Das große Experiment
Uri Avnery, 14.10.06
IST
ES möglich, ein ganzes Volk dahin zu bringen, sich einer
fremden Besatzung zu unterwerfen, indem man es
aushungert?
Das
ist sicherlich eine interessante Frage. In der Tat so
interessant, dass die Regierungen Israels und der
Vereinigten Staaten – in enger Zusammenarbeit mit Europa
– jetzt an einem streng wissenschaftlichen Experiment
beteiligt sind, um eine gründliche und definitive
Antwort zu erhalten.
Das
Laboratorium, in dem das Experiment durchgeführt wird,
ist der Gazastreifen – die Versuchstiere sind 1,3
Millionen Palästinenser, die dort leben.
UM
DAS Experiment nach den erforderlichen, sauberen
wissenschaftlichen Standards durchzuführen, war es
zunächst nötig, das Laboratorium vorzubereiten.
Das
wurde auf folgende Weise ausgeführt: zunächst holte
Ariel Sharon die israelischen Siedlungen, die dort
feststeckten, heraus. Man kann ein sauberes Experiment
doch nicht durchführen, wenn rund um das Laboratorium
die gehätschelten Kinder herumlaufen. Dies wurde mit
„Entschlossenheit und Sensibilität“ gemacht, Tränen
liefen wie Wasser, die Soldaten küssten und umarmten die
vertriebenen Siedler. Noch einmal wurde gezeigt, dass
die israelische Armee die allerbeste der Welt ist.
Nachdem das Laboratorium gereinigt war, konnte die
nächste Phase beginnen: alle Ein- und Ausgänge wurden
hermetisch abgesperrt, um störende Einflüsse von der
Außenwelt auszuschalten. Das machte einige
Schwierigkeiten. Auf einander folgende israelische
Regierungen haben den Bau eines Hafens in Gaza
verhindert, und die israelische Flotte achtet sehr
darauf, dass sich kein Schiff der Küste nähert. Der
prächtige internationale Flughafen, der während der
Oslo-Periode gebaut wurde, wurde bombardiert und still
gelegt. Der ganze Streifen wurde von einem hoch
effizienten Zaun umgeben. Und nur ein paar Übergänge
blieben, aber alle werden von der israelischen Armee
kontrolliert.
Es blieb eine einzige Verbindung mit der
Außenwelt: der Rafah-Grenzübergang nach Ägypten. Der
konnte nicht ganz abgesperrt werden, sonst hätte man
Ägypten als Kollaborateur Israels hingestellt. Eine
raffinierte Lösung wurde gefunden: die israelische Armee
verließ scheinbar den Übergang und übergab ihn einem
internationalen Überwachungsteam. Seine Mitglieder
(darunter Deutsche) sind nette Kerle, voll guter
Absichten – in der Praxis aber sind sie vollkommen von
der israelischen Armee abhängig, die den Übergang aus
einem nahen Kontrollraum überwachen. Die internationalen
Inspekteure leben in einem israelischen Kibbuz und
können den Übergang nur mit israelischem Einverständnis
erreichen.
Auf
diese Weise ist nun alles für das Experiment fertig.
DAS
SIGNAL für seinen Beginn wurde nach den einwandfreien
demokratischen Wahlen gegeben, die unter der Aufsicht
des früheren Präsidenten Jimmy Carter durchgeführt
worden waren. George Bush war begeistert: seine Vision,
die Demokratie in den Nahen Osten zu bringen, schien
sich zu erfüllen.
Aber die Palästinenser bestanden den Test nicht. Statt
die „guten Araber“ zu wählen, die die USA anbeten,
wählten sie die sehr „bösen Araber“, die Allah anbeten.
Bush war beleidigt. Aber die israelische Regierung war
begeistert: nach dem Hamas-Sieg waren die Amerikaner und
Europäer bereit, an dem Experiment teilzunehmen. Es
konnte anfangen.
Die
USA und die EU verkündigten eine Sperrung aller
Hilfsgelder an die palästinensische Behörde, da sie von
„Terroristen kontrolliert“ wird. Gleichzeitig sperrte
die israelische Regierung den Geldfluss.
Um
seine besondere Bedeutung zu verstehen: gemäß dem
„Paris-Protokoll“ (der wirtschaftliche Anhang des
Oslo-Abkommens) ist die palästinensische Wirtschaft ein
Teil des israelischen Zoll- und Steuersystems. Das
heißt, dass Israel alle Zölle der Waren einkassiert, die
durch Israel laufen – es gibt keinen andern Weg.
Nachdem eine beträchtliche Summe als Kommission
abgezogen worden ist, ist Israel verpflichtet, das Geld
der palästinensischen Behörde weiter zu überweisen.
Wenn
die israelische Regierung sich weigert, dieses Geld,
das eigentlich den Palästinensern gehört, weiter zu
überweisen, so ist das ganz einfach Diebstahl am
hellerlichten Tag. Aber wenn man „Terroristen“
ausraubt, wer kann dagegen protestieren?
Die
Palästinensische Behörde – in der Westbank und im
Gazastreifen – braucht aber dieses Geld wie die Luft zum
Atmen. Auch dies bedarf einer Erklärung: in den 19
Jahren unter jordanischer Besatzung der Westbank und der
ägyptischen Besatzung im Gazastreifen - also von
1948-1967 - wurde dort keine einzige wichtige Fabrik
gebaut. Die Jordanier wollten jede wirtschaftliche
Entwicklung innerhalb des eigentlichen Jordaniens, also
östlich des Jordans. Und die Ägypter vernachlässigten
den Gazastreifen ganz allgemein.
Dann kam die israelische Besatzung, und die Lage
verschlimmerte sich sogar noch mehr. Die besetzten
Gebiete wurden der monopolistisch beherrschbare
Absatzmarkt für die israelische Industrie, und das
Militär verhinderte die Errichtung jedes Unternehmens,
das möglicherweise mit einem israelischen konkurrieren
könnte.
Die
palästinensischen Arbeiter waren gezwungen, in Israel
(nach israelischem Standard) für Hungerlohn zu arbeiten.
Von diesem zog Israel wie bei israelischen Arbeitern
noch alle Sozialabgaben ab – ohne dass die
Palästinenser selbst in den Genuss von
Sozialhilfegelder kamen. Auf diese Weise bestahl die
Regierung die ausgebeuteten Arbeiter um weitere
Dutzende von Milliarden Dollar, die irgendwo im
bodenlosen Fass der Regierung verschwanden.
Als
die Intifada ausbrach, entdeckten die israelischen
Industrie- und Landwirtschaftsbosse, dass man auch ohne
palästinensische Arbeiter auskommen könne. Ja, dass es
sogar profitabler ist. Arbeiter, die aus Thailand,
Rumänien und andern armen Ländern gebracht werden,
arbeiten für einen noch geringeren Lohn und unter
Bedingungen, die an Sklaverei grenzt. Die Palästinenser
wurden arbeitslos.
Das
war die Situation zu Beginn des Experimentes: die
palästinensische Infrastruktur zerstört, praktisch ohne
Produktionsmittel, keine Arbeit für Arbeiter. Alles in
allem, ein idealer Ausgangspunkt für das große
„Experiment Hunger“.
DIE
AUSFÜHRUNG begann – wie erwähnt – mit der Sperrung der
Zahlungen.
Der
Grenzübergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten war
praktisch geschlossen. Alle paar Tage oder Wochen wird
er für ein paar Stunden geöffnet – nur um den Schein zu
wahren – damit die Kranken oder Sterbenden nach Hause
oder ein ägyptisches Krankenhaus erreichen können.
Die
Grenzübergänge zwischen dem Streifen und Israel wurde
„wegen dringender Sicherheitsgründe“ geschlossen. Im
richtigen Augenblick kommt immer „ die Warnung eines
bevorstehenden Terroranschlages“. Palästinensische
Produkte, die für den Export bestimmt sind, verfaulen am
Übergang. Medikamente und Nahrungsmittel kommen nicht
hinein, außer zuweilen für kurze Zeitabschnitte, auch
um den Schein zu wahren – wenn eine wichtige
Persönlichkeit aus dem Ausland ihre Stimme erhebt und
protestiert. Dann kommt eine neue „dringende
Sicherheitswarnung“ und die Situation ist wieder wie
gehabt.
Um
das Bild abzurunden, bombardierte die israelische
Luftwaffe das einzige Elektrizitätswerk im Gazastreifen,
sodass es für einen großen Teil des Tages keinen Strom
und kein Wasser gibt, (da die Wasserpumpen vom Strom
abhängen). Selbst an den heißesten Tagen mit
Temperaturen von über 30 Grad C im Schatten gibt es
keinen Strom für Gefriergeräte, Ventilatoren,
Wasservorräte und anderes Lebensnotwendige.
In
der Westbank, einem Gebiet, das viel größer ist als der
Gazastreifen (6% der besetzten palästinensischen
Gebietes - aber mit 40% der Bevölkerung) ist die
Situation nicht ganz so verzweifelt. Aber im Streifen
lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der
palästinensischen Armutslinie, die natürlich viel, viel
niedriger liegt als die israelische „Armutslinie“. Viele
Bewohner des Gazastreifens können nur davon träumen, so
wie in der nahen israelischen Stadt von Sderot arm zu
sein.
Was
versuchen die Regierungen Israels, der USA, und Europas,
den Palästinensern zu sagen? Die Botschaft ist klar: ihr
kommt an den Rand des Hungers und sogar darüber hinaus,
wenn ihr euch nicht ergebt. Ihr müsst die
Hamas-Regierung davonjagen und Kandidaten wählen, die
von Israel und den USA anerkannt werden. Und - was noch
wichtiger ist – ihr müsst euch mit einem
palästinensischen Staat zufrieden geben, der aus
verschiedenen Enklaven besteht, die alle von der Gnade
Israels abhängig sind.
IM
AUGENBLICK grübeln die Ausführenden des
wissenschaftlichen Experimentes über einer komplizierten
Frage: Wie halten die Palästinenser trotz allem durch?
Nach allen Hypothesen hätten sie längst aufgeben müssen.
Da
gibt es tatsächlich „ermutigende“ Zeichen. Die
allgemeine Atmosphäre der Frustration und Verzweiflung
schafft Spannungen zwischen der Hamas und Fatah. Hier
und dort gab es schon Zusammenstöße, Leute wurden
getötet und verletzt, aber jedes Mal kam es kurz vor
einem Bürgerkrieg zu einem Stillstand. Die Tausenden
von im Verborgenen wirkenden mit Israelis zusammen
arbeitenden palästinensischen Kollaborateure versuchen
auch, die Dinge anzuheizen. Aber im Gegensatz zu den
Erwartungen hörte der Widerstand nicht auf. Nicht einmal
der gefangene israelische Soldat ist entlassen worden.
Eine der Antworten liegt in der Struktur der
palästinensischen Gesellschaft. Die Hamula (die
Großfamilie) spielt hier eine zentrale Rolle. Solange
eine Person in der Familie arbeitet, verhungern auch die
Verwandten nicht, auch wenn es eine weit verbreitete
Unterernährung gibt. Jeder der irgendein Einkommen hat,
teilt es mit seinen Brüdern und Schwestern, Eltern,
Großeltern, Cousins und deren Kindern. Das ist ein
einfaches System, aber unter solchen Umständen sehr
wirksam. Es scheint, dass die Planer des Experimentes
damit nicht gerechnet haben.
Um
den Prozess zu beschleunigen, wurde in dieser Woche
noch einmal die ganze Wucht der israelischen Armee
eingesetzt. Drei Monate lang war die israelische Armee
mit dem 2. Libanon-Krieg beschäftigt. Es wurde deutlich,
dass die Armee, die während der letzten 39 Jahre
hauptsächlich als Kolonialpolizei beschäftigt war, nicht
funktioniert, wenn sie plötzlich mit einem trainierten
und bewaffneten Gegner konfrontiert ist, der
zurückschlagen kann. Hisbollah wandte tödliche
Panzerabwehrwaffen gegen Panzertruppen an, Granaten
regneten in den Norden Israels. Die Armee hatte seit
langem vergessen, wie man sich gegenüber solch einem
Feind verhält. Und der Feldzug endete nicht gut.
Jetzt kehrt die Armee zu dem Krieg zurück, den sie
kennt. Die Palästinenser im Gazastreifen haben (noch)
keine Panzerabwehrraketen, und die Qassams verursachen
nur begrenzten Schaden. Die Armee kann wieder Panzer
ungehindert gegen die Bevölkerung anwenden. Die
Luftwaffe, deren Hubschrauber sich fürchteten, im
Libanon Verletzte herauszuholen, kann nun wieder nach
Lust und Laune Raketen auf Häuser „gesuchter
Personen“, ihrer Familien und ihrer Nachbarn abfeuern.
Wenn in den letzten drei Monaten „nur“ 100 Palästinenser
pro Monat getötet worden waren, so sind wir jetzt Zeugen
eines dramatischen Anstiegs der Zahl von getöteten und
verletzten Palästinensern.
Wie
kann nur eine vom Hunger geplagte Bevölkerung, der auch
Medikamente und die medizinischen Apparate für ihre
einfachen Krankenhäuser fehlen, und die Angriffen vom
Land, Meer und aus der Luft ausgesetzt sind,
durchhalten? Wird sie nachgeben? Wird sie auf die Knie
gehen und um Gnade bitten? Oder wird sie eine
übermenschliche Kraft finden und die Prüfung bestehen?
Kurz gesagt: Was und wie viel ist nötig, bevor sich
eine Bevölkerung ergibt?
Alle, die an dem Experiment teilnehmen – Ehud Olmert
und Condoleezza Rice, Amir Peretz und Angela Merkel, Dan
Halutz und George Bush, vom Friedensnobelpreisträger
Shimon Peres ganz zu schweigen – sind alle über
Mikroskope gebeugt und warten auf eine Antwort, die
zweifellos ein wichtiger Beitrag für die politischen
Wissenschaften sein wird.
Ich hoffe, das
Nobelpreis-Komitee beachtet dies auch genau.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |