Mitleid mit einem Waisenknaben
Uri Avnery, 21.1.06
Es war ein farbenprächtiger Tag in Bil’in. In vielen
Farben flatterten politische Fahnen im frischen Wind, die
leuchtenden Wahlposter und die bunten Graffiti an den Mauern taten
ihr Übriges. Es war seit langer Zeit die größte Demonstration in dem
belagerten Dorf. In dieser Woche war der Protest gegen die
Mauer-Zaunanlage mit palästinensischer Wahlkampagne verquickt.
Glücklich marschierte ich bei
sonnigem Winterwetter und hielt das Gush-Shalom-Emblem hoch, das die
israelische und die palästinensische Flagge neben einander zeigt.
Als wir uns der Linie der auf uns wartenden und bewaffneten Soldaten
näherten, wurde mir auf einmal bewusst, dass ich von grünen
Hamasflaggen umgeben war.
Gewöhnliche Israelis hätte es wohl
umgehauen. Was, die mörderischen Terroristen marschierten in einer
Linie mit israelischen Friedensaktivisten? Israelis marschierten,
redeten und machten Spaß mit potentiellen Selbstmordattentätern ?
Unmöglich!
Aber es war ganz normal und
natürlich. Alle palästinensischen Parteien nahmen an der Demo teil –
zusammen mit israelischen und internationalen Aktivisten. Zusammen
rannten sie vor den Tränengaswolken weg, brachen zusammen durch die
Linie der Soldaten, wurden gemeinsam zusammengeschlagen. Die grünen
Fahnen von Hamas, die gelben von Fatah, die roten der Demokratischen
Front und das Blau-weiße der israelischen Flagge auf unserm Emblem
harmonierten mit einander – genau wie die Leute, die sie trugen.
Am Ende improvisierten viele von
ihnen eine Art Protest-Konzert. Am eisernen Sicherheitsgitter
entlang standen Israelis und Palästinenser und schlugen rhythmisch
mit Steinen darauf und produzierten etwas wie ein afrikanisches
Trommel-tam-tam, das noch meilenweit gehört werden konnte. Die
orthodoxen Siedler im nahen Modiin-Illit müssen sich gefragt haben,
was dies bedeuten möge.
Die Teilnahme aller palästinensischen Parteien war an sich schon
ein bedeutendes Phänomen.
Es war zweifellos durch die
palästinensischen Wahlen ermutigt worden, die am kommenden Mittwoch
stattfinden. Es war seltsam, dieselben Gesichter auf Postern entlang
unseres Weges zu sehen und gleichzeitig als Gesichter von Lebenden
unter uns in der Menge.
Es zeigte aber auch, welche
Bedeutung diese Mauer-Zaun-Anlage in den Augen der Palästinenser
hat.
Vor Jahren, als der Bau der
Zaun-Mauer-Anlage gerade begonnen hatte, besuchte ich Yassir Arafat
und schlug ihm einen gemeinsamen Kampf dagegen vor. Ich hatte den
Eindruck, dass der Gedanke, die Mauer könne eine ernsthafte Gefahr
sein, für ihn ganz neu war. Das palästinensische Establishment hatte
noch nicht seine Bedeutung begriffen. Nun steht sie ganz oben auf
der nationalen Agenda.
In der vergangenen Woche, am
Vorabend zu den Wahlen, bei denen erwartet wird, Hamas werde
einen bedeutenden Anteil der Stimmen erhalten, ist das Bild von
Hamas-Aktivisten, die Seite an Seite mit israelischen
Friedensaktivisten marschieren, sehr wichtig. Denn bald wird Hamas
im palästinensischen Parlament vertreten sein und vielleicht auch in
der Regierung.
Condoleezza Rice kritisierte wegen der Teilnahme von „Terroristen“
die Wahlen scharf und wiederholte so das Statement ihrer neuen
israelischen Kollegin Zipi Livni, die erklärte, das seien keine
„demokratischen Wahlen“ wegen der Teilnahme von Hamas.
Es stellt sich heraus, dass dies ein
neuer Vorwand für unsere Regierung ist, nicht mit der gewählten
palästinensischen Führung zu verhandeln. Die Vorwände wechseln
häufig – der Zweck bleibt derselbe.
Zunächst wurde behauptet, Israel
würde nicht verhandeln, bevor der neue Präsident Mahmoud Abbas die
„terroristische Infrastruktur“ nicht demontiert hätte. Das wäre
tatsächlich nach der Road Map eine Verpflichtung gewesen – aber es
wäre auch die Verpflichtung von Ariel Sharon gewesen, gleichzeitig
etwa Hundert Siedlungen, die er errichtet hatte, nachdem er zur
Macht gekommen war, abzubauen, was er vollkommen ignorierte.
Dann kam die Behauptung, die
Palästinensische Behörde sei in einem Zustand der Anarchie. Wie kann
man mit einer Anarchie verhandeln?
Und nun kommt die Behauptung, man
könne von Israel unmöglich erwarten, mit einer palästinensischen
Führung zu verhandeln, die Hamas einschließt, eine Organisation, die
so viele Selbstmordanschläge ausgeführt hat und mindestens
offiziell die Existenz Israels nicht anerkennt.
Die Vorwände sind mannigfaltig, und
es können – wenn nötig - noch mehr erfunden werden.
( das erinnert mich an meinen
verstorbenen Freund Natan Yellin-Mor, früherer Führer der
„Stern-Bande“ - eine jüdische terroristische Untergundorganisation
von vor 1948 - und späterer Friedensaktivist, der sagte: „Ich
wünschte, Gott würde mir so viele Versuchungen in den Weg legen, wie
ich Vorwände hätte, ihnen nachzugeben.“)
Hamas’ Präsenz in der
nächsten palästinensischen Regierung ist kein Grund,
Friedensverhandlungen zurückzuweisen. Ganz im Gegenteil. Es wäre ein
zwingender Grund, endlich mit ihnen zu beginnen. Das würde heißen,
dass wir mit dem ganzen palästinensischen Spektrum (außer der
kleinen Jihad-Organisation) verhandeln würden. Falls Hamas sich der
Regierung auf der Basis von Mahmoud Abbas’ Friedenspolitik
anschließen würde, dann ist sie offenkundig reif für Verhandlungen –
mit oder ohne Waffen – auf der Basis eines Waffenstillstandes
(Hudnah).
Als ich vor dreißig Jahren geheime
Kontakte mit der PLO-Führung begann, war ich fast die einzige Person
in Israel, die vorschlug, mit der Organisation zu verhandeln, die
damals offiziell als „terroristisch“ bezeichnet wurde. Es dauerte
noch 20 Jahre, bis die israelische Regierung meine Ansicht annahm.
Nun beginnt dieses Spiel von vorne.
Warum weigern sich palästinensische
Organisationen, ihre Waffen abzugeben? Täuschen wir uns nicht: für
die meisten Palästinenser sind diese Waffen eine Art strategische
Reserve. Wenn Verhandlungen mit Israel zu nichts führen, wird der
bewaffnete Kampf wahrscheinlich wieder aufgenommen. Hat man so etwas
nicht schon einmal gehört? (z.B. von Irland)
Selbst wenn Mahmoud Abbas bereit wäre, Hamas zu entwaffnen,
könnte er es nicht. Seine schwache Position, verbunden mit der
Schwäche seiner Fatah-Bewegung, machen solche Maßnahmen unmöglich.
Seine Schwäche, die auch in der
Anarchie ihren Ausdruck findet, hat vor allem eine Ursache: die
verschlagene Bemühung Sharons, seine Position zu untergraben.
Ich habe darauf mehr als einmal
hingewiesen: für Sharon stellte Abbas’ Aufstieg eine ernsthafte
Gefahr dar. Von Präsident Bush als ein Beispiel seines Erfolges
hingestellt, das Demokratie und Frieden in den Nahen Osten bringe,
bedrohte er die exklusive Beziehung zwischen den USA und Israel;
womöglich bereitete dies auch den Weg für amerikanischen Druck auf
Israel vor.
Um dies zu verhindern, verweigerte
Sharon Abbas selbst die geringsten politischen Konzessionen, wie
die Entlassung von Gefangenen ( Marwan Barghouti z.B.), eine
Veränderung des Mauerverlaufs, das Einfrieren des Siedlungsbaus, den
Rückzug aus dem Gazastreifen in Abstimmung mit Abbas etc. Diese
Kampagne war erfolgreich. Die Autorität war so bedeutend geschwächt
worden.
Nun nützen Sharons Nachfolger genau
diese Schwäche als Vorwand aus, um ernsthafte Verhandlungen mit ihm
und der nächsten palästinensischen Regierung zurückzuweisen. Mich
erinnert das an die Geschichte von dem Burschen, der seine beiden
Eltern umgebracht hatte und bei Gericht um Gnade flehte: „Haben Sie
doch Mitleid mit einem Waisenknaben!“.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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