Stimmen aus dem Gefängnis
Uri Avnery, 13.5.06
DAS
GEFÄNGNIS erfüllt in den Annalen jeder
Revolutionsbewegung eine wichtige Funktion. Natürlich
sind die Bedingungen in den Gefängnissen schlimm, aber
es dient als Schulungsstätte für Aktivisten, als Zentrum
zur Kristallisation von Ideen, als Sammelplatz für
Führer, als Plattform für Dialog zwischen den
verschiedenen Fraktionen.
Für
die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO)
spielt das Gefängnis all diese Rollen und noch viel
mehr. Während der 39 Jahre Besatzung sind
Hunderttausende junger Palästinenser durch israelische
Gefängnisse gegangen. Zu jeder Zeit werden
durchschnittlich 10 000 Palästinenser in Gefängnissen
gehalten. Dies ist der lebendigste und aktivste Teil des
palästinensischen Volkes. Er schließt Menschen aus
jeder Bevölkerungsklasse, jeder Stadt und jedem Dorf,
jeder politischen und militärischen Fraktion ein.
Gefangene haben eine Menge Zeit. Sie haben die
Möglichkeit zu lernen, nachzudenken, Seminare zu
organisieren, sich vollberuflich auf die Probleme ihres
Volkes zu konzentrieren, Ansichten auszutauschen,
Lösungen auszuarbeiten.
Um
eine Explosion zu verhindern, erlauben die
Gefängnisbehörden diesen Gefangenen ein großes Maß an
Zusammenleben und Selbstregierung. Dies ist eine weise
Politik. Praktisch sehen die Gefängnisse wie
Kriegsgefangenenlager aus. Zusammenstöße zwischen den
Gefangenen und den Gefängnisbehörden sind
verhältnismäßig selten.
EINE
DER Folgen ist, dass die Insassen des Gefängnisses
Hebräisch lernen. Sie sehen israelisches Fernsehen,
hören israelisches Radio, werden mit der israelischen
Lebensweise vertraut. Sie werden auf keinen Fall
Zionisten, lernen aber die israelische Realität kennen
und sogar einige seiner Elemente schätzen, z.B. die
israelische Demokratie. „Was uns am besten gefiel“,
sagte mir einmal ein Ex-Gefangener, „waren die Debatten
in der Knesset, die wir im Fernsehen verfolgten. Als wir
sahen, wie Knessetmitglieder den Ministerpräsidenten
anschrieen und Mitglieder der Regierung verfluchten,
waren wir wirklich begeistert. Wo gibt es so etwas in
der arabischen Welt?“
Dies
wurde besonders deutlich, als Yasser Arafat und seine
Leute nach Palästina zurückkamen. Die ständige
Kontroverse zwischen den Rückkehrern aus Tunesien und
„den Leuten von drinnen“ war nicht nur eine Folge des
Generationenwechsels, sondern auch der Unterschied der
Ansichten. Arafat und seine Leute hatten niemals in
einer Demokratie gelebt. Wenn sie an einen zukünftigen
palästinensischen Staat dachten, hatten sie das
Regierungssystem Jordaniens, Ägyptens, Tunesiens und des
Libanon vor Augen. Sie waren überrascht, als die jungen
Leute, angeführt von den Ex-Gefangenen, auf das
israelische Modell hinwiesen.
Es
war kein Zufall, das fast alle meine palästinensischen
Freunde Ex-Gefangene sind, die lange Zeit im Gefängnis
verbrachten, manche 12 oder sogar 20 Jahre. Ich fragte
mich immer, wie ist es möglich, dass sie nicht
verbittert sind. Die meisten von ihnen glaubten, dass
Frieden mit Israel möglich und notwendig sei. Deshalb
unterstützten viele aus ganzem Herzen die
Friedenspolitik Arafats, auch wenn sie seine
Regierungsform kritisierten.
Nebenbei bemerkt, spiegelt die Einstellung der
Ex-Gefangenen die Gefangenenbehörden irgendwie positiv
wieder. Viele der Gefangenen sind während der Verhörzeit
Folterungen durch den Geheimdienst (Shin Bet) ausgesetzt
gewesen; aber nachdem sie im Gefängnis ankamen, hat die
Behandlung dort bei vielen keine psychischen Narben
hinterlassen.
ALL
DIES ist eine Hinführung zum zentralen Ereignis dieser
Woche: ein Abkommen, das im Gefängnis von Vertretern
aller palästinensischen Fraktionen erreicht wurde.
Es
ist ein Dokument von größter Bedeutung für die
Palästinenser, einmal wegen der Identität seiner Autoren
und zum anderen wegen seines Inhaltes.
Im
Augenblick sind viele Führer der verschiedenen
palästinensischen Fraktionen im Gefängnis : von Marwan
Bargouti, dem Führer der Fatah in der Westbank bis
Scheich Abd-al-Khalak al-Natshe, einem ranghohen
Hamasführer. Mit ihnen zusammen sind die Führer des
Islamischen Jihad, der Volksfront und der Demokratischen
Front im Gefängnis. Sie sind fortwährend im Dialog mit
einander, während sie auch ständigen Kontakt zu den
Führern ihrer Organisationen außerhalb und mit den
Leuten im Gefängnis halten. Nur Gott weiß, auf welche
Weise.
Wenn
die Führer der Gefangenen mit einer Stimme sprechen, so
hat dies ein größeres moralisches Gewicht als die
Statements jeder anderen palästinensischen Institution,
einschließlich des Präsidenten, des Parlaments und der
Regierung.
MIT
DIESEM Hintergrund sollte das faszinierende Dokument
geprüft werden.
Im
Allgemeinen folgt es der Politik Yasser Arafats: die
Zwei-Staaten-Lösung, ein palästinensischer Staat in
allen 1967 besetzten Gebieten mit Ost-Jerusalem als
seine Hauptstadt, die Entlassung aller palästinensischen
Gefangenen. Das ist praktisch natürlich die Anerkennung
Israels.
Für
die israelische Öffentlichkeit ist der problematischste
Teil gewöhnlich das Flüchtlingsproblem. Kein
palästinensischer Führer kann das Recht auf Rückkehr
aufgeben – und auch dieses Dokument nennt diese
Forderung. Praktisch erkennen die Palästinenser die
Tatsache an, dass dieses Problem nur in Überseinstimmung
mit Israel gelöst werden kann. Das heißt, dass die
Rückkehr nach Israel notwendigerweise nur einer sehr
begrenzten Anzahl gestattet werden kann und dass der
größere Teil der Lösung in einer Rückkehr in den
palästinensischen Staat und die Zahlung von
Kompensationen liegt. Es gibt einen Unterschied zwischen
der Anerkennung des Rechtes auf Rückkehr im Prinzip als
ein Menschenrecht und die praktische Ausführung dieses
Rechtes in der realen Welt.
Ein
wichtiger Teil des Dokumentes befasst sich mit dem
In-Ordnung-bringen des palästinensischen Hauses. Die
Körperschaft, die das ganze palästinensische Volk
innerhalb und außerhalb des Landes vertritt, ist die
PLO. Das ist auch die Körperschaft, die alle Abkommen
mit Israel unterzeichnet hat. Aber die PLO ist im
Augenblick weit davon entfernt, der innenpolitischen
Realität zu entsprechen. Hamas, die zu Beginn der
1.Intifada entstand, ist nicht vertreten. Dasselbe gilt
für den Islamischen Jihad. Das Dokument fordert, dass
beide in der PLO vertreten sind – eine vernünftige und
weise Forderung. Es ruft auch zu neuen Wahlen für das
all-palästinensische Parlament auf - der
palästinensische Nationalrat - und für eine nationale
Einheitsregierung.
DAS
GEFÄNGNISabkommen könnte Hamas helfen, mit der neuen
Realität fertig zu werden – und das ist wahrscheinlich
das Hauptmotiv seiner Autoren. Der sagenhafte Sieg von
Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen war
nicht nur für Israel und die Welt eine Überraschung,
sondern auch für Hamas selbst. Die Bewegung war
vollkommen unvorbereitet, um die Verantwortung der
Regierung zu übernehmen. Die neue Situation schuf einen
Ernst zu nehmenden Widerspruch zwischen der Ideologie
von Hamas und den Erfordernissen einer Regierungspartei.
Wie Sharon sagte: „Was man von hier sieht, sieht man
nicht von dort.“
Dieser Widerspruch findet seinen Ausdruck in den
Erklärungen verschiedener Führer der Hamas. Das ist
keine Doppelzüngigkeit, sondern eher ein Ausdruck
verschiedener Reaktionen gegenüber einer neuen
Realität. Der Gesichtspunkt von Khaled Mashal in
Damaskus ist notwendigerweise ganz anders als der
Gesichtspunkt von Ismail Hanijeh, dem neuen
Ministerpräsidenten in Gaza. Politische und militärische
Führer sehen die Dinge oft verschieden.
Es
ist eine normale Verwirrung und wahrscheinlich wird
einige Zeit vergehen, bis ein Konsens erreicht und eine
gemeinsame Position definiert wird. Deshalb ist es kein
Wunder, wenn die Führer Meinungen von sich geben, die
einander widersprechen. Da kann man jemanden sehen, der
im israelischen Fernsehen mit viel Pathos erklärt, dass
„wir nicht nur Jerusalem zurückfordern, sondern auch
Haifa, Besan und Tiberias“, während ein anderer
behauptet, dass die Bewegung „ Israel nicht anerkennen
wird, bis es nicht zu den Grenzen von vor 1967
zurückkehrt“ und ein „nein“ stillschweigend ein „ja“
mit einschließt.
Das
Gefängnisabkommen ist dafür bestimmt, einen neuen
Konsens zu schaffen, der Hamas helfen sollte, eine
Politik auszuführen, die auf einem Kompromiss zwischen
der Ideologie und Theologie der Bewegung und den
Erfordernissen des palästinensischen Volkes begründet
ist.
Die
mögliche Linie: die von Mahmoud Abbas angeführte PLO
wird die Verhandlungen mit Israel führen und das
Abkommen (falls es eines gibt) zur Annerkennung durch
ein palästinensisches Referendum präsentieren. Hamas
wird im voraus solch ein Ergebnis akzeptieren.
Gleichzeitig wird Hamas einen Waffenstillstand für viele
Jahre erklären, der ein Ende der Gewalt auf beiden
Seiten erlaubt.
DAS
IST möglich. Die Frage ist allerdings, ob die
israelische Regierung dies wünscht. Im Augenblick sieht
es nicht so aus.
Offen ruft sie dazu auf, die „endgültige Grenze“ Israels
einseitig zu definieren, was mit der Annexion großer
Teile der (besetzten) Gebiete verbunden ist. Für solch
eine Politik ist eine Situation des „keinen Partner
haben“ notwendig. Das heißt, dass die Regierung jedes
Dokument zurückweisen wird, das einen glaubwürdigen
Partner schafft, der auch von der Weltgemeinschaft
akzeptiert werden würde.
Während des Schau-Prozesses von Marwan Barghouti standen
meine Kollegen und ich außerhalb der Gerichtshalle und
hielten ein Poster, auf dem stand: „Schickt Barghouti an
den Verhandlungstisch und nicht ins Gefängnis!“ Aber
vielleicht kann das Erscheinen dieses Dokumentes denken
lassen, dass ihn ins Gefängnis zu schicken, der größte
Gefallen war, den die israelische Regierung ihm und dem
palästinensischen Volk hatte antun können.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
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