Das gebrochene Rohr
Uri Avnery, 1.9.07
IM JAHR 701 v.Chr. belagerte der assyrische König
Sanherib Jerusalem. Die Bibel berichtet über die
Worte, mit denen sich der assyrische General
Rabschakeh an König Hiskia, den König von Juda,
wandte: „Siehe, du verlässt dich auf diesen
zerbrochenen Rohrstab, auf Ägypten, der jedem, der sich
darauf stützt, in die Hand dringt und sie durchbohrt?
So tut der Pharao, der König von Ägypten, allen, die
sich auf ihn verlassen.“
Die Schreiber der Bibel waren so sehr von diesem Satz
beeindruckt, dass sie ihn zweimal zitierten ( 2. Könige
18 ,21 und Jesaja 36,6).
Man muss den historischen Kontext verstehen: Ägypten war
damals eine riesige Großmacht. Jahrhunderte lang
beherrschte es all seine Nachbarn, einschließlich des
Gebietes, das heute Syrien, Libanon und Israel
einschließt. Die Assyrer auf der andern Seite waren eine
aufstrebende neue Macht. Nachdem sie das Königreich
Israel in Samaria erobert hatten, das bedeutendere der
beiden hebräischen Königreiche, versuchte es das winzige
Königreich Juda zu besetzen, das sich, was seine
Verteidigung betraf, auf das mächtige Ägypten verließ.
Juda hielt durch. Aus unbekannten Gründen beendeten die
Assyrer die Belagerung und zogen sich von Jerusalem
zurück. Das Königreich Juda blieb weitere hundert Jahre
intakt - bis die Babylonier, die den Platz der Assyrer
einnahmen, es auch eroberten. Ägypten konnte es nicht
davor bewahren. Zu jener Zeit war es wirklich zu einem
„gebrochenen Rohr“ geworden.
DIE USA sind die modernen Erben des alten Ägypten. Sie
sind pompös, reich und stark, eine kulturelle,
wirtschaftliche und militärische Macht: Pharao, der
König von Amerika beherrscht die Welt wie Pharao, der
König von Ägypten, einst die semitische Region
beherrschte. Und wie jede herrschende Weltmacht sind sie
– die USA - an der bestehenden Weltordnung
interessiert und verteidigen den Status quo gegen alle
aufstrebenden Kräfte der Welt.
Israel betrachtet deshalb seine besonderen Beziehungen
mit den USA als die wichtigste Garantie für seine
nationale Sicherheit. Keine besetzten Gebiete oder
Waffensysteme können ein Ersatz sein für die
Nabelschnur, die Jerusalem mit Washington verbindet –
eine Verbindung, für die es in der jetzigen Welt
weltweit keine Parallele gibt, ja vielleicht nicht
einmal in der Geschichte.
Viele haben versucht und versuchen noch immer, diese
besondere Beziehung zu erklären, aber keinem ist es
bisher gelungen, dies in vollem Ausmaß zu tun.
Diese Beziehung hat eine ideologische Dimension: Beide
Staaten wurden von Einwanderern aus fernen Gegenden
gegründet, die ein Land in Besitz nahmen und die
einheimische Bevölkerung verdrängten. Beide glaubten,
Gott habe sie auserwählt und ihnen das gelobte Land
überlassen. Beide schufen zunächst einen Brückenkopf
und brachen von dort aus zu einem historischen Marsch
auf, der unwiderstehlich schien – die Amerikaner von
„Meer zu Meer“ , die Israelis vom Meer zum
Jordanfluss.
Die Beziehung hat eine strategische Dimension: Israel
dient den lebenswichtigen amerikanischen Bedürfnissen,
um die Herrschaft über das Öl im Nahen Osten zu
sichern; Amerika dient den Bemühungen der israelischen
Regierung, das Land bis zum Jordan zu beherrschen und
den Widerstand der lokalen Bevölkerung zu brechen.
Diese Beziehungen haben eine politische Dimension: Die
US haben immensen Einfluss auf Jerusalem, und Israel hat
einen immensen Einfluss auf Washington. Dieser Einfluss
gründet sich auf die eine Million Juden, die vor
hundert Jahren nach Amerika eingewandert sind. Sie
stellen dort eine mächtige Gemeinschaft dar, die mit
politisch wirtschaftlichem Einfluss auf alle Zentren der
gesellschaftlichen Macht bewundernswert organisiert
ist. Die kombinierte Macht der jüdisch-zionistischen
Lobby und der christlichen Fundamentalisten, die auch
die israelische Rechte unterstützt, ist unermesslich.
(Es gibt eine Geschichte über einen israelischen
Politiker, der vorschlug, „sich den USA als 51. Staat
anzuschließen . „Bist du verrückt“ gab sein Kollege
zurück, „wenn wir einfach ein weiterer Bundesstaat
wären, dann hätten wir nur zwei Senatoren und ein paar
Kongressleute. “Jetzt haben wir wenigstens 80 Senatoren
und Hunderte von Kongressleuten.“)
Dutzende kleiner Länder in aller Welt glauben, dass der
Weg nach Washington über Jerusalem führt. Um sich bei
den USA einzuschmeicheln, knüpfen sie erst enge
Beziehungen mit Israel, das für sie wie ein Türsteher
wirkt, an dem man nicht ohne Bestechung vorbei kommen
kann.
Dieser Einfluss ist nicht unbegrenzt, wie einige
glauben. Die Jonathan-Pollard-Affäre hat gezeigt, dass
all die Macht der Pro-Israel-Lobby nicht ausreichte, um
für einen kleinen Spion ein Pardon zu erhalten. Und vor
kurzem gelang es Israel nicht, den Verkauf von riesigen
Mengen von Waffen an Saudi-Arabien zu verhindern,
obwohl es natürlich mehr Hilfe umsonst erhält.)
Die Auswirkungen sind auch keine Einbahnstraße. Wenn die
USA Israel eine direkte Order erteilen, dann gehorcht
Jerusalem. Zum Beispiel, als Jerusalem sich entschieden
hatte, an China ein teures Aufklärungsflugzeug zu
verkaufen - der Stolz der israelischen Industrie - zwang
Washington Israel, diesen Deal rückgängig zu machen, was
den israelisch-chinesischen Beziehungen nur schweren
Schaden zufügte.
Aber in Washington und Jerusalem gibt es eine tief
verwurzelte Überzeugung darüber, dass die beiden Länder
in ihren Interessen so eng miteinander verbunden sind,
dass sie nicht aus- einander gehalten werden können. Was
für den einen gut ist, ist auch für den anderen gut. Die
siamesischen Zwillinge können nicht getrennt werden.
TROTZDEM lohnt es sich zuweilen, an die Worte des
assyrischen Generals von vor 2708 Jahren zu erinnern.
Große Mächte steigen auf und fallen. Nichts bleibt, wie
es ist..
Das 20. Jahrhundert wurde das „amerikanische
Jahrhundert“ genannt. Am Anfang waren die USA noch ein
Land am Rande des Weltsystems. An seinem Ende – nach
zwei Weltkriegen, die von der wachsenden Macht des
amerikanischen Riesen entschieden wurden - waren sie die
einzige Weltmacht, der letzte Befehlshaber von allem.
Das ging so weit, dass ein gelehrter Professor über das
„Ende der Geschichte“ unter amerikanischer Schutzmacht
fantasierte.
Das 21. Jahrhundert wird nicht ein weiteres
„amerikanisches Jahrhundert“ sein. Man kann einen
langsamen, aber stetigen Niedergang des US- Status
voraussehen. Europa vereinigt sich langsam aber sicher
, und seine wirtschaftliche Macht wächst stetig.
Russland wird nach und nach wieder eine Großmacht, wozu
ihm seine enormen Öl- und Gasreserven verhelfen. Und
besonders wichtig: die zwei Bevölkerungsgiganten China
und Indien erklimmen schnell die wirtschaftliche Leiter.
Wahrscheinlich wird sich nichts Dramatisches ereignen.
Die US werden nicht plötzlich zusammenbrechen wie die
Sowjetunion, ein Riese auf tönernen Füßen. Sie werden
keine militärische Niederlage erleben wie
Nazi-Deutschland, dessen größenwahnsinnige militärische
Ambitionen auf ganz unzulänglicher wirtschaftlicher
Basis gegründet waren. Aber die relative Macht der USA
ist in einem unvermeidlichen Prozess des langsamen
Abstiegs.
Die Ereignisse im Irak sind nur kleine Beispiele.
Amerika schlidderte in dieses Abenteuer nicht nur, um
Israel zu schützen, wie die beiden Professoren Walt und
Mearsheimer in ihrem neuen Buch behaupten. Auch nicht
deshalb, weil sie den armen Irak vom blutdürstigen
Tyrannen befreien wollten. So wie wir hier schon einmal
schrieben: Sie überfielen den Irak, um die Hand auf den
wesentlichen Ölreserven des Nahen Ostens zu halten und
um eine permanente amerikanische Militärpräsenz in
seinem Zentrum zu behaupten. Nun versinken sie – wie
erwartet - in einem irakischen Morast. Aber ein Land
wie die USA, die in der Lage waren das schändliche
Debakel in Vietnam zu überwinden, wird auch das
erwartete Fiasko im Irak verwinden. Die militärische
Macht der USA – einzigartig in der Welt – ist auf einer
nie da gewesenen wirtschaftlichen Macht gegründet.
Aber viele kleine Niederlagen werden sich zu einer
großen addieren. Der Krieg hat das amerikanische
Prestige, das Selbstvertrauen und das moralische Ansehen
(Guantanamo, Abu Ghraib) verletzt. Es gab einmal eine
Zeit, als die USA weltweit Bewunderung einheimsten.
Heute zeigen die Meinungsumfragen, dass die USA von der
Mehrheit in fast allen bedeutenden Ländern gehasst
werden. Der kolossale amerikanische Schuldenberg lässt
auch nichts Gutes ahnen.
IST ES wirklich gut, mit dem Schicksal der USA auf Leben
und Tod verbunden zu sein?. Abgesehen von den
moralischen Erwägungen: ist es klug, all seine Eier –
alle – in einen Korb zu legen?
Ein Zyniker mag sagen: warum nicht? Amerika beherrscht
die Welt. Es wird dies noch eine Zeitlang tun. Falls und
wenn es die Kontrolle verliert, werden wir Lebe wohl!
sagen und uns nach einem neuen Verbündeten umschauen. So
haben wir es mit den Briten getan. Nach dem 1. Weltkrieg
halfen wir ihnen, das Mandat über Palästina zu bekommen,
und dafür halfen sie uns, die hebräische Gemeinschaft
hier aufzubauen. Schließlich gingen sie weg, und wir
blieben. Danach halfen wir Frankreich, und dafür
erhielten wir von ihnen den Atomreaktor in Dimona.
Schließlich gingen sie, und der Reaktor blieb.
Dies wird „Realpolitik“ genannt. Wir werden von den
Amerikanern bekommen, was wir erhalten können, und dann,
nach ein oder zwei Generationen, werden wir weiter
sehen. Vielleicht verlieren die US viele ihre
Aktivposten. Vielleicht werden sie aufhören, Israel zu
unterstützen, wenn eine neue Realität eine Veränderung
ihrer Interessen bringt.
Ich glaube nicht , dass unsere gegenwärtige Politik klug
ist. Unsere sogenannte „realistische“ Politik sieht die
Realität von heute, aber nicht die Realität von morgen.
Schließlich begründeten wir diesen Staat nicht für
begrenzte Zeit, sondern für Generationen. Wir müssen an
die Realität von morgen denken.
Zweifellos wird die Welt von morgen nicht monopolar
sein, einseitig-amerikanisch, sondern mulipolar, eine
Welt deren Einfluss auf viele Zentren aufgeteilt ist,
wie Washington, Peking, Moskau, Neu Delhi, Brüssel und
Rio de Janeiro.
Es wäre klug, sich heute schon auf diesen Tag
vorzubereiten.
IN WELCHER Weise denn?
Ich verglich einmal unsere Situation mit der eines
Spielers am Roulettetisch, der ein unglaubliches Glück
hat. Vor ihm wächst der Berg der Jetons. Er könnte im
richtigen Augenblick aufhören und seine Jetons in
Millionen Dollar umtauschen und danach für immer sorglos
und glücklich leben. Aber er kann nicht aufhören. Das
Spielfieber lässt ihn nicht los. Also macht er weiter,
auch als sich sein Glück gewendet hat - mit
voraussehbaren Folgen.
In diesem Augenblick sind wir auf der Höhe unserer
Macht. Unsere Verbindungen mit den USA, die immer noch
allmächtig sind, geben uns eine Position weit über
unsere natürlichen Fähigkeiten hinaus.
Dies wäre der Zeitpunkt, um die Jetons in Geld
umzutauschen, unsere augenblicklichen Gewinne in
bleibende Werte umzuwechseln. Die besetzten Gebiete
aufzugeben und Frieden zu machen, mit unsern Nachbarn
Beziehungen zu knüpfen, tiefe Wurzeln in der Region zu
schlagen, so dass wir selbst in der Lage sind
durchzuhalten, wenn der Wille und die Fähigkeit
Amerikas, uns unter allen Umständen zu schützen,
erlöschen.
Das ist um so wahrer, wenn wir den Aufstieg des
islamischen Radikalismus’ in Betracht ziehen, der eine
natürliche Reaktion auf die Aktionen der
amerikanisch-israelischen Achse ist. Der
israelisch-palästinensische Konflikt ist die
Hauptursache für dieses Erdbeben, das eines Tages einen
zerstörerischen Tzunami verursachen kann. Wir, wie auch
die Amerikaner, wären gut beraten, beizeiten die
natürlichen Ursachen dieses Phänomens zu beseitigen.
Amerika ist weit davon entfernt, ein gebrochenes Rohr
zu sein - vorläufig. Diejenigen die sich auf diesen Stab
stützen wollen, können es noch eine Weile tun. Aber es
wäre klug von uns, diese Zeit zu nutzen, um uns eine
Existenz in der zukünftigen Welt in Frieden abzusichern.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)