für die Menschenrasse und all ihre Völker
und Nationen. Die Welt ist mit Problemen konfrontiert, die kein
Einzelstaat oder keine Staatengruppe selbst lösen kann. Die globale
Erwärmung, die die gesamte Existenz der menschlichen Spezies
bedroht, ist naturgemäß ein Weltproblem. Die kürzliche
Wirtschaftskrise hat gezeigt, der Zusammenbruch der Wirtschaft
eines Landes kann sich wie ein Lauffeuer über die gesamte Welt
verbreiten . Das Internet hat eine weltweite Gemeinschaft aufgebaut,
mit deren Hilfe Gedanken leicht von Land zu Land verbreitet werden
können, so wie wir es gerade in der arabischen Welt sehen können.
Internationale Institutionen, die einst nur Spott ernteten, sind im
Begriff, eine effektive Gerichtsbarkeit zu erlangen. Der
Internationale Gerichtshof hat an Einfluss gewonnen. Das
Völkerrecht, das in der Vergangenheit hauptsächlich eine abstrakte
Idee war, entwickelt sich langsam zu einem echten Weltrecht.
Bedeutende und mächtige Länder wie Deutschland und Frankreich geben
einen Großteil ihrer Souveränität zugunsten der Europäischen Union
ab. Die regionale und weltweite Kooperation zwischen den Nationen
wird zu einer politischen Notwendigkeit.
Konzepte wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte,
sind nicht nur moralische Werte – in der Welt von heute werden sie
zu wesentlichen Notwendigkeiten, zur Basis einer neuen Weltordnung.
All
diese Prozesse gehen unerträglich langsam voran, geradezu in
geologischem Tempo. Aber die Richtung ist unmissverständlich und
kann nicht wieder umgekehrt werden. Was immer auch Barack Obamas
Handlungen – oder das Ausbleiben dieser - bewirkten, seiner
Intuition in Bezug auf die Richtung kann man vertrauen.
Das
ist die "richtige Seite der Geschichte". Aber unser Land verschließt
davor seine Augen. Wahrhaftig übertrifft es die meiste
internationale Industrie und Hochtechnologie und arbeitet mit Erfolg
an der Ausdehnung seiner wirtschaftliche Beziehungen zu den
entferntesten Punkten der Welt. Aber es verschmäht die
internationale öffentliche Meinung, die UNO und das internationale
Recht. Es hält an einer Art des Nationalismus’ fest, die zur Zeit
der französischen Revolution "modern" war, als der "Nationalstaat"
das höchste Ideal war. Selbstverständlich ist der Nationalismus
nicht tot und hat sogar heute noch einen bedeutenden Platz in dem
Bewusstsein der Völker. Aber dabei handelt es sich um eine völlig
neue Form von Nationalismus, den Nationalismus des 21. Jahrhundert,
der nicht im Widerspruch zum Internationalismus steht, sondern im
Gegenteil, der einen Baustein im Bauwerk der internationalen
Struktur darstellt.
Die
arabischen Nationen sind plötzlich aus einem Jahrhunderte langen
Schlummer aufgewacht und kämpfen nun, um die anderen Nationen
einzuholen. Die anachronistischen Tyrannen, die sie unten hielten,
ihre Fähigkeiten verschwendeten und ihnen Muster vergangener Zeiten
aufzwangen, gibt es nicht mehr.
Es
ist schwer erkennbar, wohin diese Aufstände, die die Region von
Marokko bis Oman und von Syrien bis zum Jemen erfasst haben, gehen
werden. Es fällt schwer. etwas vorherzusagen, besonders die Zukunft.
2011 mag für die arabische Welt das sein, was 1848 für Europa war.
Damals, als das französische Volk sich erhob, breiteten sich die
Wellen der Revolution über einen Großteil der Fläche des Kontinents
aus. Es scheint, dass ich nicht der einzige bin, der jetzt an dieses
Beispiel erinnert wird. Viel kann daraus gelernt werden und nicht
alles ist positiv. In Frankreich beseitigte der Aufstand ein
korruptes Regime, aber er ebnete den Weg für den Aufstieg von
Napoleon III., den ersten der modernen Diktatoren Europas. In
Deutschland, damals in Dutzende Königreiche und Fürstentümer
zersplittert, waren die Machthaber verängstigt und versprachen so
demokratische Reformen. Aber während die Debatten der Juristen und
Politiker in Frankfurt über die Zukunft des Grundgesetzes weiter und
weiter gingen, versammelten die Könige ihre Armeen, vernichteten die
Demokraten und starteten eine neue Ära der Unterdrückung. (Der
Fehlschlag der Frankfurter Versammlung kommt zum Ausdruck in dem
unsterblichen deutschen Vers: " Dreimal hundert Professoren!
Vaterland, du bist verloren!")
Die
Revolutionen von 1848 hinterließen ein Vermächtnis von Enttäuschung
und Verzweiflung. Aber sie waren nicht umsonst. Die noblen Ideen,
die in diesen stürmischen Monaten entstanden sind, sind nicht
"gestorben", zukünftige Generationen strebten danach, sie in allen
Ländern des Kontinents zu realisieren. Die jetzige Fahne von
Deutschland entstand in jenen Tagen.
Die
arabischen Revolutionen mögen auch in Misserfolg und Enttäuschung
enden. Sie mögen neue Diktaturen entstehen lassen. Hier und da mögen
anachronistische religiöse Regime aufkommen. Jedes arabische Land
ist anders als die anderen, und in jedem werden sich die
Entwicklungen den Bedingungen vor Ort unterordnen. Aber was sich
gestern in Tunesien und Ägypten ereignet hat, was sich heute in
Libyen und im Jemen abspielt und was morgen in Saudi Arabien und
Syrien geschieht, wird das Profil der arabischen Länder über einen
langen Zeitraum prägen. Sie werden eine vollkommen neue Rolle auf
der Weltbühne spielen.
Israel wird von den Siedlern beherrscht, die geistig den
Kreuzfahrern des 12. Jahrhunderts gleichen. Fundamentalistische
religiöse Parteien, die sich nicht allzu sehr von ihren iranischen
Kontrahenten unterscheiden, spielen eine bedeutende Rolle in unserem
Staat. Die politische und wirtschaftliche Elite ist von Korruption
durchdrungen. Unsere Demokratie, auf die wir so stolz waren, ist in
Todesgefahr.
Einige Menschen argumentieren, dass all dieses geschieht, weil
"Netanyahu keine politische Linie hat". Nonsens! Er hat eine klare
Politik: Israel als Garnisonsstaat aufrecht zu erhalten, um die
Siedlungen auszudehnen, um die Gründung eines echten
Palästinenserstaates zu verhindern und ohne Frieden in einem Staat
des ewigen Konfliktes weiterzumachen.
Gerade jetzt hat man durchsickern lassen, dass Netanyahu eine
historische Rede halten wird – eine weitere – sehr bald. Nicht in
der Knesset, deren Bedeutung beinahe gleich Null ist, sondern in
einem wirklich bedeutenden Forum: der AIPAC, der Pro-Israel-Lobby in
Washington.
Dort wird er seinen Friedensplan offen legen, von dem ebenfalls
Einzelheiten durchgesickert sind. Ein wundervoller Plan, mit nur
einem geringen Fehler: Er hat nichts mit Frieden zu tun.
Er
schlägt vor, einen Palästinenserstaat in "provisorischen Grenzen" zu
errichten. (bei uns ist nichts beständiger als das "Provisorische").
Er wird aus der Hälfte der Westbank bestehen. (Die andere Hälfte,
einschließlich Ost-Jerusalem, wird vermutlich mit Siedlungen bedeckt
werden). Für die Diskussion über die Kernthemen – wie Grenzen,
Jerusalem, Flüchtlinge usw. – wird es einen Zeitplan geben. (In Oslo
wurde ein Zeitplan von fünf Jahren festgesetzt. Er lief 1999 aus, zu
einer Zeit, wo die Verhandlungen noch nicht einmal begonnen hatten.)
Bis die Palästinenser Israel als einen Staat des jüdischen Volkes
anerkennen und seine "Sicherheitserfordernisse" akzeptieren, werden
keinerlei Verhandlungen beginnen. (mit anderen Worten: Nie!)
Wenn die Palästinenser solch einen Plan akzeptieren, müssen sie
(nach den Worten des Verteidigungsministers der USA in einem anderen
Kontext) "ihre Köpfe untersuchen lassen". Aber natürlich wendet sich
Netanyahu nicht an die Palästinenser. Sein Plan ist ein primitiver
Marketingversuch. (Immerhin war er in der Vergangenheit ein
Marketing-Agent für Möbel). Das Ziel ist, die internationale
Kampagne der "Delegitimatsia" zu stoppen.
Ehud Barak hatte auch diese Woche etwas zu sagen. In einem langen
TV-Interview, das fast völlig aus politischen Geschwafel bestand,
machte er eine wichtige Anmerkung: die arabischen Aufstände
verschaffen Israel neue Möglichkeiten. Welche Möglichkeiten? Sie
ahnen es: größere Mengen amerikanischer Waffen zu erhalten. Waffen
und Amerika über alles!
Und
in der Tat, der einzige Faktor, der diese Politik ermöglicht, ist
die beispiellose Beziehung zwischen Israel und den USA. Aber das
arabische Aufwachen wird mittel- und langfristig die
israelisch-arabische Bilanz der Macht verändern – psychologisch,
politisch und wirtschaftlich und letzten Endes auch militärisch.
Zeitgleich wird die Weltbilanz der Macht sich ebenso verändern. Neue
Mächte entstehen, alte Mächte verlieren nach und nach ihren
Einfluss. Dies wird kein einmaliges dramatisches Geschehen sein,
sondern ein langsamer und stetiger Prozess.
So
bewegt sich die Geschichte. Jeder, der sich selbst auf die falsche
Seite stellt, wird den Preis dafür zahlen.
(dt. Inga Gelsdorf)
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