Roter Hering
Uri Avnery, 18.6.
05
Es war eine fast surrealistische Erfahrung: ich war in einer
Halle mitten in Gaza und stand etwa 500 Personen gegenüber,
lauter bärtige Männer, fast alle waren Hamasaktivisten.
Die Hamasbewegung ist offiziell gegen die Existenz des
Staates Israel – und hier stand ich nun auf dem Podium und
sprach auf hebräisch über den Frieden zwischen Israel und dem
zukünftigen Staat Palästina.
Gab es Protest? Im Gegenteil. Sie applaudierten, und nach der
Veranstaltung wurde ich zu einem Essen mit geachteten Scheichs
eingeladen.
Das war 1994. Vielleicht sollte ich den Hintergrund etwas
erklären: ein Jahr zuvor entschied Ministerpräsident Yitzhak
Rabin, 415 islamische Aktivisten aus dem Land zu vertreiben. Der
Generalstabschef Ehud Barak sagte vor Gericht aus, diese
Maßnahme sei für die Sicherheit des Staates absolut notwendig.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte die Vertreibung.
Die Aktivisten waren mit Bussen an die Nordgrenze gefahren
worden, aber die Regierung in Beirut erlaubte ihnen nicht, in
den Libanon deportiert zu werden. Ein ganzes Jahr lang
vegetierten die Vertriebenen zwischen zwei Armeen in offener
Landschaft in Zelten, dem Regen und der Kälte im Winter und der
brennenden Sonne im Sommer ausgesetzt, bis es ihnen schließlich
erlaubt wurde, zurückzukehren.
Für mich war die Vertreibung eine schwere Verletzung der
Menschenrechte, abgesehen davon, dass sie politisch töricht war.
Deshalb schlug ich bei einem Peace-Now-Treffen vor, vor dem
Amtssitz des Ministerpräsidenten ein Protestzelt aufzustellen.
Die Führer von Peace Now waren nicht damit einverstanden, gegen
eine Aktion des Führers der Laborpartei zu protestieren. Aber
einige andere Friedensaktivisten kamen überein, mit religiösen
und weltlichen Führern der arabischen Gemeinden in Israel ein
Zelt aufzurichten.
Zusammen verbrachten wir darin 45 Tage und Nächte. An einigen
Tagen fiel Schnee, und die Kälte war bitter. Beduinen aus dem
Negev und Aktivisten aus arabischen Dörfern brachten uns
Lebensmittel und Kohleöfchen, die Frauen in Schwarz brachten uns
jeden Abend einen großen Topf voll mit heißer Suppe. Weil wir
von der Haltung von Peace Now sehr enttäuscht waren, entschieden
wir uns dort, eine neue Friedensbewegung zu gründen. So kam Gush
Shalom zustande.
Ich war gespannt, wie sich die islamischen Aktivisten nach
ihrer Rückkehr uns gegenüber verhalten würden. Ich war erfreut,
als sie sich entschieden, ihre Dankbarkeit öffentlich
auszudrücken: zusammen mit meinen Freunden, den Zeltbewohnern,
wurde ich zu jener Veranstaltung in Gaza eingeladen. Ich traf
dort mehrere der Leute, die jetzt nach der Ermordung von Scheich
Ahmed Yassin, der damals im Gefängnis war, und Abd-al-Aziz al-
Rantisi, der einer der Vertriebenen war, die Hamas führen.
Ich erinnerte mich an dieses Erlebnis, als ich hörte, dass
morgen bei dem Treffen mit Condoleezza Rice Ariel Sharon die
Amerikaner auffordern will, jeden Kontakt mit Hamasvertretern zu
meiden, die bei den nächsten palästinensischen Parlamentswahlen
teilnehmen wollen. Regierungssprecher drückten auch über die
EU-Entscheidung ihren Ärger aus, die Diplomaten „unterhalb des
Ranges von Botschaftern“ erlaubten, Hamasvertreter zu treffen.
Sharon verlangt nun die Ausschließung der Hamas, bis sie
offiziell den Staat Israel anerkennt und dem Terrorismus
abschwört. Außerdem erklärte er, es gebe keine
Friedensverhandlungen, bis die Palästinensische Behörde nicht
die „Infrastruktur des Terrorismus“ (d.h. die Hamas) zerstört
und entwaffnet habe.
Auch dies erinnert an etwas: jahrelang hatten israelische
Regierungen verlangt, dass alle Welt die PLO boykottieren solle,
bis sie die „Palästinensische National-Charta“ für ungültig
erklärt habe. Dieses Dokument aus den 60er Jahren rief dazu
auf, den Staat Israel aufzulösen. Später nahm die PLO viele neue
Resolutionen auf, die der Charta widersprachen, und sie
erkannte Israel an. Im Oslo-Abkommen 1993 gab Yasser Arafat 78%
des Landes Palästina, wie es bis 1948 existierte, auf. Aber
nichts half. Viele Jahre lang ritt Israels Propaganda auf der
elenden Charta herum, um eine extreme anti-palästinensische
Politik zu rechtfertigen, bis die Palästinenser – zum Ärger
vieler Israelis – die gesamte Charta aufhob.
So entstand ein Vakuum. Sharon benützt nun die Hamas, um dieses
Vakuum zu füllen.
Eine der farbigeren Redensarten in der englischen Sprache ist
der „rote Hering“. Das ist ein geräucherter Hering, der seine
rote Farbe beim Räuchern erhält, und einen scharfen Geruch hat.
Jemand, der von Hunden verfolgt wird, zieht einen roten Hering
über den Weg, um die Tiere von seiner Spur abzulenken.
Genau wie seine Vorgänger die Charta benützten, so benützt
Sharon jetzt die Hamas, um die Aufmerksamkeit von seinem
Versprechen der sofortigen Auflösung der
Siedlungs-„Außenposten“, dem Einfrieren des Siedlungsbaus und
dem Beginn der politischen Verhandlungen mit den Palästinensern
abzulenken. Er zieht den „roten Hering“ über die Roadmap.
Zur Sache selbst: ist die Teilnahme von Hamas an den Wahlen
eine gute oder eine schlechte Sache, soweit es Israels
Interessen betrifft?
Ich sage, es ist eine gute Sache.
Vor etwa 30 Jahren rief ich zu Verhandlungen mit der PLO auf,
die damals als eine Terroristengang und Mörderbande betrachtet
wurde. Damals prägten wir den Satz: „Frieden macht man mit
Feinden“. Dasselbe gilt heute auch für die Hamas.
Es besteht kein Zweifel, dass die Hamas dabei ist, bei den
Parlamentswahlen einen großen Anteil der Stimmen zu gewinnen,
so wie sie bei den Gemeindewahlen, die vor kurzem stattfanden,
außerordentliche Ergebnisse erzielte. Sie bekam diese Stimmen
nicht, weil sie sich weigert, Israel anzuerkennen. Vielmehr gibt
es zwei Gründe für ihren Erfolg: das erworbene Prestige hängt
mit dem mutigen Kampf gegen die israelische Besatzung zusammen
und damit dass sie nichts mit Korruption zu tun hat wie andere
Persönlichkeiten und Fraktionen.
Die Palästinenser betrachten die Gewalt, die Israel gewöhnlich
als„Terrorismus“ bezeichnet, als legitimen Widerstand. Sie sind
davon überzeugt, dass Israel sich nicht für das Verlassen des
Gazastreifens entschieden hätte, wenn es nicht den bewaffneten
Widerstand gegeben hätte - da Israel ihrer Überzeugung und
Erfahrung nach „ nur die Sprache der Gewalt versteht“. Bis jetzt
kann man nicht auf eine einzige Errungenschaft hinweisen, die
sie durch andere Mittel erreichten.
Ist es Ironie des Schicksals ( oder der Sieg der Torheit),
dass Hamas tatsächlich von Israel selbst unterstützt wurde?
Genau so wie die Amerikaner die Al-Qaida Osama Bin-Ladens
geschaffen hatten, damit sie in Afghanistan gegen die
Sowjetarmee kämpften, so hat Israel die islamische Bewegung in
den besetzten Gebieten als Gegengewicht zur PLO entstehen
lassen. Man nahm an, dass fromme Muslime ihre Zeit zum Beten in
den Moscheen verbringen und nicht eine säkulare PLO
unterstützen, die damals als der Erzfeind angesehen wurde. Aber
als die 1. Intifada Ende 1987 ausbrach, organisierten die
Islamisten die HAMAS ( = die arabischen Anfangsbuchstaben der
„Islamischen Widerstandbewegung“), die schnell zur wirksamsten
Untergrundkampforganisation wurde. Die israelischen
Sicherheitsdienste begannen jedoch erst, gegen sie vorzugehen,
nachdem ein ganzes Jahr der Intifada verstrichen war.
Jetzt ist die Existenz der Hamas eine vollendete Tatsache. Sie
ist tief im Volk verwurzelt, auch weil sie weit verbreitete
soziale Dienste anbietet, die anfänglich von den Saudis und
anderen finanziert wurden.
Die Geschichte lehrt, dass solche Bewegungen dahin tendieren,
moderater zu werden, wenn sie ins politische System integriert
werden. Eine Bewegung, die Minister in der Regierung, eine
Fraktion im Parlament und Bürgermeister in den Städten und
Dörfern hat, hat Interesse an Stabilität. Es mag stimmen, dass
sie zu Anfang eine Radikalisierung im Stil der palästinensischen
Behörde verursachen wird, aber auf die Dauer wird man mit ihr
leichter Entscheidungen erreichen.
Wenn man wirklichen Frieden will, der vom ganzen
palästinensischen Volk akzeptiert wird, sollte man die
Integration der Hamas ins palästinensische politische System nur
begrüßen. Doch wenn man den Frieden zerstören will, um möglichst
viel Land der Westbank an Israel zu annektieren und die
Siedlungen erhalten will – dann ist es logisch, dagegen zu sein,
wie Sharon es tut.
Condoleezza Rice erkennt sicher den geräucherten Hering, wenn
sie einen riecht – und nicht nur auf dem Frühstückstisch.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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