Des Teufels Pferdefuß
Uri Avnery, 23.8.08
ICH WAR erschrocken, als ich die Schlagzeile in Haaretz las. Sie
zitierte Sari Nusseibeh: „Es gibt keinen Platz für zwei“, womit
gemeint war : zwei Staaten zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan.
Was? Hat Nusseibeh seine Unterstützung für eine Lösung aufgegeben,
die auf Koexistenz zwischen einem Staat Israel und einem Staat
Palästina beruht?
Ich las das lange Interview, dass Akiva Eldar gegeben wurde und
beruhigte mich. Ich beruhigte mich, war aber gleichzeitig verärgert.
Weil die Schlagzeile eine grobe Verfälschung war. Sie hatte nichts
mit dem zu tun, was im Interview gesagt worden war. Und da viele
Leute nur die Überschrift lesen und sich nicht die Mühe machen, den
Text darunter zu lesen, ist dieses eine Täuschung.
Wie passieren solche Dinge? In Haaretz – wie in vielen anderen
Zeitungen - ist es die Regel, dass die Überschriften nicht von den
Autoren gemacht werden, sondern vom Redakteur der Seite. Dies kann
zu äußerst missverständlichen Überschriften führen – entweder durch
Ignoranz, Nachlässigkeit oder Böswilligkeit.
Dieses Mal ist die Sache und die Person so wichtig, dass man nicht
stillschweigend darüber hinweg gehen kann.
EIN FAIRES Geständnis: Ich mag Sari Nusseibeh sehr. Wir sind einmal
Arm in Arm an der Spitze einer Demonstration in der Altstadt
Jerusalems gegangen. Wir teilten uns in Deutschland einen
Friedenspreis (2003 den Lev Kopelev-Preis in Köln, der nach dem
vertriebenen russischen Menschenrechtsaktivisten genannt wurde).
Ich kannte seinen Vater, Anwar Nusseibeh, einen wahren
palästinensischen Aristokraten, der während der jordanischen
Besatzung als jordanischer Verteidigungsminister und Botschafter in
London seinen Dienst tat. Bald nach Beginn der israelischen
Besatzung fragte ich ihn im Vertrauen, ob er lieber die jordanische
Herrschaft zurück haben möchte oder ob er lieber einen unabhängigen
palästinensischen Staat hätte. Er sagte mir unzweideutig, dass er
das letztere vorziehen würde.
Sari genoss eine britische und palästinensische Erziehung. Manche
Leute halten ihn für unnahbar und sogar für anmaßend. Ich kenne ihn
aber als sensible und bescheidene Person. Er ist sehr mutig
-moralisch wie auch physisch - der häufig sehr unpopuläre Ansichten
äußert. Aus diesem Grund ist er schon mehrfach verprügelt worden.
Vor fünf Jahren veröffentlichte er zusammen mit dem israelischen
Admiral (und gegenwärtigen Minister ohne Geschäftsbereich) Ami
Ayalon einen eindeutigen Friedensplan mit der Vision der Errichtung
eines palästinensischen Staates Seite an Seite mit Israel mit einer
Grenze, die sich etwa an die Grüne Linie hält, und mit Jerusalem als
Hauptstadt beider Staaten. Der Plan war nicht viel anders als der
vorausgegangene Gush-Shalom-Friedensplan und die spätere „Genfer
Initiative“.
Deshalb war ich geschockt, als ich die Überschrift sah. Hat es sein
können, dass Nusseibeh den zentralen Schwerpunkt seiner
Zukunftsaussichten aufgegeben hat?
IM
INTERVIEW sagt Nusseibeh etwas völlig anderes. Nicht nur, dass er
das nicht sagte – „es gibt keinen Platz für zwei“ – sondern im
Gegenteil, er lobt die Zwei-Staaten-Lösung als die beste praktische
Lösung. Jedoch warnt er die Israelis: auf Grund der rapiden
Expansion der Siedlungen läuft die Zeit für diese Lösung davon. Er
setzt sogar eine Zeitgrenze fest: Ende 2008.
Das kommt einem Ultimatum gleich: wenn die Israelis diese noch
vorhandene Gelegenheit verpassen, wenn sie in Ost-Jerusalem und auf
der Westbank die Siedlungsbautätigkeit weiterhin so beschleunigen,
werden die Palästinenser dieser Lösung den Rücken zukehren .
Stattdessen werden sie die Annexion der besetzten Gebiete an
Israel annehmen d.h. Israels Herrschaft über das ganze Land
zwischen dem Meer und dem Fluss, und sie werden für die gleichen
zivilen Rechte innerhalb des Staates kämpfen.
Nusseibeh hält die demographische Pistole an die Schläfe der
israelischen Öffentlichkeit. Er sagt ihnen in der Praxis werden in
solch einem Staat die Palästinenser eine große Minderheit sein. Ihr
Kampf für Gleichheit wird Israel zwingen, ihnen am Ende die volle
Staatsbürgerschaft zu geben. Innerhalb weniger Jahre werden die
arabischen Bürger die Mehrheit darstellen. Dann ist der zionistische
Traum ausgeträumt. Der jüdische Staat ist gestorben. (Zipi Livni
sagt übrigens im Großen und Ganzen dasselbe).
Nusseibeh kennt die Israelis gut. Er weiß, dass die demographische
Obsession sie verrückt macht. Der demographische Dämon verfolgt sie
bis in ihre Träume. Die erregte Debatte über dieses Problem
beherrscht den israelischen Diskurs. Er glaubt deshalb, dass diese
Drohung die Israelis zwingen wird, sich zu beeilen und der
Zwei-Staaten-Lösung zuzustimmen. Das ist das Hauptziel des
Interviews.
MIT ALLEM gebührendem Respekt vor und aus Freundschaft gegenüber
Nusseibeh glaube ich, dass diese Taktik unklug ist – sogar sehr
unklug.
In
seinen Augen und in den Augen einiger Intellektueller auf beiden
Seiten gibt es nur zwei Möglichkeiten: die „Zwei-Staaten-Lösung“
oder die „Ein-Staat-Lösung“. Ein palästinensischer Staat neben
Israel oder der bi-nationale Staat, in dem allen Bürgern, den Juden
und Arabern, die gleichen Rechte zugesichert werden.
Das ist eine gefährlich irrtümliche Auffassung.
Die „Ein-Staat-Lösung“ ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich
selbst. Die Einstaat-Lösung ist keine Lösung, sondern eine
Anti-Lösung. Es ist ein Rezept für einen fortdauernden blutigen
Konflikt. Kein Traum, sondern ein Alptraum.
Es
gibt überhaupt keine Chance, dass die jüdische Öffentlichkeit damit
einverstanden wäre – weder in dieser noch in der nächsten Generation
– dass sie als Minderheit in einem Staat leben würde, die von einer
arabischen Mehrheit beherrscht wird. 99,99% der jüdischen
Bevölkerung wird sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehren. Die
Demographie wird nicht aufhören, sie heimzusuchen, im Gegenteil,
es wird sie zu Dingen antreiben, die heute noch undenkbar sind. Die
ethnische Säuberung wird praktisch auf die Agenda kommen. Selbst
moderate Israelis werden in die Arme des faschistischen rechten
Flügels getrieben. Alle Mittel der Unterdrückung werden akzeptabel
sein, wenn die jüdische Mehrheit sich das Ziel setzen wird, die
Araber dahin zu bringen, das Land zu verlassen, bevor sie dazu
kommen, die Mehrheit zu werden.
Diejenigen, die wirklich von der Idee des bi-nationalen Staates
überzeugt sind, werden sagen: o.k.,wir werden noch ein oder zwei
Generationen Blutvergießen, einen bürgerkriegsartigen Zustand haben,
aber am Ende werden wir die Juden überzeugen oder sie zwingen, den
Palästinensern die Staatsbürgerschaft und die Gleichheit der Rechte
zuzugestehen. Doch welches Volk wird solch ein Risiko auf sich
nehmen?
Die wirkliche Wahl ist deshalb die zwischen der
„Zwei-Staaten-Lösung“ oder der „Lösung durch ethnische Säuberung“.
Im besten Fall ist der bi-nationale Staat nur unpraktisch. Ich nehme
an, dass Nusseibeh dies auch weiß. In seinen Augen stellt die
Drohung eine Taktik dar. Er geht sogar noch weiter und schlägt vor,
die Drohung sofort in Jerusalem auszuführen.
Die arabischen Bewohner Ost-Jerusalems sind keine israelischen
Bürger und können nicht an den Knessetwahlen teilnehmen, doch haben
sie das Recht, an den Gemeindewahlen teilzunehmen. Und nun haben sie
diese Wahlen boykottiert, denn wenn sie daran teilgenommen hätten,
würde dies die Anerkennung der Herrschaft Israels über Ost-Jerusalem
bedeuten.
Nusseibeh schlägt jetzt vor, dass die arabischen Bewohner diesen
Boykott beenden und eine eigene Wahlliste aufstellen. Da sie
inzwischen ungefähr ein Drittel der Stadtbevölkerung ausmachen und
die jüdische Mehrheit in Orthodoxe und Säkulare gespalten ist,
könnten die Araber in die Lage kommen, zu entscheiden, wer der
nächste Bürgermeister wird. Nusseibeh weist den Gedanken, selbst für
diesen Job zu kandidieren, nicht zurück. Er glaubt, er würde die
Juden zu Tode erschrecken.
DIE WIRKLICHE Gefahr, die in dieser Taktik liegt, ist nicht, dass es
Leute dazu bringt, die Idee des bi-nationalen Staates anzunehmen.
Die Gefahr ist weit größer und viel unmittelbarer.
Die Hauptgefahr ist folgende: Falls das ganze Land sowieso ein
bi-nationaler Staat werden soll, dann gibt es keinen Grund, den Bau
der Siedlungen irgendwo zu verhindern.
Nusseibeh behauptet, dass die Zeit für eine Zwei-Staaten-Lösung
wegen der jüdischen Siedlungsaktivitäten in der Westbank und
besonders in Ost-Jerusalem bald zu Ende sei. Aber es ist genau die
Ein-Staat-Lösung, die die Tore für uneingeschränkte
Siedlungstätigkeit öffnet. Theoretisch würde dies auch den
Palästinensern diese Option erlauben – aber allein diese Möglichkeit
zu erwähnen, macht seine Absurdität deutlich.
Der wirkliche Kampf heute geht um die Siedlungen. Er wird heute
überall im Lande ausgefochten, für jede Siedlung, jeden
„Außenposten“, jede Umgehungsstraße, jedes Hausprojekt. Es ist ein
titanischer Kampf, der überall ausgefochten wird von der „Har Homa“-
Siedlung am Rande Jerusalems bis zur „Trennungsmauer“ (die nichts
anderes ist als ein Mittel, die Siedlungen zu vergrößern, wie sogar
der Oberste Gerichtshof jetzt zugegeben hat).
Die Nusseibeh-Taktik zieht all denjenigen unter uns, die wir gegen
den täglichen Landraub und die Siedlungen kämpfen, den Teppich
unter den Füßen weg – den mutigen Aktivisten, die täglich
demonstrieren und beim Kampf gegen die Mauer verletzt werden, bis
zu unsern Freunden im Ausland, die in ihren eigenen Ländern
versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
Die „Vision“ des bi-nationalen Staates gehört in eine entfernte
Zukunft, aber die unmittelbare Folge der Kampagne für sie ist
jetzt, alle Hindernisse für die Erweiterung der Siedlungen zu
beseitigen.
DIES IST auch das Ziel, das sich Ehud Olmert mit seinem trickreichen
Manövrieren, vorstellt. Er proklamiert laut, dass er für eine
Zwei-Staaten-Lösung sei, aber nur ein Tor würde ihn ernst nehmen,
nachdem was er vor Ort tut.
Vor zwei Wochen ließen seine Leute den Friedensplan durchsickern,
den er der Palästinensischen Behörde vorlegte. Ein harmloser, ja,
sogar ein positiver Plan.
Sein Hauptinhalt: Israel wird alle besetzten palästinensischen
Gebiete zurückgeben außer 7 %, auf denen die Siedlungsblöcke liegen.
Dafür will Israel den Palästinensern israelische Gebiete
abtreten, die 5 % der Westbank gleichwertig sind. Zusätzlich will
Israel den Palästinensern erlauben, eine Passage zwischen dem
Gazastreifen und der Westbank zu benützen. Diese Passage soll die
Differenz beim Landtausch ausgleichen.
Und wo ist der Haken? Der Teufel steckt im Detail, sagt ein
Sprichwort. Das Abkommen wird ein „Schubladen-Abkommen“ sein. Es
wird in der Zukunft erfüllt werden. Wann? Ah, nun ….
Die besetzten Gebiete der Westbank werden den Palästinensern
zurückgegeben, wenn die palästinensische Behörde bewiesen hat, dass
sie in der Lage ist, sie zu kontrollieren. Wer wird dies
entscheiden? Natürlich wir.
Die israelischen Gebiete, die den Palästinensern übergeben werden
für die Gebiete, die Israel annektiert, liegen entlang des
Gazastreifens. Wann werden sie übergeben? Nachdem die Hamasbehörde
im Gazastreifen gestürzt wurde, und die Palästinensische Behörde
sich dort wieder behauptet. Dasselbe gilt für die
Gaza-Westbank-Passage. Wann wird dies geschehen? Wie die alten
Römer sagten: „Ad Calendas Graecas“, nach dem griechischen Kalender,
also niemals.
Der wirkliche Haken wird deutlich, als Olmerts „Vertraute“
erklärten, dass unmittelbar nach der Annahme des “Schubladen
–Abkommens“ durch die Palästinenser, Israel seine
Siedlungsaktivitäten beschleunigen wird, da – nach dem Abkommen -
die Siedlungsblöcke auf jeden Fall ein Teil Israels werden. Selbst
die Amerikaner können nicht dagegen sein, nachdem die Palästinenser
selbst mit der Annexion dieser Gebiete an Israel sich einverstanden
erklärten.
Um
es einfach zu sagen: all diese Abkommen sind Wortehülsen, und nur
eine Sache geht praktisch weiter: die Siedlungen werden unaufhörlich
expandieren.
IN
DER christlichen Mythologie hat der Teufel einen Pferdefuß. Manchmal
schaut der Huf unter seinem langen Gewand hervor, und so verrät er
sich.
Unser Teufelsfuß sind die Siedlungen. Während man irgend eine Idee
oder Plan untersucht, sollte man den Saum des langen Gewandes heben
und schauen, worauf er steht.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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