Pardon, das ist der falsche Kontinent
Uri Avnery, 23.12.06
VOR EIN paar
Wochen wurden in Katar die Asiatischen Spiele
abgehalten.
Die
israelischen Medien behandelten dieses Sportereignis
mit einer Mischung von Spott und Mitleid. Eine Art
malerischer Zirkus. Unser TV zeigte einen exotischen
Reiter mit Keffije, wie er bei der Eröffnungsfeier
eine edle Stute eine steile Treppe hochtrieb, um die
olympische Flamme zu entzünden. Und das war’s dann.
Eine Frage
wurde in keiner der Medien gestellt: warum sind
wir nicht dabei? Liegt Israel nicht in Asien?
Daran dachte
man überhaupt nicht. Wir? In Asien? Das kann doch
nicht sein?
ALS ICH DAS
Ereignis im Aljazeera-Fernsehen verfolgte, erinnerte
ich mich auf einmal eines privaten Jahrestages, der
mir völlig aus dem Gedächtnis entfallen war.
Genau vor 60
Jahren sammelte ich einige junge Leute um mich. Wir
gründeten eine Gruppe, die sich auf Hebräisch
„Junges Land Israel“ und auf Arabisch „Junges
Palästina“ nannte. Mit unseren bescheidenen Mitteln
– zu jener Zeit waren wir alle sehr arm –
veröffentlichten wir von Zeit zu Zeit die Nummer
einer Monatszeitschrift, die sich Bamaavak („Im
Kampf“) nannte.
Bamaavak
verursachte Wirbel, weil seine ketzerischen
Meinungen einfach wütend machten. Im Gegensatz zum
vorherrschenden zionistischen Narrativ behauptete
sie, dass wir, die junge im Lande aufgewachsene
Generation, eine neue Nation bilden, die hebräische
Nation.
Nicht wie die
uns vorausgegangene Gruppe der „Kanaaniter“
erklärten wir, dass (a) die neue Nation, ein Teil
des jüdischen Volkes, so wie die Australier ein Teil
des angelsächsischen Volkes sei und (b) sie eine
Schwesternation der neu erwachten arabischen Nation
im Lande und in der Region sei.
Und -- was
nicht weniger wichtig ist -- da die neue hebräische
Nation in diesem Lande geboren wurde und dieses Land
zu Asien gehört, seien wir eine asiatische Nation,
ein natürlicher Verbündeter aller asiatischen und
afrikanischen Nationen, die für die Befreiung vom
europäischen Kolonialismus kämpfen.
Am Mittwoch,
dem 19.März 1947, ein paar Monate nachdem die erste
Auflage von Bamaavak erschienen war, brachte die
hebräische Tageszeitung Haboker folgenden Bericht: „Anlässlich
der Eröffnung der Panasiatischen Konferenz in Neu
Delhi sandte die Gruppe „Junges Land Israel“
ein Kabeltelegramm an Jawaharlal Nehru: „Empfangen
Sie, bitte, zu Ihrer historischen Initiative unsere
Glückwünsche. Mögen sich die Hoffnungen auf Freiheit
für die Völker des neuen Asien – von ihrem mutigen
Beispiel angeregt - vereinigen! Lang lebe das
vereinte und hochstrebende junge Asien, die Vorhut
von Brüderlichkeit und Fortschritt!“
Eine ähnliche
Zeitungsstory erschien am selben Tag auf der
Titelseite der Palestine-Post (Vorgänger der
Jerusalem-Post). Sie erwähnte auch die Namen der
Unterzeichner: Uri Avnery, Amos Elon und Ben-Ami
Gur.
Bamaavak
erschien unregelmäßig, wenn wir gerade genügend Geld
hatten, bis zum Ausbruch des 1948er-Krieges. In der
hebräischen Presse waren mehr als 100 Reaktionen
veröffentlicht, fast alle von ihnen negativ, viele
schmähend und tadelnd. Der berühmte Autor Moshe
Shamir, damals ein Linker, machte ein nettes
Wortspiel und nannte uns Bamat-Avak („Staubbühne“).
Als der Krieg
ausbrach, wurde das ganze Kapitel Bamaavak vom Krieg
überschattet und vergessen. Aber fast alles, was wir
vor 60 Jahren sagten, ist bis zum heutigen Tag
relevant geblieben. Und die relevanteste Frage ist:
Zu welchem Kontinent gehört der Staat Israel
eigentlich?
ICH GLAUBE,
dass eine der tiefsten Ursachen für den historischen
Konflikt zwischen uns und der arabischen Welt im
Allgemeinen - und mit dem palästinensischen Volk im
Besonderen - die Tatsache ist, dass die zionistische
Bewegung vom ersten Tag an erklärte, sie gehöre
nicht zu dieser Region, in der wir leben. Vielleicht
ist dies einer der Gründe, dass sogar nach vier
Generationen die Wunde des Konfliktes nicht geheilt
ist.
In seinem Buch
„Der Judenstaat“, dem Gründungsdokument der
zionistischen Bewegung, hat Theodor Herzl den
berühmten Satz geschrieben: „Für Europa würden
wir (in Palästina) ein Stück des Walles gegen Asien
bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur
gegen die Barbarei besorgen.…“ Diese
Haltung ist typisch für die ganze Geschichte des
Zionismus und des Staates Israels bis heute. Vor ein
paar Wochen erklärte der israelische Botschafter in
Australien, Asien gehöre der gelben Rasse, während
wir Weiße seien und keine Schlitzaugen hätten.“
Herzl kann man
vielleicht vergeben. Er ist ein klassisches Beispiel
für einen Europäer, der in einer Zeit gelebt hat,
als die Ideologie des Imperialismus Europa
beherrschte. Aber heute, vier Generationen später,
verfolgen die, die im Lande geboren sind und die die
öffentliche Meinung bilden, genau diesen Weg weiter.
Der frühere Ministerpräsident Ehud Barak erklärte,
Israel sei „eine Villa mitten im Dschungel“,
(natürlich im arabischen Dschungel) und diese
Haltung wird praktisch von all unseren Politikern
geteilt. Zippi Livni spricht gern über die
„gefährliche Nachbarschaft“, mit der wir leben; und
der Ariel Sharons Hauptberater sagte einmal, es
werde keinen Frieden geben, bis sich „die
Palästinenser nicht in Finnen verwandelten“.
Unsere Fußball-
und Basketball-Teams spielen in der Europäischen
Liga, der Eurovision-Liederwettbewerb ist in Israel
ein nationales Ereignis, 95% unserer politischen
Aktivitäten sind auf Europa und Nordamerika
konzentriert. Aber das Phänomen erstreckt sich weit
über die politische Arena hinaus– es ist
eine„Weltanschauung“ im buchstäblichen Sinne. In
unserer Welt ist Israel ein Teil Europas.
In den 50ern,
als ich Herausgeber von Haolam Hazeh, einem
Nachrichtenmagazin, war, veröffentlichte ich eine
Karikatur, auf die ich heute noch stolz bin: sie
zeigte eine Karte des östlichen Mittelmeers, mit
einem Arm, der aus Griechenland ausgestreckt eine
Schere hielt. Diese schnitt Israel von Asien ab.
Schade, dass ich nicht noch eine zweite Zeichnung
einsetzte, die Israel an die Küste Frankreichs oder
noch besser, an Miami legte.
Heutzutage wäre
es schwierig, jemanden zu finden, der behaupten
würde, Asien (Indien, China) sei barbarisch. Man
kann aber leicht Leute in Israel und im ganzen
Westen finden, die die arabische Welt ja,
tatsächlich die ganze muslimische Welt, als
„Dschungel“ empfinden. Mit solch einer Haltung kann
man keinen Frieden machen. Wie macht man mit
Giftschlangen und gefräßigen Raubkatzen Frieden?
Während der
Bamaavak-Zeit prägten wir den Slogan „ Integration
im semitischen Raum“. Aber wie kann man sich in eine
Region integrieren, die man als Dschungel
betrachtet?
EINE
WELTANSCHAUUNG ist keine akademische Angelegenheit.
Sie hat großen Einfluss auf das tatsächliche Leben.
Sie beeinflusst das Bewusstsein der Menschen, und
zwar bewusst, aber mehr noch unbewusst. Sie
beeinflusst die praktischen Entscheidungen, ohne
dass sich die Entscheidungsträger deren bewusst
sind. Auch die Politiker sind – im besten Fall - nur
menschliche Wesen, und ihre Handlungen sind durch
ihre verborgenen Vorstellungen bestimmt.
In Israel
pflegen wir nicht hinterfragte „Konzepte“ als die
Ursache all unserer Fehler und Niederlagen zu
betrachten. Aber was ist ein „Konzept“ anderes als
der Ausdruck einer unbewussten Weltanschauung?
Die
Weltanschauung beeinflusst viele Aspekte des
Staates. Sie ist das Kernstück des Bildungssystems,
das die Meinung der nächsten Generation formt. Wir
haben vielleicht das einzige Bildungssystem in der
Welt, das nicht die Geschichte seines Landes lehrt.
In unseren Schulen wird sehr wenig über die
Vergangenheit des Landes gelehrt. Stattdessen wird
die Geschichte „des jüdischen Volkes“ gelehrt. Das
beginnt mit den alten israelitischen Königreichen
vor dem 6. Jahrhundert v.Chr („Zeit des Ersten
Tempels“), dann die jüdische Gemeinde im Lande vor
und kurz nach Beginn der christlichen Ära (Zeit des
Zweiten Tempels). Dann verlässt sie das Land und
lebt in der jüdischen Diaspora für mehr als tausend
Jahre, bis die zionistische Besiedlung beginnt. Fast
2000 Jahre verschwinden in den Annalen des Landes
und aus der Schule.
Ich sprach
einmal darüber bei einer Rede in der Knesset. Ich
sagte, ein israelisches, hier im Lande geborenes
Kind – egal ob jüdisch oder arabisch – solle auch
die Geschichte des Landes kennen lernen,
einschließlich aller Perioden und Völker: der
Kanaaniter, Israeliten, Griechen, Römer, Araber,
Kreuzfahrer, Mamluken, Türken, Briten,
Palästinenser, Israelis u.a. Die Geschichte der
Juden in der Diaspora könnte außerdem gelehrt
werden. Der in Russland geborene Bildungsminister
antwortete humorvoll und bestand darauf, mich
seitdem „den Mamluken“ zu nennen.
IN LETZTER Zeit
wurde es für Politiker und Kommentatoren in Israel
Mode, über die Gefahr einer Vernichtung zu sprechen,
die – wie sie behaupten - Israel bedrohe. Es ist
kaum zu glauben. Der Staat Israel ist eine regionale
Großmacht, seine Wirtschaft ist robust und
entwickelt, sein technologischer Standard ist einer
der höchsten in der Welt, seine Armee ist stärker
als alle arabischen Armeen zusammen , es hat ein
großes Arsenal von Nuklearwaffen. Selbst wenn die
Iraner eine eigene Bombe hätten, wären sie
wahnsinnig, sie einzusetzen - aus Angst vor der
israelischen Rache.
Woher kommt
also die Angst im 59. Jahr des Staates? Teilweise
mag es mit dem Gedenken an den Holocaust
zusammenhängen, der sich tief in die nationale
Mentalität eingeprägt hat. Aber der andere Teil
kommt aus dem Gefühl, nicht dazuzugehören und aus
dem Gefühl, hier nicht verwurzelt zu sein.
Das hat
natürlich auch interne Auswirkungen. Das Bewusstsein
beeinflusst die praktischen Interessen. Die
Behauptung, wir seien ein europäisches Volk, stärkt
automatisch die Position der herrschenden Klasse,
die vorwiegend aschkenasisch-europäisch ist,
gegenüber der Majorität der Bürger Israels, die
asiatisch-afrikanisch, jüdischer oder
palästinensisch-arabischer Herkunft sind. Die tiefe
Verachtung ihrer Kultur, die den Staat vom ersten
Tage an begleitete, erleichtert ihre Diskriminierung
auf vielen Gebieten.
DIE VERÄNDERUNG
des Bewusstseins in einer Gemeinschaft ist keine
kurzfristige Sache. Sie kann nicht durch
Verordnungen erreicht werden. Es ist ein langsamer
und schrittweiser Prozess. Aber in einem gewissen
Stadium sollten wir damit anfangen, zunächst vor
allem im Bildungssystem.
Ich begann
meine Broschüre „Krieg oder Frieden im semitischen
Raum“, das im Oktober 1947 veröffentlich wurde, nur
wenige Wochen vor Beginn des Krieges von 1948 mit
den Worten:
„Als unsere
zionistischen Väter entschieden, eine „sichere
Heimstätte“ in Eretz Israel zu schaffen, hatten sie
die Wahl zwischen zwei Wegen: sie konnten sich als
europäische Eroberer in Westasien und als
Brückenkopf der „weißen“ Rasse und als Herren über
die „Eingeborenen“ betrachten … (oder) sich als
ein asiatisches Volk sehen, das in seine Heimat
zurückkehrt.“
Als ich diese
Worte schrieb, war der Aufstieg Asiens noch ein
Traum. Der 2.Weltkrieg war erst vor zwei Jahren
beendet worden, und die USA sahen wie eine
allmächtige Supermacht aus. Aber nun findet eine
stille Revolution großen Ausmaßes statt. Die
Nationen Asiens, von China und Indien angeführt,
werden wirtschaftliche und politische Großmächte.
Sollten wir uns nicht langsam diesem Lager zuwenden?
Die Broschüre
von vor 60 Jahren endete mit den Worten eines
hebräischen Liedes:
„Unsere
Gesichter sind der aufgehende Sonne zugewandt, nach
Osten führt wieder unser Weg…“
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)