Die hundert Tage von Abu Mazen
Uri Avnery, 16.4.05
Am nächsten
Samstag sind es 100 Tage, dass Abu Mazen ( Mahmud Abbas) das Amt
des Präsidenten der Palästinensischen Nationalbehörde übernommen
hat - und die Juden werden Pessach im Gedenken an den Auszug aus
Ägypten, eine der großen Geschichten aus den Annalen der
Menschheit, feiern.
Nach Exodus 5
(2.Mos.5) befahl der Pharao den Kindern Israels, Ziegel mit
Häcksel zu produzieren, lieferte ihnen aber kein Häcksel. „Und
die Kinder Israels kamen und schrieen zum Pharao: Warum
verfährst du so mit deinen Knechten? Man gibt deinen Knechten
kein Häcksel und dennoch sollen wir Ziegel machen.“
Abu Mazen
könnte in dieselbe Klage einstimmen. Er ist aufgefordert worden,
die Aufgabe zu erfüllen, die er auf sich genommen hat, und
erhält nicht die geringste Unterstützung dazu.
Wie sieht nach
hundert Tagen die Bilanz von Abu Mazen aus?
In der
positiven Spalte gibt es einige eindrucksvolle
Errungenschaften.
Als erstes
allein die Existenz seines Regimes. Das ist schon ein
bemerkenswerter Erfolg an sich, der ignoriert wird, weil man
sich so daran gewöhnt hat.
Der plötzliche
( und noch immer nicht aufgeklärte) Tod von Yasser Arafat hätte
ein Chaos verursachen können. Stattdessen gab es einen
erstaunlich glatten Übergang zum nächsten Regime, und
demokratische Wahlen fanden ohne gewalttätige Zwischenfälle
statt. Sehr wenigen Völkern war dies nach dem Tod des Vaters der
Nation gelungen. Dem ganzen palästinensischen Volk muss dies
hoch angerechnet werden. Es begriff den Ernst der Stunde und
wahrte die Einheit hinter dem Nachfolger.
Das zweite
ist die Waffenruhe. Auch dies ist eine erstaunliche Leistung.
Die bewaffneten palästinensischen Organisationen (
„Widerstandsgruppen“ oder „Terrororganisationen“ je nach
Geschmack) waren gegenüber Israel mit einer Feuerpause
einverstanden – trotz der Tatsache, dass Israel ihnen gegenüber
nicht offiziell eine Feuerpause erklärte. Es stimmt, das
inoffizielle Abkommen wurde hier und da verletzt, manchmal von
den Israelis, manchmal von den Palästinensern. Doch im Großen
und Ganzen wurde es viel mehr beachtet, als man hätte erwarten
können.
Das ist nicht
die Folge von Schwäche bewaffneter Organisationen. Im
Gegenteil: es ist nur möglich, weil die Palästinenser ihre
Selbstachtung wieder erlangt haben. In den vier Jahren der 2.
Intifada zeigten Hundert und sogar Tausende von Kämpfern, dass
sie bereit waren, ihr Leben zu opfern. Sie besitzen
improvisierte Waffen wie Mörsergranaten und Kassam-Raketen, auf
die Israel noch keine Antwort gefunden hat. Unter diesen
Umständen wird die Waffenruhe nicht demütigend empfunden.
(Die
israelische Seite beschuldigt die Organisationen, diese Pause
zur Wiederbewaffnung zu nützen. Natürlich. Das gehört zu jeder
vorläufigen Feuerpause. Beide Seiten benützen sie als
Vorbereitung zur Wiederaufnahme des Kampfes.)
Drittens,
die schließlich erreichte Einheit. Die Übereinkunft von Hamas,
sich in die Palästinensische Behörde einzugliedern ( und
vielleicht auch in die PLO) und sich an den Wahlen zu
beteiligen, ist ein sehr wichtiger Schritt. Die Entstehung eines
nationalen Einvernehmens verheißt Gutes für den zukünftigen
palästinensischen Staat – besonders, da dies während eines
intensiven nationalen Befreiungskampfes geschieht.
Viertens:
die Veränderung der amerikanischen Haltung gegenüber dem
palästinensischen Volk. Dies sollte vielleicht als erstes in der
positiven Spalte stehen. Bis jetzt war die amerikanische
Haltung gegenüber dem israelisch-palästinensischen Konflikt
mindestens zu 100% zu Gunsten der Regierung Israels; jetzt gibt
es eine Veränderung zu Gunsten der Palästinenser. Die
amerikanische Unterstützung für die israelische Regierung ist
auf 90%, vielleicht sogar auf 80% gesunken.
Abu Mazens
Persönlichkeit ist ein beträchtlicher Teil dieser
Errungenschaften zu verdanken. Yasser Arafat, der Führer des
Befreiungskampfes, war eine kraftvolle, farbige, theatralische
Persönlichkeit, die blinde Bewunderung und glühenden Hass
hervorrief. Fast jeder in aller Welt kannte ihn als den Mann in
Khaki-Uniform und mit der Keffijeh als Kopfbedeckung. Abu Mazen
ist fast genau das Gegenteil: introvertiert, moderat, ohne
auffallendes Gehabe. Als ich ihn vor etwa 22 Jahren in Tunis
kennen lernte, trug er schon einen Anzug mit Krawatte. Er ruft
keine Opposition hervor. Er kämpft für seine Überzeugungen ohne
viel Aufhebens.
Vielleicht
hängen die negativen Punkte Abu Mazens auch mit diesen
Charakterzügen zusammen.
Arafat war
Befehlshaber. Abu Mazen ist Pädagoge.
Doch auch
Arafat war Übereinkunft lieber als Zwang. Das hängt mit einer
alten arabischen Weisheit zusammen, dem Prinzip, das „Idschma“
genannt wird. Die Diskussion geht so lange, bis ein Konsens mit
jedem einzelnen Teilnehmer erreicht wird. Für Abu Mazen ist dies
das Wichtigste.
Die ganze
Welt verlangt, dass er „Reformen“ durchführt. Es ist nicht ganz
klar, was die Welt damit zu tun hat oder was es den Präsidenten
der Vereinigten Staaten angeht, wie die Palästinenser ihre
Angelegenheiten regeln und wie viele Sicherheitsdienste sie
haben. (Arafat hatte absichtlich mehrere bewaffnete Dienste
eingerichtet, um die Konzentration von bewaffneter Macht in den
Händen einer Person zu verhindern, die versucht sein könnte,
einen Staatsstreich auszuführen.)
Von Abu Mazen
wird erwartet, die bewaffneten Organisationen in drei Diensten
zu konsolidieren. Das ist auf dem Papier leicht getan, aber
schwierig, in die Praxis umzusetzen. Es gibt viele Kommandeure,
und die meisten haben Untergeordnete, die ihnen treu ergeben
sind. Keiner sucht nach einer Gelegenheit, seinen Posten
aufzugeben.
Auf jeden Fall
ist es schwierig, die verlangten Reformen auszuführen. In jeder
arabischen Gesellschaft - und besonders in der
palästinensischen- spielt die Hamulah, die Sippe, eine große
Rolle. Jeder Versuch, sie bei der Umsetzung der Reformen zu
ignorieren, stößt auf starken Widerstand. Abu Mazen muss
langsam und vorsichtig vorgehen, um einen Konsens zu erreichen.
Das ist ein langer Prozess, der mehr auf Dauer angelegt ist,
denn auf schnelle Resultate.
Aber das größte
Versäumnis von Abu Mazen liegt in den Augen des Volkes auf
nationaler Ebene: in den ersten hundert Tagen hat er nicht eine
einzige bedeutsame Konzession erreicht, weder von Israel noch
von den USA.
Bush will ihm
wirklich helfen. Er lobt ihn öffentlich, weist Sharons
Bemühungen, ihn herabzusetzen zurück, schickt ihm geachtete
Botschafter. Aber nichts hat sich tatsächlich verändert: die
israelische Besatzung ist nicht erträglicher worden, die
täglichen Demütigungen an den Kontrollpunkten gehen weiter und
der Mauerbau auch. Kein einziger „Außenposten“ ist abgebaut
worden, die Siedlungen werden erweitert. Die israelische Armee
benimmt sich in der Westbank, als wäre nichts geschehen; hier
wird getötet, dort verhaftet. Es tut sich auch bei der
Entlassung von Häftlingen kaum etwas. Die Israelis verhalten
sich Palästinensern gegenüber im selben arroganten und
demütigenden Ton wie Militärgouverneure gegenüber ihren
Untertanen.
Wenn Bush über
einen „Palästinensischen Staat mit vorläufigen Grenzen“ spricht,
versteht jeder Palästinenser, dass damit eine permanente
Besatzung des größten Teils der Westbank gemeint ist. Sharons „
Abzug“ ist nach ihrem Verständnis ein Plan, der den
Gazastreifen in ein großes Gefängnis verwandelt, der von der
Welt und der Westbank abgeschnitten ist..
Früher oder
später wird die palästinensische Öffentlichkeit Abu Mazen
fragen: sind dies die Früchte der Waffenruhe? Ist das der
Gegenwert amerikanischer Schuldscheine?
Man muss sich
darüber keine Illusionen machen: genau das ist es, was Sharon
sich erhofft.
Für ihn stellt
Bush’s Sympathie für Abu Mazen eine große Gefahr dar. Es passt
ihm gar nicht, dass er die Gunst Amerikas mit einem
palästinensischen Führer teilt. Jede Schwankung in Washingtons
totaler Unterstützung für die israelische Regierung lässt in
Jerusalem ein rotes Warnlicht aufleuchten.
Sharon ist aber
zu klug, um Abu Mazen direkt anzugreifen. Das würde Bush wütend
machen. Deshalb heißt es jetzt: Abu Mazen ist zwar eine gute
Person, aber zu schwach. Sein Regime bricht zusammen. Er ist
verloren.
Verschiedene
Provokationen sind dafür bestimmt, gewalttätige Reaktionen
hervorzurufen, um Abu Mazens Schwäche deutlich zu machen.
Eine davon war die Ankündigung vom Bau 3500 neuer Wohneinheiten
bei der Siedlung Maale Adumim. Dasselbe gilt auch für die
Vorfälle, in der Palästinenser getötet wurden, ohne dass es
jemand für notwendig hielt, die Verantwortlichen zu strafen oder
sich für die Verletzung der Waffenruhe zu entschuldigen.
Im Augenblick
ist es noch nicht gelungen. Bush braucht Abu Mazen nicht
weniger, als Abu Mazen Bush benötigt. Der amerikanische
Präsident muss seinem Volk beweisen, dass seine militärischen
Abenteuer einen neuen, freien und demokratischen Nahen Osten
geschaffen haben. Da die Situation im Irak sich in Ungewissheit
hüllt, ist Abu Mazens demokratisches Regime das einzige
Beispiel, dessen er sich rühmen könnte ( auch wenn nicht klar
ist, welche Rolle Bush darin spielte.) Abu Mazens Kollaps wäre
für Bush ein großer Verlust.
Deshalb ist am
100. Tag von Abu Mazen die Bilanz unausgeglichen. Wie die
Kinder Israels muss er Ziegel ohne Häcksel produzieren.
Aber in der
biblischen Geschichte gibt es ein Happy-End: Die Kinder Israels
werden aus der Knechtschaft befreit.
Auf die eine
oder andere Weise wird dies auch den Palästinensern gelingen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |