Glaubt nicht ein einziges Wort!
Oder „ Wer einmal lügt, .....!“
Uri Avnery, 9.10.2004
Als Ariel Sharon
seinen Plan für einen „einseitigen“ Abzug aus dem Gazastreifen
verkündigte, berichteten die Medien, die Peace Now-Bewegung bereite
sich auf eine große öffentliche Kampagne vor, die den Plan
unterstütze. Das Büro des Ministerpräsidenten bat sie darum, davon
Abstand zu nehmen, da es fürchtete, solch eine Kampagne würde bei
der extremen Rechten Widerstand hervorrufen.
Peace Now war nicht
die einzige „linke“ Gruppe, die von dem Plan eingenommen war.
Die Führer der
Laborpartei erklärten, dies sei tatsächlich ihr eigener Plan und
es deshalb ihre Pflicht sei, sich der Regierung anzuschließen und
Sharon zu helfen, diesen Plan zu erfüllen.
Ich war einer der
wenigen, die sofort ihre Stimme gegen den Plan erhoben. (
www.gush-shalom.org/ archives/article282.html)
Ich argumentierte, dies sei in Wirklichkeit ein Plan des rechten
Flügels, damit der größte Teil der Westbank annektiert werden
könne, um den Friedensprozess zu begraben und die Öffentlichkeit in
Israel und im Ausland zu täuschen.
Ich war mir sicher,
weil ich Sharon kenne. Ich beobachtete den Mann seit 50 Jahren und
habe drei biographische Aufsätze über ihn geschrieben. Ich weiß, was
er denkt, und ich weiß, wie er handelt.
Nun hat Dov
Weissglass all dies und darüber hinaus noch mehr bestätigt, was ich
sagte. In einem Interview mit Haaretz (8.10.04 mit Ari Shavit)
erklärte er, das einzige Ziel des Planes sei, den Friedensprozess
„einzufrieren“. Der wirkliche Zweck des „Abzugs“ sei, die
Verhandlungen mit den Palästinensern für viele Jahre zu blockieren
und jede Diskussion über die Westbank zu verhindern – gleichzeitig
aber die israelischen Siedlungen in einer Weise auszudehnen, dass es
für einen zukünftigen palästinensischen Staat keine Möglichkeit mehr
gebe.
Dov Weissglass ist
nicht nur irgendwer. Er erinnert mich an die „graue Eminenz“ ( den
„grauen Kardinal“), an den Sekretär des Ministers Kardinal
Richelieu, der Frankreich vor 400 Jahren regierte. Es wurde damals
gemunkelt, eigentlich wäre er es, der die Fäden hinter der
politischen Bühne zöge..
Weissglas ist seit
Jahrzehnten der juristische Berater und nahe persönliche Freund
Sharons. Er ist Sharons Sonderbotschafter für penible Missionen, er
ist der Mann, der Condolezza Rice um den kleinen Finger wickelt. In
Sharons Menagerie ist er der Fuchs.
Sein offenes
Statement im Haaretz-Interview ist das letzte Wort. Es beschämt
nicht nur die einfältigen Seelen von Peace Now und die weniger
einfältigen Seelen von Shimon Peres & Co der Labourpartei, sondern
auch George W. Bush und die anderen Politiker weltweit, die
monatelang dieses Täuschungsmanöver für einen ernsthaften
Friedensplan gehalten haben (- der arme Colin Powell nannte ihn
sogar „historisch“).
* * *
Weissglass’
Enthüllung wetteiferte in den Medien mit dem „Tragbahren-Fall“ –
eine Geschichte, die auch Sharons Methode aufdeckt. Sie hätte
irgendwie lustig sein können, wenn sie nicht womöglich tragische
Folgen hätte haben können.
Sharon möchte die
UNWRA zerstören, das besondere Hilfswerk der Vereinten Nationen für
die palästinensischen Flüchtlinge, das das Elend von 4 Millionen
Menschen mildert. Es ist eine große Organisation mit etwa 25 000
Angestellten, einschließlich Lehrern, Sozialarbeitern und Ärzten -
fast alle von ihnen sind natürlich Palästinenser. Es versorgt die
Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Schulen, Gesundheitsdiensten und in
Notfällen mit einem Dach über dem Kopf. Ohne dieses wären die
Flüchtlinge längst in einen Abgrund von Hunger und Verzweiflung
geraten. Im Augenblick, während unsere Armee ganze Stadtteile im
Gazastreifen samt ihrer Infrastruktur zerstört, versorgt die UNWRA
auch die notleidenden Palästinenser, die keine Flüchtlinge sind, mit
Lebensmitteln, Zelten und Medikamenten.
Allein die Existenz
dieser Organisation stört Sharon und seine Generäle, die den
Widerstand der Palästinenser zu brechen wünschen, indem sie ihnen
das Leben zur Hölle machen. Nachdem sie systematisch versuchten, die
palästinensische Nationalbehörde zu zerschlagen, versuchen sie nun
die UNWRA zu vernichten. Wie in den Medien berichtet wurde, befahl
Sharon seinen Generälen, der Propaganda-Abteilung des
Außenministeriums geheime Armeephotos zukommen zu lassen, um damit
zu beweisen, das die UNWRA mit „Terrororganisationen“
zusammenarbeite.
Am nächsten Tag
zeigten alle Fernsehkanäle von Drohnen aufgenommene Luftaufnahmen,
die eine Qassam-Rakete zeigt, wie sie in einen UNRWA-Ambulanzwagen
geladen wird. Das war der Anfang einer wilden Kampagne gegen die
Organisation. Israelische Diplomaten in New York verlangten, dass
der dänische UNRWA-Direktor Peter Hansen gefeuert werde.
Zwei Tage später
platzte die ganze Sache. Die UNRWA behauptete, der Mann auf dem
Foto trage keine Rakete, sondern eine Tragbahre. Zunächst
leugneten die Generäle dies, dann stotterten sie, schließlich gaben
sie halbherzig zu, vielleicht sei ein bedauerlicher Fehler
unterlaufen: die professionellen Analysten des Nachrichtendienstes
der Armee, rangniedrige Feldwebel und Leutnants, könnten die
Bilder falsch interpretiert haben.
Diese Antwort muss
hinterfragt werden: haben die Analysten absichtlich gelogen, oder
haben sie wirklich geglaubt, was sie sagten? Die eine Möglichkeit
ist so schlimm wie die andere.
Wenn Experten
lügen, dann tun sie nichts Ungewöhnliches. Man könnte sagen, sie
tun das, was Leute vom Nachrichtendienst weltweit tun. Sie versorgen
ihre Bosse mit der Information, die sie gerne hören wollen. Bush
wollte den Irak angreifen? Der CIA besorgte Informationen über
Saddam Husseins Massenvernichtungsmittel. Sharon will die UNRWA
zerstören? Der Nachrichtendienst besorgt Fotos über die
Raketenwerfer von Peter Hansen.
Als vor 50 Jahren
ausländische Korrespondenten mich über die Glaubwürdigkeit der
offiziellen IDF-Statements befragten, pflegte ich zu sagen, unsere
Armee lüge nicht. Man sollte ihren Kommuniques glauben, solange
nicht das Gegenteil bewiesen wird. Diese Zeiten sind längst vorbei.
Wenn mir heute dieselbe Frage gestellt wird, rate ich, nicht ein
einziges Wort von Armeemeldungen zu glauben, solange nicht das
Gegenteil bewiesen wird.
Deshalb ist es
keine Überraschung, dass der Nachrichtendienst lügt. In zahllosen
Auftritten vor dem Kabinett und dem Außen-und-Sicherheitskomittee
der Knesset haben die Chefs des Nachrichtendienstes Lügen und
falsche Einschätzungen verbreitet. Das ist nichts Neues.
Da gibt es
allerdings noch die Möglichkeit, die Analysten seien davon
überzeugt, sie hätten die wahre Information weitergaben. Das wäre
sogar noch erschreckender.
Man muss kein
Experte sein, um festzustellen, dass der Mann auf dem besagten Foto
keinen Raketenwerfer trägt. Keiner trägt ein schweres Gerät mit
einer Hand, so wie die Person auf dem Foto. Es ist ganz klar: sie
trägt einen leichten Gegenstand. Ein zweiter Blick darauf zeigt, es
ist zweifellos tatsächlich eine Tragbare. Er sieht wie eine Tragbare
aus, und der Mann trägt sie wie eine Tragbare.
Wenn die Experten
einen Fehler machten, warum ist das so schrecklich? Es ist deshalb
schrecklich, weil die Luftkräfte oft eine von den selben
Foto-Analysten identifizierte „Raketenwerfertruppe“, bombardierten;
denn innerhalb von Sekunden werden solche Nachrichten
weitergeleitet, und innerhalb von Sekunden wird auf diese Weise Tod
verursacht. Danach verkündet der Armeesprecher mit großer
Befriedigung, dass wieder eine todbringende Truppe eliminiert
wurde. Wie viele Menschen, einschließlich Kindern, sind auf Grund
dieser „sicheren Identifizierungen“ getötet worden?
Was noch schlimmer
ist: diese speziellen „Fehler“ fordern Soldaten praktisch dazu auf,
auf Ambulanzen zu schießen, die Verwundete transportieren.
Peter Hansen traf
ich nur einmal bei einer UN-Konferenz über Flüchtlinge. Er
beeindruckte mich als dezente Person mit hohen Grundsätzen. Ich
hoffe, er bleibt auf seinem Posten.
*
* *
Ein Todesfall durch
„sichere Identifizierung“ in dieser Woche sollte die Welt
aufgeschreckt haben.
Iman Alhamas, ein
13 jähriges Mädchen aus Rafah, war wie jeden Tag auf seinem
üblichen Schulweg. Plötzlich wurde sie von gezielten Schüssen
eingeschlossen. Die Ärzte holten 20 Kugeln aus ihrem Körper. Da
nicht jede Kugel ihr Ziel erreicht und einige einfach durchgehen,
mögen es wenigstens 100 Kugeln gewesen sein, die auf sie von
verschiedenen Positionen abgefeuert worden waren. – einhundert
Kugeln für ein kleines Mädchen. In ihrer Schultasche befanden sich
nur Schulbücher.
Der Armeesprecher
veröffentlichte das verlogene Routinestatement: das Mädchen hätte
eine „verbotene Zone“ betreten, die Soldaten hielten sie für eine
„Terroristin“; die Tasche hätte ausgesehen, als enthalte sie
Sprengstoff etc. etc.
Und wie sah die
Wirklichkeit aus?
Die einfachste
Erklärung: die Soldaten schossen, als wären sie wie auf einem
Schießstand, und sie schossen aus Rache für die beiden Kinder, die
in der israelischen Stadt Sderot durch eine Qassam-Rakete getötet
worden waren. Aber das ist unglaubwürdig.
Eine andere, nicht
weniger alarmierende Erklärung: die Soldaten sind in einem ständigen
Zustand von Panik. Ich habe in meinem Leben Soldaten in Panik
gesehen, die auf alles schossen, was sich bewegte. Vielleicht war es
dies, was hier passierte. Das Mädchen warf seine Schultasche weg und
begann wegzurennen, als ein Warnschuss abgefeuert wurde – und die
Soldaten, statt auf die Schultasche zu schießen, schossen auf sie.
*
* *
Die skeptische
Haltung der israelischen Öffentlichkeit gegenüber Ankündigungen des
Sicherheitsapparates verursachte in dieser Woche eine andere
Tragödie.
Am Vorabend zum
jüdischen Neujahrsfest riet der Sicherheitsdienst der
Öffentlichkeit wegen ernster Sicherheitswarnungen, nicht in den
Sinai zu fahren. Die Menschen stimmten mit den Füßen ab – sie
glaubten den Warnungen einfach nicht. Trotz wiederholter Warnungen
verbrachten Zehntausende die jüdischen Feiertage im Sinai. Sie waren
davon überzeugt, die Warnung habe politische Gründe, und falls die
Drohung ernst gewesen wäre, die Behörden die Grenze geschlossen
hätten.
Dieses Mal jedoch
waren die Warnungen gerechtfertigt. Viele Dutzende wurden bei
Massenattentaten getötet und verwundet.
Keine
palästinensische Organisation hätte daran gedacht, die ägyptische
Regierung zu provozieren. Deshalb sieht es so aus, als ob etwas
Neues passiert wäre.
Wir haben viele
Male davor gewarnt, die junge arabische und muslimische Generation
der Welt werde nicht auf immer zusehen , während jeden Tag das
Fernsehen zeigt, wie das arabische Volk gedemütigt wird. Die Apathie
der arabischen und muslimischen Regierungen gegenüber dem Geschehen
in den besetzten palästinensischen Gebieten sieht in ihren Augen
wie Feigheit aus, die nichts gegen die Demütigung unternimmt, oder
wie ein widerlicher Verrat.
Die Misshandlung
des palästinensischen Volkes durch Sharon und seine Vorgänger hat
eine explosive Situation geschaffen. Die Invasion des Irak durch
Bush hat den Funken geliefert. Eine arabisch-muslimische
Widerstandsbewegung hat sich entwickelt, ein Widerstand, der keinen
Unterschied zwischen dem Irak und Palästina macht und keinen
zwischen Israel, den USA und den arabischen Regierungen.
Das scheint die
Botschaft von Taba zu sein.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |