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Die Panikmacher
Uri Avnery, 10.12.2011
AM JAHRESTAG von Ben Gurions Todestag wurde ein
Gedenkfeier an seinem Grab in Sde Boker abgehalten, in dem Dorf in
der Negevwüste, wo er in seinem Ruhestand lebte. Es gibt dort keinen
Friedhof – nur sein Grab und das seiner Frau Paula.
Die Zeitungen veröffentlichten ein Bild von
Binjamin Netanjahu, wie er unter einem großen Foto des verstorbenen
Führers eine Rede hält und der gedankenvoll in die Ferne schaut.
Ein kleines Detail auf diesem Bild zog meine
Aufmerksamkeit auf sich: Netanjahu trug eine Kippa.
Warum? Ben Gurion war ein überzeugter Atheist. Er
weigerte sich, eine Kippa zu tragen, nicht einmal bei Beerdigungen.
( Obwohl ich selbst ein überzeugter Atheist bin, trage ich zuweilen
bei Beerdigungen aus Rücksicht auf die Gefühle anderer eine Kippa.)
Dieser Ort war aber weder eine Synagoge noch ein
Friedhof. Weshalb – um Himmels willen – trägt dieser Mann eine
schwarze Kippe auf seinem Kopf?
Für mich ist dies ein Zeichen dafür, was ich die
Re-Judaisierung Israels nenne.
ZIONIMUS war u.a. eine Revolte gegen die
orthodoxe jüdische Religion, die mit der Diaspora verbunden war und
die Zionisten verächtlich „Galut“ (Exil) nannten. All die
Gründerväter des Zionismus – Theodor Herzl, Max Nordau, Chaim
Weizmann, Ze’ev Jabotinky und der Rest – waren überzeugte Atheisten.
Weshalb gab Ben Gurion den Religiösen aber doch
zwei autonome Bildungssysteme, die vom Staat finanziert werden?
Warum stellte er Schüler aus religiösen Seminaren
(„Yeshivot“) vom Militärdienst frei?
Leute in meinem Alter können sich an die
Situation damals erinnern. Ben Gurion, wie alle von uns, glaubte,
dass die jüdische Religion dabei sei, auszusterben. Einige alte
Leute, die Jiddisch sprachen, beteten noch in den Synagogen, aber
mit der Zeit würden sie verschwinden. Wir die jungen, neuen Israelis
waren säkular, modern, frei von diesem alten Aberglauben.
Nicht in seinen dunkelsten Alpträumen ( oder
Tagträumen) hätte sich Ben-Gurion eine Zeit vorstellen können, in
der religiöse Schüler, von denen einige in ihren Schulen nicht die
grundlegendsten, modernen Fähigkeiten erlernen, etwa die Hälfte der
israelisch-jüdischen Schüler darstellen. Oder dass die Anzahl
religiöser Drückeberger der Armee mehrere Divisionen vorenthält.
Nach und nach übernimmt die religiöse Gemeinde
den Staat. Die religiösen Siedler, die religiösen, anti-arabischen
Pogromisten, ihre Verbündeten und ultra-rechten Kollaborateure
gewinnen täglich mehr Positionen. Die Armee hat gerade jetzt
veröffentlicht, dass 40% in den Kursen für Offiziers-Kandidaten
eine Kippa tragen. Als 1948 unsere Armee entstand, sah ich keinen
einzigen Kippa tragenden Soldaten, geschweige denn einen solchen
Offizier.
Aber die Gefahr der Re-Judaisierung geht weit
über die politische Sphäre hinaus.
.
LASSEN SIE mich eine Metapher aus der Natur
übernehmen.
Das Wichtigste in der Natur ist das Überleben. Es
gib da viele verschiedene Strategien des Überlebens, und die Natur
duldet sie alle – so weit sie erfolgreich sind.
Die Gazelle überlebt durch Wegspringen. Wenn sie
in Gefahr ist, flieht sie. Sie ist sehr erfolgreich. Tatsache: Die
Gazellen haben überlebt.
Der Löwe hat durch Kämpfen überlebt. Wenn er in
Gefahr ist, greift er an. Dies hängt von seinen Zähnen und Krallen
ab. Tatsache: die Löwen haben überlebt.
Juden haben durch Fliehen überlebt. Sie waren
darin sehr erfolgreich. Nach Tausenden von Jahren grausamster
Verfolgungen, Pogrome und des Holocaust sind sie noch da. Ihre
Zerstreuung in der Welt förderte diese Überlebenstaktik. Bei der
kleinsten Gefahr flohen sie von einem Land ins andere.
Juden haben keine Taj Mahals oder majestätische
Kathedralen gebaut. Ihre Schätze sind heilige Texte, Literatur und
Musik – Dinge, die man im Kopf behalten und mitnehmen kann, wenn
man auf der Flucht ist.
Wie einige Tiere in der Natur spüren Juden die
geringste Gefahr von weitem. Es ist wie ein rotes Licht, das in
ihrem Kopf aufleuchtet. Es geht an, wenn noch niemand anderes die
Bedrohung spürt. (Tatsächlich würde ich heute nicht mehr leben, wenn
mein Vater nicht vom ersten Tag des Naziregimes die Gefahr gespürt
hätte und sich mit seiner Familie auf die Flucht begeben hätte,
während er von fast allen um uns herum gescholten wurde.)
Der Zionismus wollte die Gazelle in einen Löwen
verwandeln. Er sagte: nicht mehr fortlaufen. Wenn wir in Gefahr
sind, werden wir kämpfen.
Es ist nicht mehr der feige Jude der
antisemitischen Karikatur. Ab jetzt ist es der heldenhafte Israeli,
aufrecht und stolz.
Und es scheint menschlich zu sein: wir
überkompensieren die Vergangenheit. Wir sind aggressiv,
militaristisch, ja, sogar brutal geworden. Die Unterdrückten wurden
die Unterdrücker. Juden pflegten zu sagen: „Wenn es nicht mit
Gewalt geht, dann versuch es mit dem Gehirn.“ Israelis sagen: „Wenn
es nicht mit Gewalt geht, versuche es mit mehr Gewalt.“ (Ich muss
gestehen, dass ich diesen Satz vor vielen Jahren als Scherz geprägt
habe. Leider ist es kein Scherz mehr.)
DOCH IN letzter Zeit scheint es mir, als ob der
alte Jude nicht verschwunden sei. Er hat sich nur innerhalb des
Israeli versteckt. Er ist mit seinem kleinen roten Licht noch immer
da.
Wie fand ich das heraus? Indem ich nur Binjamin
Netanjahu mit oder ohne Kippa zuhöre.
Netanjahu hat einen besonderen Regierungsstil
erfunden (oder angenommen): Er spielt mit der Angst der Leute.
Seitdem er an die Macht zurückkam, behandelt er
uns mit einer endlosen Reihe von Ängsten. Panikmache ist die Regel
des Tages - eines jeden Tages.
Zu Beginn war es Barack Hussein Obama, der uns zu
bestrafen drohte, wenn wir nicht unser heiliges Recht aufgäben,
Siedlungen überall im Land zu bauen, das uns Gott persönlich
verheißen hat. Leider kapitulierte Obama sehr schnell, also wurde
eine neue Bedrohung benötigt.
Kein Problem. Mahmoud Abbas, gestern noch ein
„gerupftes Hühnchen“, verwandelte sich in einen brüllenden Tiger
und bat die UN, den Staat Palästina als Mitglied aufzunehmen. Wie
jeder weiß, ist das eine tödliche Bedrohung für Israel. Sie wurde
nur durch Obamas (ja, desselben Hussein Obamas) Versprechen, sein
Veto zu Gunsten Israels einzusetzen, abgewandt. Aber die
Palästinenser sind trotzdem von der UNESCO akzeptiert worden – also
ist die schreckliche Gefahr noch nicht gebannt.
Dann kam der Arabische Frühling. Netanjahu war es
vom ersten Moment an klar – sogar noch bevor der große und
ruhmreiche Freund Mubarak in den Glaskäfig gesteckt wurde – dass
dies eine tödliche Gefahr darstellt. Nun ist es unheimlicher Weise
bestätigt worden: der Islam, der gefährliche Islam wird Ägypten
übernehmen.
Wie uns Netanjahu bei jeder Gelegenheit erzählt,
ist der Islam eine mörderische, antijüdische Religion. Es gibt
keine moderaten Islamisten – sie sind alle darauf aus, uns ins Meer
zu werfen. Sogar unsere frühere Verbündete, die Türkei.
Und sie gewinnen nicht nur in Ägypten. Diese
schrecklichen Islamisten haben schon in Marokko und Tunis gewonnen
und sind dabei, auch in Libyen, Jordanien, Jemen, Syrien zu
gewinnen. Unsere „Villa“ ist nicht mehr nur von einem Dschungel
umgeben, sondern von einem Dschungel voll gefährlicher
islamistischer Raubtiere. Wie entsetzlich!.
Dann wurde gerade zur rechten Zeit eine andere
schreckliche Gefahr aufgedeckt: die Menschenrechtsorganisationen
bedrohen die bloße Existenz Israels. Sie sind Teil einer weltweiten
antisemitischen Verschwörung. Fakt: sie werden von ausländischen
Regierungen finanziert. Ein neues Gesetz musste in Eile gegen sie
verabschiedet werden. Zum Glück wurden vor kurzem solche Gesetze in
einigen früheren sowjetischen Ländern verabschiedet. So erhielt
unser moldawischer Außenminister ( oder eher unser Außenminister
aus Moldawien) Avigdor Lieberman den Text von seinem großen Freund
Alexander Lukaschenko, dem vorbildlichen Demokraten aus
Weißrussland, und dem andern bekannten Demokraten Vladimir Putin.
All diese großen Gefahren reichten aus, um das
plötzliche Auftauchen des sozialen Protestes auszulöschen, aber sie
sind nichts, verglichen mit der schrecklichen, überwältigenden
Gefahr: die iranische Bombe.
Die iranische Atombombe bedeutet einen zweiten
Holocaust, nichts weniger. Nur die starke Führung von Binjamin
Netanjahu kann uns gerade noch rechtzeitig davor retten.
Gegenüber solch einer schrecklichen Gefahr stellt
keiner die relevante Frage: warum sollte ein iranischer Führer ein
Land angreifen, das selbst eine Menge Atombomben besitzt und die
Fähigkeit hat, bei einem „zweiten Schlag“ den ganzen Iran zu
zerstören. Die deutsche Regierung liefert uns gerade ein sechstes
U-Boot genau für diesen Zweck.
Die iranischen Führer mögen ja religiöse
Fanatiker sein. Aber auch wir haben ein Menge von diesen, und sie
sind ein Teil unserer Regierungskoalition. Gerade jetzt ist das Land
in einem Aufruhr, weil die Rabbiner verlangen, dass religiöse
Soldaten jede militärische Feier verlassen sollen, wenn es
weiblichen Soldaten erlaubt wird, dort zu singen. „Die Stimme einer
Frau ist ihr sexueller Teil“, behauptet ein heiliger Text. Und ein
prominenter Rabbiner hat gerade verkündet, dass ein religiöser
Soldat eher einem Exekutionskommando gegenüberstehen sollte, als
einer singenden Frau zuhören. ( Ich habe das nicht erfunden.)
Aber der Iran beherrscht unsern öffentlichen
Diskurs. All die roten Lichter blinken wie verrückt. Der Jude in uns
ist tödlich erschrocken. Die Gazelle sagt: Lauf weg!. Der Löwe sagt:
greife an!
DIE BIBEL sagt uns im hebräischen Original: „Wohl
dem, der sich immer fürchtet!“ (Spr.28,14) Aber ständige Angst
ist ein schlechter Ratgeber, um deine Angelegenheiten zu richten, um
so mehr, wenn es sich um die Politik eines Staates handelt. Aber es
mag gute Politik sein, wenn man sein eigenes Volk in Schach hält,
während man die Demokratie, die Gleichheit und die Menschenrechte
unterminiert.
Also lasst uns den Ghettojuden in uns befreien
und wegschicken. Und wenn wir schon dabei sind, lasst uns die
Panikmacher auch hinauswerfen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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