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„Haltet mich zurück!“
Uri Avnery, 5.11.11
JEDER KENNT die Szene aus der Schule:
ein kleiner Junge streitet mit einem größeren.
„Haltet mich zurück!“ schreit er zu
seinen Kameraden hin, „bevor ich seine Knochen breche!“
Unsere Regierung scheint sich in dieser
Weise zu benehmen. Jeden Tag schreit es jetzt aus allen Kanälen,
dass sie im Begriff ist, dem Iran die Knochen zu brechen.
Der Iran ist dabei, eine Atombombe zu
bauen. Das können wir nicht zulassen. Also werden wir es in tausend
Stücke bomben.
Binjamin Netanjahu sagt dies bei jeder
seiner unzähligen Reden, auch in seiner Eröffnungsrede zur
Wintersitzungsperiode der Knesset. Ebenso Ehud Barak. Jeder
Kommentator, der etwas auf sich hält (hat jemand jemals einen
Kommentator gesehen, der nicht etwas auf sich hält ?) schreibt
darüber. Die Medien verstärken noch den Klang und die Wut.
„Haaretz“ hat auf seiner Vorderseite die
Fotos der sieben bedeutendsten Minister (das Sicherheits-Septett)
groß herausgebracht: es zeigt, dass drei für und vier gegen den
Angriff sind.
EIN DEUTSCHES Sprichwort sagt:
„Revolutionen, die vorausgesagt werden, finden nicht statt.“
Dasselbe gilt für Kriege.
Nukleare Angelegenheiten sind sehr
strenger militärischer Zensur unterworfen. Tatsächlich sehr, sehr
strenger Zensur.
Doch der Zensor scheint harmlos zu
lächeln. Lass die Jungs, einschließlich des Ministerpräsidenten und
des Verteidigungsministers, (des Zensors oberster Boss) ihre Spiele
spielen.
Der geachtete frühere langjährige Chef
des Mossad Meir Dagan hat öffentlich vor einem Angriff gewarnt. Er
beschrieb dies als die dümmste Idee, die er je gehört habe. Er
erklärte, dass er – angesichts der Pläne von Netanyahu und Barak -
die Warnung dagegen als seine Pflicht ansehe.
Am Mittwoch gab es eine wahre
Überschwemmung aus undichten Nachrichtenquellen: Die israelische
Armee testete eine Rakete, die auch eine nukleare Bombe weiter als
5000 km bringen kann (weiter als Ihr-wisst-wohin.) .Und unsere
Luftwaffe führt gerade Angriffsübungen auf Sardinien durch mit
einer größeren Entfernung als „Ihr-wisst-wohin“) Und am Donnerstag
hat das Heimatfront-Kommando im Großraum Tel Avivs Übungen mit
Sirenengeheule durchgeführt.
All dies scheint anzuzeigen, dass das
ganze Spektakel ein Trick ist. Vielleicht um die Iraner in Angst und
Schrecken zu versetzen. Vielleicht um die Amerikaner in extremere
Aktionen zu treiben: Vielleicht ist dies auch mit den Amerikanern im
voraus vereinbart. (Von der britischen Kriegsmarine sickerte durch,
dass sie trainiert, um einen amerikanischen Angriff auf den Iran zu
unterstützen.)
Es ist eine alte israelische Taktik, so
zu handeln, als wären wir verrückt. („Der Boss ist verrückt
geworden“ ist ein Routineschrei auf unsern Märkten, um anzudeuten,
dass der Obstverkäufer mit Verlust verkauft.) Wir sollten nicht
weiter auf die US hören. Wir sollten nur bomben, bombardieren und
bombardieren.
Nun lasst uns einen Augenblick ernst
sein!
ISRAEL WIRD den Iran NICHT angreifen.
Punkt.
Einige werden denken, ich hätte mich
exponiert. Sollte ich nicht wenigstens „wahrscheinlich“ oder „fast
sicherlich“ hinzufügen?
Nein, das werde ich nicht. Ich werde es
kategorisch wiederholen: Israel wird den Iran NICHT angreifen.
Seit dem Suez-Abenteuer 1956, als
Präsident Dwight Eisenhower ein Ultimatum erließ, das die Aktion
stoppte, hat Israel nie wieder eine bedeutsame militärische Aktion
durchgeführt, ohne im voraus das amerikanische Einverständnis zu
erhalten.
Die USA ist Israels einziger
zuverlässiger Unterstützer in der Welt (vielleicht noch die
Fidschi-Inseln, Mikronesien, die Marshallinseln und Palau) Diese
gute Beziehung zu zerstören, bedeutet, unsere Rettungsleine zu
kappen. Dies zu tun, dazu muss man mehr als verrückt sein. Es wäre
total wahnsinnig.
Israel kann keinen Krieg ohne
unbegrenzte amerikanische Unterstützung führen, weil unsere
Flugzeuge und unsere Bomben aus den USA kommen. Während eines
Krieges benötigen wir Nachschub, Ersatzteile, viele Arten von
Ausrüstung. Während des Yom-Kippur-Krieges hatte Henry Kissinger
eine „Luftbrücke“ hergestellt, die uns rund um die Uhr versorgte.
Und dieser Krieg würde wahrscheinlich
wie ein Picknick ausgesehen haben im Vergleich mit einem Krieg gegen
den Iran.
SCHAUEN WIR uns die Karte näher an! Was
übrigens immer zu empfehlen ist, bevor man einen Krieg anfängt.
Das erste, was ins Auge fällt, ist die
enge Straße von Hormus, durch die jedes 3. Barrel Öl der Welt per
Tanker kommt. Fast die ganze Ölproduktion von Saudi-Arabien, den
Golfstaaten, dem Irak und Iran muss wie im Spießrutenlauf durch
diese Meeresenge.
„Eng“ ist hier eine Untertreibung. Die
Breite dieser Wasserstraße ist etwa 35km .Das ist etwa der Abstand
zwischen Gaza und Beer Sheva, den letzte Woche die primitiven
Raketen des islamischen Jihad überquerten.
Wenn das erste israelische Flugzeug in
iranischen Luftraum fliegt, wird diese Straße gesperrt. Die
iranische Marine hat eine Menge Raketen-Boote, aber sie werden nicht
gebraucht. Es gibt an Land genügend Raketenbasen.
Die Welt taumelt schon am Rande eines
Abgrundes. Das kleine Griechenland droht, zu fallen und große Stücke
der Weltwirtschaft mich sich zu nehmen. Der Wegfall von fast einem
Fünftel der Ölversorgung der Industrienationen würde in eine
Katastrophe führen, die man sich kaum vorstellen kann.
Die Meerenge mit Gewalt zu öffnen, würde
eine große militärische Operation nötig machen. (Einschließlich
Versenkung von Schiffen.) Dies würde das US-Missgeschick im Irak und
Afghanistan überschatten. Kann sich die USA das leisten? Kann das
die NATO?. Israel ist ja nicht in derselben Liga.
ABER ISRAEL würde sehr in die Aktion
verwickelt sein – am empfangenden Ende.
In einer seltenen Schau von Einheit sind
die Chefs aller israelischen Sicherheitsorganisationen -
einschließlich des Generalstabschefs und der Verantwortlichen des
Mossad und des Shin Bet und der Atomkommission - öffentlich gegen
die ganze Idee. Wir können nur raten, warum .
Ich weiß nicht, ob die Operation
überhaupt möglich ist. Der Iran ist ein sehr großes Land, größer
als Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Die nuklearen
Installationen sind weit zerstreut und zum großen Teil unterirdisch.
Selbst mit speziellen tief eindringenden , von den USA fabrizierten
Bomben kann die Operation die iranischen Bemühungen – so wie sie
sind – nur um ein paar Monate hinauszögern. Der Preis könnte für
solch magere Ergebnisse zu hoch sein.
Außerdem ist es ziemlich sicher, dass
mit dem Beginn eines Krieges Raketen auf Israel regnen werden –
nicht nur aus dem Iran, sondern auch von der Hisbollah und
vielleicht auch von der Hamas. Wir haben keine ausreichende
Verteidigung für unsere Städte. Die Todesrate und das Maß an
Zerstörung würden unerträglich sein.
Auf einmal sind die Medien voller
Geschichten über unsere drei Unterseeboote, die bald auf fünf oder
sechs anwachsen werden, wenn die Deutsche Regierung Verständnis hat
und großzügig ist. Es wird offen gesagt, dass diese uns in
die Lage versetzen werden, einen nuklearen „Zweitschlag“
auszuführen, falls der Iran seine (noch nicht existenten) atomaren
Sprengköpfe gegen uns einsetzt. Aber die Iraner könnten auch
chemische und andere Massenzerstörungswaffen anwenden.
Dann gibt es auch noch den politischen
Preis. Es gibt eine Menge Spannungen in der islamischen Welt. Der
Iran ist in weiten Teilen nicht beliebt. Aber ein israelischer
Angriff auf ein großes muslimisches Land würde sofort die Sunniten
und Schiiten einigen, von Ägypten und der Türkei bis Pakistan und
darüber hinaus. Israel könnte dann eine Villa in einem brennenden
Dschungel werden.
ABER DAS Gerede über einen Krieg dient
vielen Zwecken, einschließlich internen und politischen.
Am letzten Samstag erwachte die soziale
Protestbewegung wieder zum Leben. Nach einer Pause von zwei Monaten
versammelten sich Massen von Menschen in Tel Aviv auf dem
Rabin-Platz. Dies war ziemlich bemerkenswert, weil genau an diesem
Tag wieder Raketen auf die Städte in der Nähe des Gazastreifens
fielen. Bis jetzt wurden in solch einer Situation die
Demonstrationen immer abgesagt. Die Sicherheitsprobleme hätten dann
Priorität. Aber diesmal nicht.
Viele Leute glaubten auch, dass die
Euphorie über das Gilad-Shalit-Festival den Protest in der
öffentlichen Meinung ausgelöscht habe. Das war nicht der Fall.
Übrigens geschah etwas Bemerkenswertes:
nachdem die Medien monatelang für die Protestbewegung Partei
ergriffen hatten, hat sie ihre Meinung geändert. Plötzlich stechen
alle, einschließlich der Haaretz, ihr ein Messer in den Rücken. Wie
auf Befehl schrieben alle Zeitungen am nächsten Tag, dass „mehr als
20 000“ teil genommen hätten. Nun, ich war dort und habe etwas
Erfahrung in dieser Sache. Es waren mindestens 100 000 Leute da, die
meisten waren jung. Ich konnte mich in der Menge kaum bewegen.
Die Protestbewegung hatte sich nicht erschöpft,
wie die Medien behaupten. Weit entfernt davon. Aber was gibt es
Besseres, um die Einstellung der Leute von der sozialen
Ungerechtigkeit abzulenken, als von „existenzieller Gefahr“ zu reden
?
Außerdem verlangen die von den
Demonstranten geforderten Reformen Geld. Angesichts der weltweiten
finanziellen Krise widersetzt sich die Regierung strikt einer
Erhöhung des Staatsbudgets aus Furcht, unsere Kreditfähigkeit zu
schädigen.
Woher also sollte das Geld kommen? Es
gibt nur drei plausible Quellen: die Siedlungen (wer würde es
wagen?) Die Orthodoxen (dasselbe!) und das riesige Militärbudget.
Aber wer würde am Vorabend des
wichtigsten Krieges in unserer Geschichte das Militärbudget
angreifen? Wir benötigen jeden Schekel, um mehr Flugzeuge zu kaufen,
mehr Bomben, mehr Unterseebote. Schulen und Krankenhäuser müssen –
leider – warten.
Gott segne Mahmoud Ahmadinejad. Wo
stünden wir ohne ihn ?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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