Ein Mann und sein Volk
Uri Avnery, 6.11.04
Wo immer er auch nach seinem Tod
begraben werden mag, es wird der Tag kommen, an dem seine
sterblichen Überreste durch eine freie palästinensische Regierung zu
den muslimischen heiligen Stätten in Jerusalem überführt werden.
Yasser Arafat ist einer aus der
Generation der großen Führer, die nach dem 2. Weltkrieg auftraten.
Die Statur eines Führers wird nicht
einfach nur von dem bestimmt, was er erreicht hat, sondern auch von
der Größe der Hindernisse, die er überwinden musste. In dieser
Hinsicht hat Arafat weltweit keinen Konkurrenten: kein Führer
unserer Generation musste solch grausame Tests bestehen und mit so
viel Unglück fertig werden wie er.
Als er Ende der 50er Jahre auf der
weltpolitischen Bühne auftauchte, war sein Volk nahe daran, in
Vergessenheit zu versinken. Der Name Palästina war von der Landkarte
gelöscht worden. Israel, Jordanien und Ägypten hatten das Land unter
sich aufgeteilt. Die Welt hatte sich entschieden, dass es keine
palästinensische nationale Entität gibt, dass das palästinensische
Volk zu existieren aufgehört hat – falls es überhaupt jemals
existiert hat.
Innerhalb der arabischen Welt wurde die
„Palästinensische Sache“ noch erwähnt, aber sie diente nur als Ball,
der zwischen arabischen Regierungen hin und her gestoßen wurde.
Jede versuchte, sie für ihre eigenen egoistischen Zwecke zu
benutzen, gleichzeitig aber jede unabhängige palästinensische
Initiative brutal zu unterdrücken. Fast alle Palästinenser lebten in
Diktaturen, die meisten unter erniedrigenden Umständen.
Als Yasser Arafat, damals ein junger
Ingenieur in Kuweit, die „Palästinensische Befreiungsbewegung“
gründete, deren Initialen rückwärts gelesen FATAH ergeben, meinte
er zunächst Befreiung von den verschiedenen arabischen Führern, um
das palästinensische Volk für sich selbst sprechen und handeln zu
lassen. Das war die erste Revolution des Mannes, der während seines
Lebens wenigstens drei große Revolutionen in die Wege leitete.
Es war eine gefährliche Revolution.
Fatah hatte keine unabhängige Basis. Sie musste in den arabischen
Ländern agieren, wo sie oft gnadenlos verfolgt wurde. Eines Tages
wurde z.B. die ganze Führung der Bewegung, einschließlich Arafats,
vom damaligen syrischen Diktator, weil sie seinen Befehlen nicht
gehorchte, ins Gefängnis geworfen. Nur Umm Jihad, die Frau von Abu
Jihad, blieb frei. Sie übernahm das Kommando für die Kämpfer.
Jene Jahre prägten Arafats
charakteristischen Stil. Er musste zwischen den arabischen Führern
manövrieren, spielte sie gegeneinander aus, benutzte Tricks,
Halbwahrheiten, doppeldeutiges Gerede, wich Fallen aus und umging
Hindernisse. Er wurde Weltmeister der Manipulation. Auf diese Weise
rettete er in der Zeit ihrer Schwäche die Befreiungsbewegung vor
vielen Gefahren, bis sie zu einer starken Kraft werden konnte.
Gamal Abd-al-Nasser, der ägyptische
Herrscher, der in jener Zeit der Held der ganzen arabischen Welt
war, war vor der aufkommenden unabhängigen palästinensischen
Bewegung beunruhigt. Um sie beizeiten abzuwürgen, schuf er die
Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und setzte einen
palästinensischen politischen Söldner an ihre Spitze, Ahmed Shukeiri.
Aber nach der schändlichen Schlappe der arabischen Armeen 1967 und
dem aufregenden Sieg der Fatahkämpfer gegen die israelische Armee in
der Schlacht von Karameh (März 1968), übernahm die Fatah die PLO,
und Arafat wurde der unbestrittene Anführer des ganzen
palästinensischen Kampfes.
Mitte der 60er-Jahre begann Yasser
Arafat mit seiner zweiten Revolution: mit dem bewaffneten Kampf
gegen Israel. Die Anmaßung war fast absurd: eine Handvoll schlecht
bewaffneter und deshalb nicht besonders wirksame Guerillas gegen
die mächtige israelische Armee. Es war auch nicht in einem Land
mit undurchdringlichem Dschungel oder schwer begehbaren
Gebirgsketten, sondern in einem schmalen, fast nur flachen,
dichtbevölkerten Landstrich. Aber dieser Kampf brachte die
palästinensische Sache auf die Agenda der Welt. Es muss offen
eingestanden werden: ohne die mörderischen Angriffe hätte die Welt
dem palästinensischen Ruf nach Freiheit keine Aufmerksamkeit
geschenkt.
Als Folge davon wurde die PLO als die
„einzige Vertretung des palästinensischen Volkes“ anerkannt, und
vor genau dreißig Jahren wurde Yasser Arafat eingeladen, seine
historische Rede vor der UN-Generalversammlung zu halten: „Heute kam
ich hierher, in der einen Hand den Ölzweig und in der anderen Hand
das Gewehr der Revolution. Lasst den grünen Zweig nicht aus meiner
Hand fallen!“
Für Arafat war der bewaffnete Kampf
nur ein Mittel – nicht mehr. Nicht Ideologie, nicht eine Sache per
se. Für ihn war klar, dass dieses Instrument das palästinensische
Volk stärken und so die Anerkennung der Welt gewinnen, dass es aber
nie Israel besiegen würde.
Der Yom Kippur-Krieg im Oktober 1973
veranlasste in seiner Zielsetzung eine neue Kehrtwende. Er sah, wie
die Armeen Ägyptens und Syriens nach einem glänzenden, anfänglich
überraschenden Sieg gestoppt und am Ende von der israelischen Armee
besiegt wurden. Das überzeugte ihn schließlich, Israel sei nicht
durch Waffengewalt zu überwältigen.
Deshalb fing Arafat unmittelbar nach
diesem Krieg seine dritte Revolution an: er entschied, die PLO
müsse mit Israel ein Abkommen erreichen und sich mit einem
palästinensischen Staat auf der Westbank und im Gazastreifen
zufrieden geben.
Nun war er mit einer historischen
Herausforderung konfrontiert. Er musste das palästinensische Volk
davon überzeugen, seinen historischen Standpunkt aufzugeben, nämlich
die Legitimität des Staates Israel zu leugnen, und sich nur mit den
restlichen 22% des Palästinagebietes von vor 1948 zufrieden zu
geben. Ohne dies ausdrücklich festzustellen, war es klar, dies habe
auch den Verzicht einer unbegrenzten Rückkehr von Flüchtlingen auf
das Gebiet Israels zur Folge.
Daran begann er auf seine ihm eigene
Weise zu arbeiten: mit Hartnäckigkeit, Ausdauer und Tricks - zwei
Schritte vorwärts, einen zurück. Wie ungeheuerlich diese Revolution
war, kann an einem Buch gesehen werden, das die PLO 1970 in Beirut
veröffentlichte, das in scharfer Weise die Zwei-Staaten-Lösung ( die
der „Avnery-Plan“ genannt wurde, weil ich damals sein
ausgesprochener Befürworter war) angriff.
Historische Gerechtigkeit verlangt,
klar zu stellen, dass es Arafat war, der das Oslo-Abkommen als
Vision zu einer Zeit vor Augen hatte, als Yitzhak Rabin und Shimon
Peres noch hoffnungslos an der „Jordanischen Option“ festhielten,
einer Überzeugung, dass man das palästinensische Volk ignorieren
und die Westbank an Jordanien zurückgeben kann. Von den drei
Nobelpreisträgern hat Arafat den Friedensnobelpreis am meisten
verdient.
Seit 1974 war ich Zeuge der enormen
Bemühungen, die Arafat investierte, um sein Volk dahin zu bringen,
diese neuen Wege mitzugehen. Nach und nach wurden sie vom
Palästinensischen Nationalrat, dem Parlament im Exil, akzeptiert.
Zunächst durch eine Resolution, die besagt, eine palästinensische
Behörde „in jedem von Israel befreiten Teil Palästinas“ aufzubauen
und 1988, einen palästinensischen Staat neben Israel zu errichten.
Arafats ( und unsere) Tragödie bestand
darin, dass, sobald er sich einer friedlichen Lösung näherte, die
israelische Regierung sich davon zurückzog. Seine
Mindestforderungen waren klar und blieben seit 1974 unverändert
dieselben: ein palästinensischer Staat auf der Westbank und im
Gazastreifen, palästinensische Herrschaft über Ost-Jerusalem (
einschließlich des Tempelberges - aber ohne die Klagemauer und das
jüdische Viertel); die Wiederherstellung der Grenzen von 1967 mit
der Möglichkeit von begrenztem, aber gleichwertigem Landaustausch;
Evakuierung aller israelischen Siedlungen auf palästinensischem
Gebiet und die Lösung des Flüchtlingsproblems in Abstimmung mit
Israel. Für Palästinenser ist dies das äußerste Minimum - mehr
können sie nicht aufgeben.
Vielleicht war Yitzhak Rabin am Ende
seines Lebens dem sehr nahe gekommen, als er im Fernsehen erklärte,
„Arafat sei sein Partner“. Alle seine Nachfolger wiesen dies zurück.
Sie waren nicht bereit, Siedlungen aufzugeben, im Gegenteil, sie
erweiterten sie unaufhörlich. Sie widersetzten sich jeder Bemühung,
eine endgültige Grenze festzusetzen, da ihre Vorstellung von
Zionismus eine ständige Ausdehnung fordert. Deshalb sahen sie in
Arafat einen gefährlichen Feind und versuchten, ihn mit allen
Mitteln, einschließlich einer unerhörten Kampagne der
Dämonisierung, zu vernichten. So Golda Meir („So etwas wie ein
palästinensisches Volk gibt es nicht“). So Menachem Begin
(„Zweibeiniges Tier... derMann mit den Haaren im Gesicht ... der
palästinensische Hitler“). So Binyamin Nethanyahu, so Ehud Barak
(„Ich habe ihm die Maske vom Gesicht gezogen“). So auch Ariel
Sharon, der ihn in Beirut zu töten plante und es seitdem immer
wieder versuchte.
Kein Befreiungskämpfer hat während des
letzten halben Jahrhunderts so ungeheure Hindernisse überwinden
müssen wie Arafat. Er war nicht mit einer üblichen gehassten
Kolonialmacht konfrontiert oder einer verachteten rassistischen
Minderheit, sondern mit einem Staat, der nach dem Holocaust entstand
und von der Sympathie und den Schuldgefühlen der Welt unterstützt
wurde. In jeder Hinsicht - in militärischer, wirtschaftlicher und
technologischer Hinsicht - ist die israelische Gesellschaft der
palästinensischen weit überlegen. Als er dazu aufgerufen wurde,
eine palästinensische Behörde aufzubauen, konnte er nicht wie
Nelson Mandela oder Fidel Castro einen vorhandenen Staatsapparat
übernehmen, sondern nur unzusammenhängende, verarmte Teile des
Landes, dessen Infrastruktur durch jahrzehntelange Besatzung
zerstört worden war. Er übernahm nicht eine Bevölkerung, die auf
ihrem Land lebte, sondern ein Volk, das zur Hälfte aus Flüchtlingen
besteht und in viele Länder zerstreut ist. Die andere Hälfte war
entlang politischen, wirtschaftlichen und religiösen Linien
zerrissen. All dies, während der Befreiungskampf weiterging.
Es ist Yasser Arafats historisches
Verdienst, alle Teile zusammen gehalten und unter diesen
Bedingungen nach und nach zu seinem Ziel geführt zu haben.
Große Menschen haben auch ihre
Schattenseiten. Eine davon war seine Neigung, alle Entscheidungen
alleine zu treffen, besonders nachdem alle seine engsten Mitstreiter
getötet worden waren. Einer seiner schärfsten Kritiker sagte
deshalb zu recht : „Es ist nicht sein Fehler. Wir sind es, die dafür
verantwortlich zu machen sind. Seit Jahrzehnten ist es unsere
Gewohnheit, vor allen schweren Entscheidungen, die Mut und Kühnheit
erforderten, davon zu laufen. Wir sagten immer: „Lasst Arafat
entscheiden!“ "
Und er entschied. Wie ein richtiger
Führer ging er voran und zog sein Volk mit. So stand er den
arabischen Führern gegenüber, so begann er den bewaffneten Kampf, so
streckte er gegenüber Israel die Hand zum Frieden entgegen. Wegen
seines Mutes hat er die Bewunderung und die Liebe seines Volkes
verdient – trotz aller Kritik.
Wenn Arafat stirbt, wird Israel einen
großen Feind verlieren, der ein großer Partner und Verbündeter hätte
werden können.
Mit den Jahren wird seine Gestalt im
historischen Gedächtnis immer mehr wachsen.
Was mich betrifft: ich achte ihn als
palästinensischen Patrioten; ich bewundere ihn für seinen Mut; ich
verstehe die Bedingungen, unter denen er arbeiten musste; ich sah in
ihm den Partner, mit dem man eine neue Zukunft für beide Völker
hätte bauen können. Ich war sein Freund.
So wie Hamlet über seinen Vater sagte:
„Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem; ich werde nimmer
seinesgleichen sehn.“
(Vgl. auch das Buch : Uri Avnery: "Mein Freund der Feind",
Dietzverlag 1988 ER)
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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