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„Viel Feind, viel Ehr“
Uri Avnery, 8.Oktober 2011
EIN ALTES Foto aus dem 1. Weltkrieg zeigt eine
Kompanie deutscher Soldaten, die in einen Zug einsteigen, der sie
zur Front bringt. An die Wagenwand hatte jemand gekritzelt: „Viel
Feind, viel Ehr“.
In jenen Tagen, ganz am Anfang des Krieges,
erklärte ein Land nach dem anderen Deutschland den Krieg. Der Geist
des Graffito reflektiert die Hybris des obersten Befehlshabers,
Kaiser Wilhelm, der sich auf den Kriegsplan des legendären deutschen
Generalstabs verließ. Es war tatsächlich ein ausgezeichneter
Kriegsplan, und wie bei vielen ausgezeichneten Kriegsplänen, ging
von Anfang an alles schief ging.
Der törichte Kaiser hat jetzt die Erben gefunden,
die er verdient. Israels Stellvertreter des Ministerpräsidenten
Moshe Yaalon, ein früherer Armeestabschef, dessen Intelligenz unter
dem Durchschnitt dieses Ranges liegt, hat angekündigt, dass Israel
sich unmöglich bei der Türkei entschuldigen könne, selbst wenn es im
nationalen Interesse läge, weil es unser „Prestige“ verletze.
Viel Feind, viel Prestige.
Es scheint, dass wir bald keine Freunde mehr
haben, die wir in Feinde verwandeln können, um noch mehr Prestige zu
sammeln.
LETZTE WOCHE kam eine schwarze Katze zwischen
Israel und seinem zweitbesten Freund: Deutschland.
Hochrangige deutsche Vertreter vertrauten ihren
israelischen Kollegen an, dass ihre Kanzlerin Angela Merkel „wütend“
war, als sie hörte, dass die israelische Regierung den Bau von 1100
Wohneinheiten in Gilo, einem Stadtteil des besetzten Ost-Jerusalem,
genehmigt habe. Nur ein paar Tage früher hatte das Quartett Israel
und die palästinensische Behörde eingeladen, die Verhandlungen
wieder aufzunehmen und von „Provokationen“ abzusehen. Wenn dies
keine Provokation ist, was ist es dann?
Merkel, gewöhnlich eine Frau von stiller
Gelassenheit, behielt ihre Wut nicht bei sich. Sie rief Benjamin
Netanjahu an und hielt ihm eine ernste Standpauke, etwas, das vorher
nie geschehen war.
Bis
jetzt hat sich Deutschland strikt an einen Verhaltenskodex gegenüber
Israel gehalten: nachdem die Nazis unaussprechliche Verbrechen gegen
Juden begangen hatten, konnte es keine Kritik gegen irgendeine
israelische Handlung geben; Deutschland zahlt für einen wichtigen
Teil von Israels Ausrüstung; Deutschland hält sich mit jedem
moralischen Kriterium zurück, soweit es den
israelisch-palästinensischen Konflikt betrifft.
Nun nicht mehr, so scheint es. Wir sind dabei,
unsern einzigen zweitbesten Freund zu verlieren.
DAS KLASSISCHE Beispiel für „Wie man Freunde
verliert und Leute gegen sich aufbringt“, ist natürlich unsere
Affäre mit der Türkei.
David Ben-Gurion, der Erz-Architekt Israels,
glaubte, dass Frieden mit den Arabern weder möglich noch
wünschenswert sei. Er dachte sich eine Alternative aus: ein Ring
umzingelt die arabische Welt - ein Bündnis mit nicht-arabischen
Verbündeten. Dies schloss den Iran (unter dem Schah) ein, Äthiopien
(unter Haile Selassie), mehrere andere afrikanische Länder und
natürlich die Türkei (unter dem Erbe von Kemal Atatürk).
Unsere Beziehungen mit der Türkei entwickelten
sich über die Jahre zu einer sehr engen Verbindung, besonders intim
zwischen den militärischen Kräften. Gemeinsame Übungen, Verkauf
vieler Waffen, Nachrichtenaustausch. Während Israel den irakischen
Kurden gegen Saddam Hussein half, half es Ankara, die türkischen
Kurden zu unterdrücken. Jerusalem dachte ernsthaft daran, eine
Pipeline unter dem Meeresspiegel zwischen der Türkei und Israel zu
legen, um Wasser zu bringen, wovon die Türkei eine Menge hat, was
Israel aber dringend benötigt.
Plötzlich hat sich alles verändert. Die
türkisch-israelischen Beziehungen wurden wie ein Schiff, das direkt
von einem Torpedo getroffen wurde.
Es begann, als der türkische Ministerpräsident
Recep Tayyip Erdogan in Davos plötzlich aufstand und einen
öffentlichen Dialog mit Shimon Peres verließ. Israelis konnten dies
verstehen: nicht jeder kann Peres ertragen.
Aber Avigdor Liebermans Außenministerium
entschied sich, sich zu rächen. Sein Vertreter, ein Genie mit Namen
Danny Ayalon, zitierte den türkischen Botschafter wegen eines
Verweises in sein Büro und ließ ihn auf einem niedrigen Sofa Platz
nehmen, während er auf einem hohen Stuhl über ihm thronte. Der
Botschafter nahm davon keine Notiz, aber der kleine Danny erklärte
den versammelten israelischen Journalisten stolz seinen Trick. Der
Botschafter nahm Urlaub und flog nach Hause.
Die Türkei reagierte inoffiziell mit der Mavi
Marmara, um die Gaza-Blockade zu brechen. Neun Türken wurden
getötet. Die Türkei war in Aufruhr. Erdogan verlangte eine
Entschuldigung. Hier kam das Prestige dazu.
Man kann sich natürlich darüber streiten, ob die
ganze Sache nicht eine vorsätzlich geplante Taktik von Erdogan war,
um den Kurs zu ändern, mit Israel Schluss zu machen und sich nach
anderen Verbündeten umzusehen. Wenn es so ist, ist es von unserer
Regierung noch dümmer, in seine Hände zu spielen.
ALS DER Arabische Frühling ausbrach, sprang die
Türkei auf den fahrenden Wagen auf und schlug eine
türkisch-ägyptische Achse vor, was an die guten alten Zeiten des
ottomanischen Empire erinnert. Israel andrerseits blieb bei seiner
üblichen Linie.
Statt sich darüber klar zu sein, was geschehen
war, hielt sich unsere Regierung an die zerbrochene Diktatur von
Husni Mubarak. Wenn sie sich unmittelbar und voll und ganz zu
Gunsten der Revolution ausgesprochen hätte, hätte sie vielleicht in
der ägyptischen öffentlichen Meinung, die Mubarak als einen gut
bezahlten amerikanischen Lakaien verachtete (der Israel half, 1,5
Millionen arabische Brüder im Gazastreifen auszuhungern ), eine
sichere Position gewonnen.
Der israelische Nachrichtendienst realisierte
nicht, dass wir einem historischen Erdbeben gegenüber stehen, das
die Region verändern wird. Tatsächlich sieht er nie voraus oder
versteht die Ereignisse in der arabischen Welt nie– geblendet von
seiner Verachtung gegenüber den Arabern.
Die Folge davon war, dass ägyptische
Menschenmengen die israelische Botschaft angriffen, und den
Botschafter und seinen Stab aus dem Land zu fliehen zwangen, und
dass Saboteure wiederholt die Pipeline sprengten, die ägyptisches
Gas zu sehr niedrigen Preisen (wahrscheinlich dank Bestechung
entsprechender Leute) nach Israel transportiert.
Es wird jetzt gesagt, die ägyptische
Öffentlichkeit sei immer gegen den Frieden mit Israel gewesen, ohne
dass dies unser Fehler gewesen wäre. Das stimmt nicht. Ich war ein
paar Tage nach Anwar Sadats historischem Besuch in Jerusalem in
Kairo und fand die ägyptische Hauptstadt in einem Freudentaumel vor.
Unzählige Israelis haben seitdem Ägypten besucht und wurden immer
und überall mit größter Freundlichkeit empfangen. Erst als Israels
Besatzung der palästinensischen Gebiete immer schlimmer wurde,
fühlten sich die Ägypter betrogen.
Liebermann und Co. haben die Türkei verloren und
sind dabei, auch Ägypten zu verlieren, unsere wichtigsten
Verbündeten in der Region – und haben ein Dutzend andere Nationen
beleidigt, gedemütigt und sind ihnen auf die Zehen getreten. Aber
sie haben zweifellos viel Prestige gewonnen.
LEUTE, DIE in der Politik nach Logik suchen,
kommen oft zu Verschwörungstheorien.
Als die gegenwärtige Regierungskoalition
aufgestellt wurde, ersuchte Lieberman das Ministerium für Aufnahme
von Immigranten, das Justizministerium, das für Innere Sicherheit
(Polizei) und das Außenministerium.
Immigranten – das war natürlich. Seine Wähler
waren vor allem Immigranten aus der früheren Sowjetunion.
Justizministerium und Polizei – auch natürlich. Die Polizei ist
dabei, eine endlose Untersuchung gegen ihn durchzuführen, die
mysteriöses Kapital betreffen, die er und seine junge Tochter aus
osteuropäischen Quellen empfangen haben. Es wäre also gut, etwas
Kontrolle über die Justiz und Polizei zu haben.
Aber das Außenministerium? Wozu? Warum nicht das
Verteidigungsministerium, das weit mehr Prestigewert hat, oder das
ungeheuer mächtige Finanzministerium?
Einer meiner Bekannten kam mit einer Theorie: was
wäre , wenn die Russen ….
Lieberman verbringt eine Menge Zeit in Russland,
Weißrussland, in der Ukraine und in seinem Herkunftsland Moldavien.
Wer außer Russland hat Interesse daran, die internationale Position
Israels zu zerstören, den engsten Verbündeten der USA? Wäre es
nicht für Vladimir Putin vernünftig gewesen ….
Aber das ist natürlich ein Witz. Nicht nur, dass
Lieberman als aufrechter israelischer Patriot bekannt ist, so
patriotisch, dass keiner neben ihm besteht, aber kein Agentenchef in
Moskau würde einen Mann mit unsteten Augen als seinen Agenten
akzeptieren, der auch noch mit einem starken russischen Akzent
redet.
Nein, da muss es einen anderen Grund geben. Aber
welchen?
EIN AUSLÄNDISCHER Journalist fragte mich
neulich: „Aber was denken sie?“
„Sie“ – Netanjahu, Lieberman und die anderen -
sind dabei, alle unsere noch verbliebenen Freunde zu verlieren,
während sie Barack Obama demütigen. Sie sabotieren die
Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen. Sie bauen überall
Siedlungen.
Wenn die Zwei-Staaten-Lösung schließlich
unmöglich gemacht wird, was bleibt dann noch?
Ein vereinigter Staat vom Mittelmeer bis zum
Jordan? Welche Art von Staat würde das sein? Sie sind absolut gegen
einen bi-nationalen Staat, der eine totale Negation des Zionismus
sein würde. Ein Apartheid-Staat? Wie lange könnte der dauern?
Die einzige „rationale“ Alternative wäre eine
totale ethnische Säuberung , die Vertreibung von 5,5 Millionen
Palästinensern aus der Westbank, dem Gazastreifen und aus Israel
selbst. Ist das möglich? Würde die Welt dies tolerieren, wenn sie
nicht gerade durch eine Invasion vom Mars abgelenkt würde?
Die Antwort ist: „Sie“ denken nicht darüber nach.
Die Israelis haben sich daran gewöhnt, sehr kurzfristig zu denken.
Die Amerikaner sagen: „Ein Staatsmann denkt an die nächste
Generation, ein Politiker denkt an die nächste Wahl.“ Oder wie der
zionistische Führer Chaim Weizmann zu sagen pflegte: „Die Zukunft
wird kommen und für die Zukunft sorgen.“
Es gibt keine nationale Debatte, nur ein vager
Wunsch, das alles so bleiben möge. Rechte Zionisten wollen am ganzen
historischen Palästina festhalten, linke Zionisten wollen so viel
wie möglich festhalten. So weit geht das Denken.
Die alten hebräischen Weisen sagten: „Wer ist ein
Held? Der seinen Feind in einen Freund verwandelt“. Die modernen
Weisen, die uns regieren, haben dies umgedreht: „Wer hat das größte
Prestige? Der seine Freunde zu Feinden macht.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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