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Mohammed, wo bist du?
Uri Avnery,
25.Oktober 2014
ES KLINGT wie ein Witz. Ist aber keiner.
Vor etwa einem Monat, am Vorabend des jüdischen
Neujahrsfestes veröffentlichte das statistische Büro der Regierung
eine Reihe interessanter Einzelheiten über die Bevölkerung des
Staates. Es war als Geschenk für die Bürger gedacht. Die Bevölkerung
wächst, sie wird reicher und ist zufrieden.
Einer der Punkte listet die populärsten Namen auf,
die im letzten Jahr neugeborenen Jungs und Mädchen gegeben wurden.
Als die Statistiker die Ergebnisse sahen, waren sie
entgeistert. Es kam heraus, dass der Name, der oben auf der Liste
stand, Mohammed war.
Mohammed? Der volkstümlichste Name im jüdischen
Staat?
Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Die Araber
stellen mehr als 20% der Bevölkerung dar. Arabische Eltern lieben
es, ihren Söhnen den Namen des Propheten: Gott segne seine Seele zu
geben. Außerdem haben arabische Bürger viel mehr Kinder als
jüdische Bürger. Wenn jeder zweite arabische Junge Mohammed genannt
wird, bekommt man 5%.
Jüdische Bürger haben eine größere Auswahl. Es gibt
Hunderte Namen für Jungs und die Liste wächst ständig, weil junge
Eltern gerne neue hebräische Namen erfinden. Selbst wenn ein
Zehntel der jüdischen Eltern den Namen Josef bevorzugen, so ist es
der populärste hebräische Name nach der Liste nur 4%.
Was tun? Sehr einfach: man streicht die arabischen
Namen weg. Keinen Mohammed.
Als dies bekannt wurde, lachten viele Israelis. Wie
albern kann man werden.
ABER ES ist kein Witz. Es zeigt, dass die arabischen
Bürger nicht als wirklich „dazugehörig“ angesehen werden. 66 Jahre
nach der Gründung Israels bleibt der Platz der Araber im „Jüdischen
Staat“ problematisch, um wenigstens dies zu sagen.
Als ich letzten Dienstag Haaretz las, merkte ich,
dass eine ganze Seite – Seite 4 – sich nur mit Nachrichten über die
jüdisch-arabischen Beziehungen befasste.
Punkt 1: Zehn jüdische Siedler fielen mitten in der
Nacht in den arabischen Stadtteil von Silwan, nahe dem Tempelberg.
Silwan, das biblische Siloah, ist ein arabisches Dorf, das an
Jerusalem angeschlossen wurde, als Ost-Jerusalem nach dem
Sechs-Tage-Krieg von Israel annektiert wurde. Seit Jahren hat eine
Siedlervereinigung mit Namen „Elad“ diesen Stadtteil zu judaisieren
versucht, indem sie heimlich Besitz armer Araber mit Hilfe
arabischer Verräter als Strohmänner kauft. Nun entschied die
Vereinigung, diese Häuser zu besetzen, indem sie wie Diebe in der
Nacht kamen.
(Der Präsident von Elad ist Elie Wiesel, der
Holocaustschriftsteller und Nobelpreisträger. Ich rühme mich, ihn
vom ersten Anblick verabscheut zu haben, und erfand ein neues
hebräisches Wort für ihn. Übersetzt heißt es etwa „Holocaustist“)
Punkt 2: Es kam irgendwie heraus, dass die zentrale
Bauorganisation der Siedler, die sehr von der Regierung
subventioniert wird, große Spenden an eine Gruppe gibt, die „Wenn
Ihr wollt“ genannt wird, die sich darauf spezialisiert hat, linke
Dozenten in den Universitäten und andern Orten aufzuspüren.
Die Gruppe hat ein Stasi-ähnliches System von
Informanten aufgebaut und behauptet, zionistische Werte in Israel zu
fördern – indem sie Dozenten denunziert, die für Araber u.ä.
Gleichheit verlangt.
Punkt 3: Prof.em. Hillel Weiss , der noch immer
Vorlesungen an der Bar-Ilan-Universität hält, hat in Facebook einen
Aufruf veröffentlicht, einen Genozid an den Palästinensern zu
verüben. „Denn sie sind kein Volk, das würde also kein Genozid
sein“, behauptete er, „sondern nur die Auslöschung von Gesindel.“
Er riet den Palästinensern Eretz Israel sofort zu verlassen (das
Land bis zum Jordan), bevor der unvermeidliche Genozid geschehe.
Die Bar Ilan-Universität - man erinnere sich daran –
ist die Alma Mater von Yigal Amir, dem Mörder von Yitzhak Rabin.
Punkt 4: Außenminister Avigdor Lieberman forderte,
Hanin Zuabi „für viele Jahre ins Gefängnis zu stecken.“
Zuabi, ein weibliches Mitglied der Knesset, gehört zu
einer kleinen nationalistisch arabischen Fraktion, liebt es, sich
äußerst provokativ auszudrücken. Letztens sagte sie, es gäbe keinen
Unterschied zwischen einem ISIS-Kämpfer, der einzelne Menschen
köpft, und einem israelischen Piloten, der auf Knopfdruck viele
Palästinenser tötet.
Lieberman sagte zu Zuabi, sie solle nach Gaza gehen
und dort leben. Er deutete an, dass sie als unverheiratete Frau, „
die sich kleidet, wie es ihr gefällt (sich also modern kleidet)“,
sie unter der Hamas leiden würde. Er verlangte auch, dass man ihr
die israelische Staatsangehörigkeit wegnehmen solle.
Punkt 5: Das betrifft nun nicht direkt die Araber,
aber präsentiert den Rassismus aufs schlimmste. Der israelische
Gerichtshof, der als Verfassungsgericht agiert (obwohl Israel keine
Verfassung hat, nur ein paar „grundlegende Gesetze“), hat der
Regierung befohlen, sofort ein „offenes“ Gefängnis zu schließen,
das für afrikanische Asylsuchende mitten in der Wüste gebaut wurde.
Sie werden dort unbegrenzt ohne Gerichtsurteil festgehalten, bis sie
damit einverstanden sind, Israel „freiwillig“ zu verlassen.
Die Regierung weigerte sich strickt dem Befehl zu
gehorchen, etwas ganz Ungewöhnliches. Sie ist jetzt dabei, ein neues
Gesetz zu erlassen, das 61 (von 120) Knesset Mitgliedern erlaubt,
Entscheidungen des Obersten Gerichtes abzulehnen.
ISRAEL RÜHMT SICH, die einzige Demokratie im Nahen
Osten zu sein.
Diese willkürlich heraus gegriffenen Punkte und
jene, die an irgendeinem andern Tag veröffentlicht werden, wecken
einigen Zweifel an dieser Behauptung.
Natürlich ist Israel mit der Behandlung seiner
nationalen Minderheit nicht alleine und nicht am schlimmsten. Fast
jeder Staat in der Welt hat eine oder mehr nationale Minderheiten,
und fast jede nationale Minderheit hat einen Grund, sich zu
beklagen. Man muss nur an die Kurden in Syrien, die
russisch-sprachigen in der Ukraine oder die Tamilen in Sri Lanka
denen , um Verständnis für die Proportion zu bekommen.
Ich würde annehmen, dass bei jeder vorurteilsfreien
weltweiten Untersuchung des Status von Minderheiten Israel irgendwo
in der Mitte sein würde.
Ich vermute, dass die Position jeder Minderheit
einzigartig ist, abhängig von der Geschichte und lokalen Umständen.
Bei der Position der arabischen Minderheit in Israel ist es
sicherlich so.
Als erstes waren sie wie die Aborigines in
Australien und die Inuit in Kanada lange vor der jetzigen Mehrheit
hier. Der Fall von Zuabi-Lieberman ist ein typisches Beispiel.
Die Familie von Hanin Zuabi ist seit Jahrhunderten,
vielleicht Jahrtausenden in Untergaliäa zu Hause. Nach der Gründung
Israels ist Saif al-Din Zuabi Mitglied der zionistischen
Arbeiterpartei gewesen und stellvertretender Sprecher der Knesset.
Ein anderer Verwandter ist Abd-al-Rachman Zuabi ein Richter am
Obersten Gericht gewesen. Abd-al-Aziz Zuabi, ein Knesset Mitglied
der zionistischen Mapam-Partei (jetzt Meretz) war stellvertretender
Minister.
Liebermans ursprünglicher erster Vorname ist Evet.
Er wurde in Kishinev in Sowjetmoldawien geboren, und seine
Muttersprache ist Jiddisch. Obwohl er schon 1978 nach Israel kam,
wird er noch immer als „Neueinwanderer“ angesehen und spricht
Hebräisch mit deutlich russischem Akzent. Von den beiden spricht
Hanin Zuabi wohl ein besseres Hebräisch.
Es war Abd-al-Aziz, der den Satz prägte: „meine
Tragödie ist die, dass sich mein Land mit meinem Volk im Krieg
befindet.“
Das ist die zweite Anormalität: Die „israelischen
Araber“ sind ein integraler Teil des palästinensischen Volkes. Fast
jeder israelisch arabische Bürger hat Verwandte in der Westbank oder
im Gazastreifen oder in beidem, wie auch in den Flüchtlingslagern.
Wenn aktuelle Kämpfe im Gange sind wie beim letzten
Gazakrieg, sind ihre Herzen auf der andern Seite, auf der des
„Feindes“. In diesem Augenblick kämpfen mehrere junge israelisch
arabische Bürger mit ISIS, nachdem sie über die Türkei nach Syrien
kamen.
WIE DER Zuabi –Familienstammbaum zeigt, gibt es noch
eine andere Seite der Münze. Arabische Bürger sind tief verwoben in
der Struktur Israels.
Ich frage mich oft, was geschehen würde, wenn der
Wunschgedanke Liebermans (und anderer seiner Art in aller Welt) sich
erfüllen, und die Minderheit das Land verlassen würde.
Wir wissen es aus der Geschichte. Als die
französischen Hugenotten aus Frankreich vertrieben wurden, flohen
viele von ihnen in den jungen preußischen Staat. Das
zurückgebliebene Berlin wurde zu einem wirtschaftlichen Zentrum und
Preußen blühte, während Frankreich geschwächt wurde. Dasselbe – aber
sogar noch mehr – geschah in Spanien nach der Vertreibung der Juden
und Muslime. Spanien war niemals wieder dasselbe, und das
Ottomanische Reich, das die meisten mit Freude absorbierte, wurde
bereichert.
Israels arabische Bürger dienen nicht in der Armee.
Sie wollen nicht gegen ihre palästinensischen Brüder kämpfen, noch
wünscht die Armee, sie zu trainieren und ihnen Waffen zu geben,
Gott bewahre! (obgleich die Armee zur Zeit gern die christlichen
Araber, eine Minderheit der Minderheit, einziehen will, um noch eine
Spaltung hervorzurufen. Einige Araber, meistens Beduinen und Drusen,
dienen im Militär.)
Aber abgesehen vom Armee-Dienst erfüllen arabische
Bürger alle Pflichten eines Bürgers. Sie zahlen ihre Steuern. Der
Mehrwertsteuer und anderen indirekten Steuern, die einen großen
Teil des Regierungseinkommens ausmachen, können sie nicht entgehen.
Sie erfüllen viele Aufgaben.
Tatsächlich sind die Araber weit mehr in die
israelische Gesellschaft eingebettet als viele von ihnen gerne
zugeben. Sie sind Ärzte, Anwälte, Ingenieure, Richter, Künstler. Als
ich meine jetzt verstorbene Frau ins Krankenhaus brachte, dauerte
es mehrere Tage, bis mir klar wurde, dass der Oberarzt der Abteilung
ein Araber war.
Alle arabischen Bürger lernen Hebräisch und sprechen
es gut, während unsere Armeegeheim-dienstabteilung lange suchen
muss, bis sie einen Juden findet, der arabisch spricht.
Das persönliche Einkommen der arabischen Bürger ist
im Durchschnitt niedriger als das der jüdischen Bürger, aber noch
viel höher als das ihrer Verwandten in den besetzten Gebieten.
Araber der annektierten Gebiete Ost-Jerusalems, die nicht die
israelische Staatsbürgerschaft bekommen haben, aber offiziell
„Bewohner“ sind, erfreuen sich der vollen Rechte unter dem
nationalen Sicherheitssystem, was beträchtlich ist.
IM ALLGEMEINEN ist die Situation der arabischen
Bürger weit entfernt von dem, was wir (und sie natürlich) wünschen.
Wir müssen für totale Gleichheit kämpfen. Dieser Kampf sollte
fortdauern und sollte von jüdischen und arabischen
Menschenrechtsaktivisten Hand in Hand durchgeführt werden.
Doch besteht die traurige Tatsache, dass diese
Zusammenarbeit, die einmal eng und fast intim war, sich entfernte
und selten wurde. Araber fürchten die „Normalisierung“, die so
aussehen könnte, als ob man die Besatzung unterstütze. Juden
fürchten, von der extremen Rechten als „Araber-Liebhaber“ und
Verräter gebrandmarkt zu werden.
Diese Situation, auch wenn sie natürlich ist, muss
überwunden werden. Die israelische Linke hat keine Chance, jemals
wieder die Macht zu gewinnen, ohne aktive Zusammenarbeit mit „den
Zuabis“, wie Finanzminister Yair Lapid einmal geringschätzig alle
arabischen Bürger nannte, einschließlich Hanin, obwohl sie eine Frau
ist, unverheiratet und sich nach Wunsch kleidet.
Und all die fehlenden Mohammeds.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert.)
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