Wer ist wessen Vasall?
Uri Avnery
12. Mai 2018
„WENN DU die Politik einer Nation verstehen willst, sieh dir die
Landkarte an!“, soll Napoleon gesagt haben. Ein guter Rat.
Wenn du in diesen Tagen in Israel lebst, bekommst du den Eindruck,
dass der riesige Staat Israel seinem amerikanischen Vasallen sagt,
was er tun soll. Präsident Donald Trump hört zu und fügt sich. Bibi
der Große sagt ihm, er soll ohne jeden vernünftigen Grund den
Atomvertrag mit dem Iran zerreißen und er gehorcht. Er kann nicht
anders, der Arme.
Aber dann wirfst du einen Blick auf die Karte und entdeckst zu
deiner großen Verwunderung, dass die USA ein riesiges Land sind,
während Israel nur ein so kleiner Fleck ist, dass sein Name
außerhalb seiner Grenzen ins Meer geschrieben werden muss.
Was ist da also los? Die Geografie ist natürlich nicht der einzige
Umstand. Israel hat einige Millionen treuer Anhänger, die
amerikanische Staatsbürger sind und viel Geld haben. Aber trotz
allem.
Kann es sein, dass wir da etwas falsch verstehen? Dass Trump nicht
der Vasall Netanjahus ist, sondern umgekehrt? Dass Trump diktiert
und Bibi trotz all seinem Getöse gehorcht?
DAS WÄRE nicht das erste Mal. In der Antike taten die Führer des
jüdischen Gemeinwesens in Palästina ihr Möglichstes, um dem Kaiser
in Rom gefällig zu sein. Zum Beispiel Nero, dem Mann dem es gefiel,
seine eigene Stadt und die Welt in Brand zu stecken, während er auf
der Geige fidelte oder sich anders vergnügte. Donald Trump ist der
Nero der Gegenwart, der Kaiser des Neuen Roms.
Trumps Hauptziel im Leben ist es, aus dem Atomvertrag mit dem Iran
auszusteigen, „der schlechtesten Abmachung, die es je gab“. Warum?
Ich habe genau zugehört und ich konnte keinen anderen Grund
heraushören, als dass die Abmachung von seinem ihm verhassten
Vorgänger Barack Obama geschlossen wurde. Welchen anderen Grund gab
es, die Abmachung aufzukündigen? Ich habe von keinem anderen Grund
gehört. Die Abmachung hielt den Iran davon ab, mit dem Bau von
Nuklearwaffen weiterzukommen. Alle Experten ohne Ausnahme (sogar die
israelischen) bestätigen, dass der Iran sich genau an die
Vereinbarung gehalten hat.
Tatsächlich hat die ganze Welt außerhalb der USA (und natürlich
Israels) beschlossen, das Abkommen beizubehalten. Die drei nicht
ganz unbedeutenden Mächte Deutschland, Frankreich und Britannien
sind der Meinung, die Abmachung müsse aufrechterhalten werden.
Ebenso Russland und China, die ja auch nicht gerade kleine Länder
sind. Alle außer Israel. Ah, Israel.
DIE MEISTEN Leute in Israel glauben jetzt, dass Bibi der Große,
Benjamin Netanjahu, tatsächlich Trump an der Leine hätte. Bibi hätte
einen so magischen Griff auf Trump, dass der amerikanische Präsident
Israels Führung folgen müsse. Bibi ist vom Iran besessen. Am Morgen
wacht er mit dem Iran auf und am Abend geht er mit ihm schlafen.
Niemand fragt anscheinend: Warum, um Himmels Willen?
Wir kommen auf Napoleons Landkarte zurück: Es scheint keinen
Interessenkonflikt zwischen den Ländern Iran und Israel zu geben.
Sie haben keine gemeinsame Grenze. Keines von ihnen hat Gebiete, die
das andere begehrt. Keines von beiden besitzt Bodenschätze, die das
andere sich gerne aneignen würde. Beweis: vor nicht allzu langer
Zeit, also schon während meiner Lebenszeit, war der Iran Israels
engster Verbündeter (natürlich außer unserm amerikanischen
Vasallen). Der Iran wurde vom Schah regiert, dem Schah in seiner
schönen Uniform und mit seiner schönen Frau (bitte verzeiht mir noch
einmal, liebe Feministinnen).
Israel und der Iran konnten miteinander Pferde stehlen, wie man so
sagt. Die Iraner trugen dazu bei, dass wir Agenten in das
Kurdengebiet des Irak einschleusen konnten, um dem irakischen
Diktator Saddam Hussein Schwierigkeiten zu machen. Später
unterstützen wir den Iran in seinem Krieg gegen den Irak, den
derselbe Hussein angezettelt hatte. Einer der größten Skandale
seiner Zeit war die sogenannte Iran-Contra-Affäre: Israel
transferierte amerikanische Waffen in den Iran. (Der Iran bezahlte
sie und die Amerikaner setzten das Geld für die illegale
Finanzierung des "Contra"-Krieges gegen die linke Regierung in
Nikaragua ein. Mein Freund, der Journalist Amiram Nir, wurde zum
Sicherheitsberater der israelischen Regierung und er persönlich
lieferte die Waffen nach Teheran. (Sein Ansprechpartner Oliver North
in den USA wurde gerade zum Chef der mächtigen American Rifle
Association ernannt.)
Schluss mit den unterhaltsamen Anekdoten! Zwischen den beiden
Nationen gibt es also keine grundlegende Gegnerschaft, die von der
Geografie diktiert würde. Worum geht es dann? Einmal ist da die
Ideologie. Die gegenwärtigen Regierenden im Iran sind extreme
Schiiten. Sie wollen die Oberherren der arabischen muslimischen Welt
werden. Die Araber hassen Israel, vor allem wegen der israelischen
Besetzung Palästinas. Darum tun die Iraner so, als wären sie der
große Feind des „kleinen Satans“ (das ist ihr ziemlich beleidigender
Name für Israel, um es vom großen Satan, den USA, zu unterscheiden).
Offen gesagt, denke ich, dass die Regierenden im Iran sich einen
Dreck um Israel kümmern. Für sie ist der Hass gegen Israel nur eine
nützliche Waffe in der Schlacht mit der sunnitisch-arabischen Welt,
die von dem hyperaktiven saudischen Kronprinzen angeführt wird. (Der
Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten reicht fast bis in die Zeit
des Propheten, also mehr als 15 Jahrhunderte, zurück.)
WARUM ist Bibi also so sehr vom Iran besessen, dass er seinem
amerikanischen Vasallen befiehlt, in Richtung eines Dritten
Weltkrieges zu steuern? Die Antwort hängt davon ab, wie zynisch
jemand ist.
Wenn jemand sehr zynisch ist, könnte er sagen, sowohl Trump als auch
Bibi steckten bis an den Hals in strafrechtlichen Ermittlungen. Mit
etwas Glück könnten beide im Gefängnis landen. Welche bessere
Möglichkeit, die Aufmerksamkeit von ihren eigenen Angelegenheiten
abzulenken, könnte es geben als einen kleinen Krieg? Es ist ein
Rezept, das seit Anbeginn der Welt erprobt wird und das fast nie
ohne Wirkung geblieben ist. Wer wird sich schon noch Gedanken über
Trivialitäten wie Trumps Pornostar oder Bibis Geschenke von
(amerikanischen) Milliardären machen, wenn das Leben unserer Jungs
auf dem Spiel steht?
Die USA sind von einem Krieg mit dem Iran noch weit entfernt, wir
aber nicht. Vielleicht sind wir schon mittendrin und glauben es nur
nicht. In diesen Tagen – oder besser in diesen Nächten – fliegen
unsere tapferen Jungs über Syrien und bombardieren dort iranische
Armee-Anlagen. Bis zu diesem Augenblick haben die Iraner außer mit
einem kleinen misslungenen Angrif auf Israel kaum reagiert.
Warum sind Iraner überhaupt dort? Es gehört zu ihren Zielen, eine
iranische Einflusssphäre zu schaffen, die sich vom Iran selbst bis
zum Mittelmeer erstreckt. Im Irak mit seinem großen Anteil an
Schiiten in der Bevölkerung dominieren sie schon. Mithilfe Russlands
dominieren sie jetzt schon fast in Syrien. Im Libanon beherrscht ihr
enger Verbündeter, die schiitische Hisbollah-Bewegung, einen großen
Teil des Landes und hat gerade die Wahlen gewonnen.
DEN USA gefällt das alles ganz und gar nicht. Es stimmt, Trump hat
beschlossen, sich aus dem Nahen Osten (kostet zu viel Geld)
zurückzuziehen, aber er möchte nicht, dass Wladimir Putin die Lücke
füllt. Durchaus nicht. Deshalb schickt er zwar seine Jungs zurück,
sagt Israel aber, es soll den Iranern in Syrien das Leben zur Hölle
machen. Das ist (für uns) ein Spiel mit dem Feuer. Bisher haben die
Iraner ihre Reaktion auf unser nächtliches Bombardement ihrer
Truppen auf bloße Drohungen und den schwachen Angriff in Syrian
beschränkt. Aber wie lange noch?
Der Iran ist ein kluges Land. Wie sehr sich das gegenwärtige Regime
auch aufplustert, das Land übt große Zurückhaltung. Es erinnert
sich, dass es vor ziemlich kurzer Zeit (nur etwa 2500 Jahren) eine
Weltmacht war. Es hat Zeit. Es erfüllt nicht Trumps Erwartungen. Wie
lange gibt es die USA schließlich auch schon? Also bombardieren wir.
Also reagieren die Iraner mit Drohungen. Also ist Trump glücklich.
UND DIE israelische Öffentlichkeit? Man mag sich fragen: Gibt es die
überhaupt? Einige lokale Kommentatoren fragen schon: Haben sich die
israelischen Bürger in bloße Untertanen verwandelt? Offensichtlich
befindet sich Israel auf dem Kriegspfad. Das nächtliche Bombardement
der iranischen Truppen ist eine Beleidigung des iranischen
Nationalstolzes. In unserer Region spielt der Nationalstolz eine
große Rolle. Unsere Armee hat den Bewohnern des Nordens des Landes
angeraten, ihre Luftschutzbunker offen zu halten und sie für eine
Benutzung vorzubereiten. Große Luftabwehrkräfte wurden an die Grenze
zu Syrien verlegt.
Und die Israelis? Sie zucken die Achseln. Sie wissen, dass Bibi ein
genialer Schauspieler ist. Gerade jetzt hat er Land und Welt mit
einem prächtigen Fernseh-Auftritt in Atem gehalten. Darin offenbart
er einen Reichtum an Informationen über die nuklearen Aktivitäten
des Iran. Die tapferen Jungs und Mädchen vom Mossad haben diese
Belege in Teheran gestohlen und sie unter Einsatz ihres Lebens nach
Israel gebracht.
Wunderbar. Nur leider hat sich herausgestellt, dass diese Belege aus
veralteten Dokumenten aus der Zeit vor dem Abkommen bestehen. Das
zeigt, was alle schon wussten: Der Iran wollte Israel nacheifern und
seine eigenen Kernwaffen produzieren. Um das zu verhindern, wurde ja
der Atomvertrag angebahnt. Aber was für eine Schauspielkunst! Was
für ein Bühnenbild! Was für ein wunderbares (amerikanisches)
Englisch! Was für eine vollkommene Koordination mit Trumps
Entscheidung, die Abmachung zu verderben! Und vielleicht hat Trump
ja Bibi gar befohlen, diesen Auftritt zu inszenieren?
Einige israelische Kommentatoren weisen auf all das hin. Aber weder
in der Knesset noch in der Regenbogenpresse noch im Fernsehen gibt
es eine wahre Opposition gegen Bibi. Die große Mehrheit der Menschen
in Israel – und überall sonst – stehen stramm, wenn das Wort
„Sicherheit“ fällt. OK, Bibi mag ja ein bisschen korrupt sein, er
mag ja hier und dort ein paar Bestechungen annehmen, aber er ist nun
einmal unser Oberbefehlshaber! Er schickt unsere Jungs in die
Schlacht! Drum Heil dem Befehlshaber!
Heil Bibi!
(Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler)