Hottentotten-Moral
Uri Avnery, 30.8.08
„WENN ER meine Kuh stiehlt, dann ist es schlecht. Wenn er seine Kuh
stiehlt, dann ist es gut“ – diese Moralregel wurde von europäischen
Rassisten den Hottentotten zugeschrieben, einem alten Volksstamm im
Südwesten Afrikas.
Daran muss ich denken, wenn die USA und die europäischen Staaten
jetzt gegen Russlands Anerkennung der Unabhängigkeit von Südossetien
und Abchasien aufschreien, die beiden Provinzen, die sich von der
Republik von Sakartvelo trennten, die im Westen als Georgien bekannt
ist.
Es
ist noch nicht so lange her, dass die westlichen Länder die Republik
Kosovo anerkannten, die sich von Serbien trennte. Der Westen
behauptete, dass die Bevölkerung des Kosovo nicht serbisch sei,
seine Kultur und Sprache sei nicht serbisch und dass es deshalb ein
Recht habe, von Serbien unabhängig zu sein. Vor allem, nachdem
Serbien eine schwerwiegende Unterdrückungskampagne gegen die
Kosovaren geführt hatte. Ich unterstützte diese Ansicht voll und
ganz. Anders als viele meiner Freunde war ich sogar für die
militärische Operation, die den Kosovaren half, sich selbst zu
befreien.
Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig, sagt ein
Sprichwort. Was für Kosovo gilt, gilt auch für Abchasien und
Südossetien. Die Bevölkerung dieser Provinzen sind keine Georgier.
Sie haben ihre eigene Sprache und alte Zivilisationen. Sie waren von
Georgien annektiert worden, wollen aber kein Teil Georgiens sein.
Was ist nun der Unterschied zwischen den beiden Fällen? Es ist
tatsächlich ein großer: die Unabhängigkeit des Kosowo wird von den
Amerikanern unterstützt und von den Russen abgelehnt. Deshalb ist es
o.k. Die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens wird von den
Russen unterstützt und von den Amerikanern abgelehnt. Deshalb ist es
nicht o.k.. Die alten Römer sagten: Quod licet Jovi, non licet
bovi – was Jupiter erlaubt ist, ist einem Ochsen nicht erlaubt.
Ich kann diesen Moralkodex nicht akzeptieren. Ich bin für die
Unabhängigkeit all dieser Regionen.
Meiner Ansicht nach gibt es ein einfaches Prinzip, das für jeden
gilt: Jede Provinz, die sich von einem Land trennen will, hat das
Recht, dies zu tun. Deshalb gibt es für mich in dieser Hinsicht
keinen Unterschied zwischen den Kosovaren, Abchasiern, Basken,
Schotten und Palästinensern. Eine Regel für alle.
ES
GAB eine Zeit, als dieses Prinzip nicht erfüllt werden konnte. Ein
Staat mit ein paar hundert- tausend Bewohnern war wirtschaftlich
nicht lebensfähig und konnte sich militärisch nicht verteidigen.
Es
war das Zeitalter des „Nationalstaates“, als ein starkes Volk sich,
seine Kultur und seine Sprache kleineren Völkern aufzwang, um einen
Staat zu schaffen, der groß genug war, um für Sicherheit, Ordnung
und einen gewissen Lebensstandard zu sorgen. Frankreich hat sich
deshalb die Bretonen und die Korsen unterworfen, Spanien die
Katalanen und die Basken, England die Waliser, die Schotten und die
Iren usw.
Diese Realität ist nicht mehr vorhanden. Die meisten Funktionen des
„Nationalstaates“ sind auf übernationale Strukturen übergegangen,
wie die großen Bundesländer der USA und die großen
Partnerschaften wie die EU. In diesen gibt es auch Platz für kleine
Länder wie Luxemburg neben größeren wie Deutschland. Wenn Belgien
auseinander bricht und ein flämischer Staat neben einem wallonischen
entsteht, werden beide in die EU aufgenommen werden und keinem wird
ein Unglück geschehen. Jugoslawien ist zerfallen, und jedes seiner
Teile wird schließlich zur EU gehören.
Das ist auch in der ehemaligen Sowjetunion geschehen. Georgien
befreite sich von Russland. Mit demselben Recht und derselben Logik
kann sich Abchasien von Georgien befreien.
Aber wie könnte ein Land dann ein auseinander Fallen verhindern?
Sehr einfach. Es muss die kleineren Völker davon überzeugen, dass es
sich lohnt, unter seinen Flügeln zu bleiben. Wenn die Schotten das
Gefühl haben, dass sie im Vereinigten Königreich die gleichen Rechte
haben, dass ihnen genügend Autonomie und ein faires Stück des
allgemeinen Kuchens gewährt wird, dass ihre Kultur und ihre
Traditionen respektiert werden, dann können sie sich zum Bleiben
entscheiden. Solch eine Debatte läuft seit Jahrzehnten in der
französisch sprechenden kanadischen Provinz von Quebec.
Der allgemeine Trend in der Welt ist es, die Funktionen der großen
regionalen Organisationen zu erweitern, und gleichzeitig erlaubt es
Völkern, sich von ihrem Mutterland zu trennen und ihren eigenen
Staat zu errichten. Das geschah in der Sowjetunion, in Jugoslawien,
in der Tschechoslowakei, Serbien und Georgien. Das wird noch in
vielen anderen Ländern geschehen.
Diejenigen, die in die entgegengesetzte Richtung gehen wollen und
z.B. einen binationalen israelisch-palästinensischen Staat gründen
wollen, gehen gegen den Zeitgeist – um wenigstens dies zu sagen.
DIES IST der historische Hintergrund für die Krise zwischen Georgien
und Russland. Da gibt es keine Gerechten. Es ist schon ziemlich
komisch von Vladimir Putin, von dessen Händen das Blut
tschetschenischer Freiheitskämpfer tropft, zu hören, wie er das
Recht Südossetiens auf Abtrennung rühmt. Es ist nicht weniger
komisch, von Micheil Saakashvili zu hören, wie er den Freiheitskampf
der beiden separatistischen Regionen mit dem sowjetischen Einfall in
die Tschechoslowakei vergleicht.
Der Kampf erinnert mich an unsere eigene Geschichte. Im Frühjahr
1967 hörte ich einen israelischen General sagen, dass er jede Nacht
dafür bete, dass der ägyptische Führer Gamal Abd-al-Nassar seine
Truppen doch auf die Sinai-Halbinsel schicken möge. Dort werden wir
sie vernichten, sagte er. Einige Monate später tappte Nasser in die
Falle. Der Rest ist Geschichte.
Nun hat Saakaschvili genau dasselbe getan. Die Russen beteten darum,
dass er in Südossietien einfallen möge. Als er in diese Falle
tappte, taten die Russen dasselbe, was wir den Ägyptern taten. Die
Russen brauchten sechs Tage dazu, genau wie wir.
Keiner weiß, was Saakaschwili durch den Kopf ging. Er ist ein
unerfahrener Mann, der in den USA ausgebildet wurde, ein Politiker,
der auf Grund seines Versprechens zur Macht kam, die separatistische
Region wieder zurück zu bringen. Die Welt ist voll solcher
Demagogen, die eine Karriere auf Hass, Supernationalismus und
Rassismus aufbauen. Wir haben von diesen Typen auch hier bei uns
mehr als genug.
Aber selbst ein Demagoge muss kein Idiot sein. Glaubte er, dass
Präsident Bush, der auf allen Gebieten bankrott ist, ihm zu Hilfe
eilen würde? Wusste er nicht, dass die USA keine überzähligen
Soldaten haben? Dass Bushs kriegerische Reden vom Wind verweht
werden? Dass die NATO ein Papiertiger ist? Dass die georgische
Armee im Feuer des Krieges wie Butter dahinschmelzen würde?
ICH MÖCHTE gerne wissen, welche Rolle wir in dieser Geschichte
spielten.
In
der georgischen Regierung gibt es einige Minister, die in Israel
aufwuchsen und hier ihre Ausbildung erhielten. Es scheint, dass der
Verteidigungsminister und der Minister für Integration (der
separatistischen Regionen) auch israelische Bürger sind. Und am
wichtigsten, dass die Eliteeinheiten der georgischen Armee von
israelischen Offizieren trainiert worden sind, einschließlich einem,
der den 2. Libanonkrieg verloren hat. Auch die Amerikaner
investierten viel in das Training der Georgier.
Ich amüsiere mich immer über die Idee, es sei möglich, eine
ausländische Armee zu trainieren. Man kann natürlich Techniken
lehren: wie man gewisse Waffen benützt oder wie man eine
Bataillonsübung ausführt. Aber jeder, der einmal an einem richtigen
Krieg teilgenommen hat (im Unterschied zur Überwachung einer
besetzten Bevölkerung), weiß, dass die technischen Aspekte
zweitrangig sind. Ausschlaggebend ist der Geist der Soldaten, ihre
Bereitschaft, ihr Leben für die Sache zu riskieren, ihre Motivation,
die menschliche Qualität der Kampfeinheiten und der Kommandeure.
So
etwas kann nicht von Ausländern übermittelt werden. Jede Armee ist
ein Teil ihrer Gesellschaft, und die Qualität der Gesellschaft ist
entscheidend für die Qualität der Armee. Dies trifft noch mehr zu in
einem Krieg gegen einen Feind mit großer zahlenmäßiger
Überlegenheit. Wir machten diese Erfahrungen im Krieg von 1948, als
David Ben Gurion uns Offiziere aufzwingen wollte, die in der
britischen Armee trainiert worden waren. Doch wir Frontsoldaten
wollten lieber unsere eigenen Kommandeure, die in unserer
Untergrundarmee trainiert worden waren und nie in ihrem Leben eine
Militärakademie gesehen hatten.
Nur professionelle Generäle, deren ganze Einstellung rein technisch
ist, können sich vorstellen, Soldaten eines anderen Volkes und
einer anderen Kultur zu „trainieren - in Afghanistan, im Irak oder
Georgien.
Eine ziemlich entwickelte Eigenschaft unserer Offiziere ist die
Arroganz. In unserm Fall ist sie verbunden mit einem angemessenen
Standard der Armee. Wenn die israelischen Offiziere ihre georgischen
Kollegen mit dieser Arroganz angesteckt haben und sie davon
überzeugten, dass sie die mächtige russische Armee schlagen könnten,
begingen sie ihnen gegenüber ein große Sünde.
ICH GLAUBE nicht, dass dies der Beginn des 2. Kalten Krieges ist,
wie unterstellt worden ist. Aber sicher ist es eine Fortsetzung des
„Großen Spieles“.
Diese Bezeichnung wurde dem erbarmungslosen geheimen Kampf gegeben,
der das ganze 19. Jahrhundert entlang der russischen Südgrenze
zwischen den beiden damaligen Großmächten tobte, der britischen und
der russischen Geheimagenten, und nicht so geheime Armeen waren in
den Grenzregionen von Indien (einschließlich Pakistan), Afghanistan,
Persien u.a. aktiv. Die „Nordwest-Grenze“ (Pakistans), die jetzt im
Krieg gegen die Taliban eine Hauptrolle spielt, war schon damals
legendär.
Heute läuft das „Große Spiel“ zwischen den augenblicklichen
Großmächten – den USA und Russland – über die Gegend von der Ukraine
bis Pakistan. Es belegt, dass Geographie wichtiger ist als die
Ideologie. Der Kommunismus kam und ist verschwunden – aber der Kampf
geht weiter, als sei nichts geschehen.
Georgien ist nur ein Bauer in diesem Schachspiel. Die Initiative
liegt bei den USA. Sie wollen Russland mit der sich erweiternden
NATO, einem Arm der US-Politik, entlang den Grenzen einkreisen .
Das ist eine direkte Bedrohung des rivalisierenden Empire. Russland
versucht seinerseits seine Kontrolle über die Ressourcen - Öl und
Gas, als auch über die Transportwege derselben - zu erweitern. Sie
sind für den Westen lebensnotwendig Das kann zu einer Katastrophe
führen.
ALS HENRY Kissinger noch ein weiser Historiker war, bevor er ein
törichter Staatsmann wurde, erläuterte er ein bedeutendes Prinzip:
um die Stabilität in der Welt aufrecht zu erhalten, muss ein System
geschaffen werden, das alle Parteien einschließt. Wenn eine Partei
außerhalb dieses Systems bleibt, ist die Stabilität in Gefahr.
Als Beispiel zitierte er die „Heilige Allianz“ der Großmächte, die
sich nach den Napoleonischen Kriegen bildete. Die weisen
Staatsmänner jener Zeit, zu denen der österreichische Fürst
Metternich gehörte, sorgten dafür, dass das besiegte Frankreich
nicht außerhalb stand, sondern im Gegenteil einen bedeutsamen Platz
im Konzert Europas bekam.
Die augenblickliche amerikanische Politik mit ihrem Versuch,
Russland hinauszudrängen, ist eine Gefahr für die ganze Welt . (Die
wachsende Macht Chinas habe ich dabei noch gar nicht erwähnt).
Ein kleines Land, das in den Kampf zwischen Großmächten verwickelt
wird, bringt sich selbst in die Gefahr, zerdrückt zu werden. Das ist
in der Vergangenheit mit Polen geschehen, und es scheint, aus den
Erfahrungen nicht gelernt zu haben. Man sollte Georgien und auch der
Ukraine raten, nicht den Polen nachzueifern, sondern den Finnen,
die seit dem 2. Weltkrieg eine weise Politik geführt haben: sie
achten auf ihre Unabhängigkeit, bemühen sich aber, die Interessen
ihres mächtigen Nachbarn zu berücksichtigen.
Wir Israelis könnten vielleicht auch etwas von all dem lernen: dass
es nicht sicher ist, Vasall einer Großmacht zu werden und deren
Rivalen zu provozieren. Russland kehrt in unsere Region wieder
zurück, und jeder Schritt, den wir machen, um die Expansion der USA
zu fördern, wird sicher von einem russischen Schritt zu Gunsten der
Syrer und des Iran beantwortet.
Wir sollten also die „Moral der Hottentotten“ nicht übernehmen. Sie
ist nicht klug und sicher auch nicht moralisch.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Abie Nathan
Als
mutiger Friedensaktivist führte er einen Hungerstreik
Gegen die Siedlungen durch – fast bis zum Tode.
Zweimal ging er ins Gefängnis, weil er sich mit Yassir Arafat traf.
Seine Aktionen plante er allein und nahm alle Verantwortung auf sich
Er
zahlte den vollen Preis
Und
wurde von den Massen geliebt.
Die
Erinnerung an ihn möge fortleben!
Gush Shalom – Inserat in Haaretz am 29.8.08
Gush Shalom bittet um Spenden (Schecks) für seine Aktionen
Und
die Inserate.
Gush Shalom POB 3322
Tel Aviv 61033
www.gush-shalom.org
info@gush-shalom.org
|