Die schwarze Fahne
Uri Avnery, 31.1.09
EIN SPANISCHER Richter hat eine gerichtliche Untersuchung gegen
sieben israelische Politiker und Militärs wegen des Verdachtes auf
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeordnet.
Der Fall: die im Jahre 2002 abgeworfene Ein-Tonnen- Bombe auf das
Wohnhaus des Hamasführers Salah Shehadeh. Außer dem vorgesehenen
Opfer wurden 14 Personen getötet, die meisten von ihnen waren
Kinder.
Für diejenigen, die diesen Vorfall vergessen haben: der damalige
Kommandeur der israelischen Luftwaffe Dan Halutz wurde damals danach
gefragt, was er wohl empfinde, wenn er solch eine Bombe auf ein
Wohngebäude fallen lässt. Seine unvergessliche Antwort lautete:
„einen leichten Ruck am Flügel“. Als wir von Gush Shalom ihn eines
Kriegsverbrechens beschuldigten, forderte er, dass wir wegen
Hochverrats angeklagt würden. Der Ministerpräsident Ariel Sharon
schloss sich ihm an. Er behauptete, wir würden die israelischen
Armeeoffiziere dem Feind übergeben wollen. Der Generalstaatsanwalt
benachrichtigte uns offiziell, dass er nicht beabsichtige wegen des
Bombardement gegen die Verantwortlichen eine Untersuchung
einzuleiten.
Ich sollte deshalb glücklich sein, dass schließlich und endlich
jemand bereit ist, diese Tat vor Gericht zu bringen ( selbst wenn
dies anscheinend durch politischen Druck vereitelt worden ist.) Aber
es bedrückt mich, dass dies in Spanien geschieht und nicht in
Israel.
DIE ISRAELISCHEN Fernsehzuschauer werden seit kurzem mit seltsamen
Bildern konfrontiert worden: Armeeoffiziere erschienen nur mit
unkenntlich gemachten Gesichtern , so wie man es bei Kriminellen
tut, wenn das Gericht ihre Identifizierung verbietet. Pädophile z.B.
oder Verbrecher gegen alte Frauen.
Auf Befehl des Militärzensors wird dies bei allen Offizieren
angewandt, vom Bataillonkommandeur abwärts, die am Gazakrieg
beteiligt waren. Da die Gesichter der Brigadekommandeure und der
ranghöheren Offiziere allgemein bekannt sind, wurde bei ihnen diese
Methode nicht angewandt.
Direkt nach der Feuerpause brachte der Verteidigungsminister Ehud
Barak ein Sondergesetz ein, das allen am Gazakrieg beteiligten
Offizieren und Soldaten unbegrenzte Unterstützung des Staates
zusagt, falls sie im Ausland wegen Kriegsverbrechen angeklagt
würden. Dies scheint das hebräische Sprichwort zu bestätigen: „Der
Hut brennt auf dem Kopf des Diebes “.
ICH BIN nicht gegen Anklagen im Ausland. Hauptsache ist, dass
Kriegsverbrecher, wie Piraten, überall verurteilt werden können,
wobei es unwichtig ist, wo sie gefangen genommen wurden. ( Diese
Regel wurde vom Staat Israel angewandt, als er Adolf Eichmann in
Argentinien entführte und wegen seiner schändlichen Verbrechen zum
Tode verurteilte, obwohl er sie außerhalb des Territoriums von
Israel begangen hatte - ja sogar bevor der Staat überhaupt
existierte).
Doch als israelischer Patriot wäre es mir lieber, dass Israelis, die
sich an Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben, in Israel vor
Gericht gebracht würden. Dies ist für das Land notwendig, für alle
anständigen Offiziere und Soldaten der israelischen Armee, für die
Erziehung zukünftiger Generationen von Bürgern und Soldaten.
Es
ist nicht nötig, sich allein auf das Völkerrecht zu verlassen. Es
gibt auch israelische Gesetze gegen Kriegsverbrechen. Es genügt, den
unvergesslichen Satz zu erwähnen, der vom Richter Binyamin Halevy -
als Militärrichter - bei dem Prozess gegen die Grenzpolizisten
geprägt wurde, die 1956 für das Massaker in Kafr Kassem
verantwortlich waren, bei dem Dutzende von Kindern, Frauen und
Männern niedergemäht wurden. Sie verletzten eine Ausgangssperre, von
der sie nicht einmal etwas wussten.
Der Richter verkündete, dass es selbst in Kriegszeiten Befehle gebe,
über denen „die schwarze Flagge der Illegalität wehe“. Es sind
Befehle, die „offensichtlich“ illegal sind – d.h. es sind Befehle,
die jeder normale Mensch als illegal erkennt, ohne dass man einen
Rechtsanwalt befragen müsste.
Kriegsverbrecher entehren die Armee, deren Uniform sie tragen – ob
sie Generäle oder gemeine Soldaten sind. Als Frontsoldat am Tage,
an dem die israelische Verteidigungsarmee offiziell gegründet wurde,
schäme ich mich für sie und verlange, dass sie unehrenhaft entlassen
und in Israel vor Gericht gebracht werden.
Meine Liste von Verdächtigen schließt Politiker, Soldaten, Rabbiner
und Anwälte ein.
ES
GIBT nicht den geringsten Zweifel, dass im Gazakrieg Verbrechen
begangen wurden. Es ist nur die Frage, in welchem Ausmaß und von
wem.
Ein Beispiel: Soldaten rufen den Bewohnern eines Hauses zu, es zu
verlassen. Eine Frau und ihre vier Kinder kommen heraus und winken
mit weißen Taschentüchern. Es ist absolut klar, dass sie keine
bewaffneten Kämpfer sind. Ein Soldat aus einem in der Nähe
stehenden Panzer steht auf, zückt sein Gewehr und erschießt sie aus
nächster Nähe. Nach Zeugenaussagen scheint dies zweifellos mehr als
einmal geschehen zu sein.
Ein anderes Beispiel: die Bombardierung der mit Flüchtlingen
belegten UN-Schule, aus der nicht heraus geschossen wurde. Dies war
von der Armee zugegeben worden, nachdem die ursprünglichen Vorwände
widerlegt worden waren.
Dies sind „einfache“ Fälle. Aber das Spektrum der Fälle ist viel
weiter. Eine ernste juristische Untersuchung muss ganz oben
beginnen: die Politiker und ranghohen Offiziere, die den Krieg
entschieden und seine Pläne bestätigten, müssen nach ihren
Entscheidungen gefragt werden.
Im
Nürnberger Prozess wurde festgelegt, dass ein Angriffskrieg ein
Verbrechen ist.
Eine unabhängige Untersuchung müsste herausfinden, ob die
Entscheidung, den Krieg zu beginnen, gerechtfertigt war oder ob es
einen anderen Weg gegeben hätte, das Abschießen der Qassamraketen
auf israelisches Territorium zu beenden. Zweifellos kann und soll
kein Land dulden, dass seine Städte und Dörfer von jenseits der
Grenze bombardiert werden. Aber hätte dies nicht durch Verhandeln
mit den Gaza-Behörden verhindert werden können? War die Entscheidung
unserer Regierung, die Hamas, den Sieger der demokratischen
palästinensischen Wahlen, zu boykottieren, der wahre Kriegsgrund?
War die Verhängung einer Blockade über anderthalb Millionen Bewohner
des Gazastreifens nicht mit eine Ursache für das Abfeuern der
Qassams? Kurz gesagt: wurden Alternativen in Erwägung gezogen,
bevor entschieden wurde, einen solch mörderischen Krieg zu
beginnen?
Der Kriegsplan umfasste einen massiven Angriff auf die zivile
Bevölkerung des Gazastreifens ein. Die wirklichen Ziele eines
Krieges können weniger durch die offiziellen Erklärungen seiner
Initiatoren als durch ihre Taten verstanden werden. Wenn in diesem
Krieg etwa 1300 Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, von denen
der größte Teil keine Kämpfer waren; wenn etwa 5000 Menschen
verletzt wurden und die meisten von ihnen Kinder waren; wenn etwa 17
000 Häuser teilweise oder 4000 ganz zerstört wurden; wenn die
Infrastruktur des Lebens total zerstört wurde – dann ist das alles
nicht zufällig geschehen. Es muss ein Teil des Kriegsplanes gewesen
sein
Das, was während des Krieges von Politikern und Offizieren gesagt
wurde, machte klar, dass der Plan wenigstens zwei Ziele hatte, die
als Kriegsverbrechen angesehen werden könnten: 1. ein Maximum an Tod
und Zerstörung verursachen, um „einen Preis festzusetzen“ ; um „es
in ihr Bewusstsein einzubrennen“; um „die Abschreckung wieder
herzustellen“ und vor allem die Bevölkerung dahin zu bringen, sich
gegen die Hamas zu erheben und die Regierung zu stürzen. Dies geht
ganz klar gegen die zivile Bevölkerung. 2. unter allen (wörtlich
gemeint: allen ) Umständen Todesopfer in unserer Armee verhindern,
indem jedes Gebäude zerstört und jedes menschliche Wesen in der
Gegend getötet werden soll, in der sich unsere Soldaten bewegten.
Das schloss auch die Zerstörung von Häusern über den Köpfen ihrer
Bewohner ein und dass Ambulanzen daran gehindert wurden, die
Verletzten zu erreichen, und das Töten von Menschen ohne
Unterschied. In gewissen Fällen wurden Bewohner vorher gewarnt, sie
sollten fliehen, aber das war nur eine Alibi-Aktion: es gab keinen
Ort, an den man fliehen konnte, und oft wurde auf Leute das Feuer
eröffnet, während sie zu fliehen versuchten.
Ein unabhängiger Gerichtshof wird zu entscheiden haben, ob solch
ein Kriegsplan in Übereinstimmung mit dem nationalen und
internationalen Gesetz ist oder ob es von Anfang an ein Verbrechen
gegen die Menschlichkeit war und ein Kriegsverbrechen.
Dies war ein Krieg einer regulären Armee mit gewaltigen
Möglichkeiten gegen eine Guerillatruppe. Auch in solch einem Krieg
ist nicht alles erlaubt. Argumente wie „die Hamasterroristen
versteckten sich zwischen der zivilen Bevölkerung“ und „sie
benützten die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde“ können
effektive Propagandaschlagworte sein – sie sind aber irrelevant:
das gilt für jeden Guerillakrieg. Das muss berücksichtigt werden,
wenn eine Entscheidung getroffen wird, solch einen Krieg in Betracht
zu ziehen.
In
einem demokratischen Staat bekommt das Militär die Befehle von der
politischen Führung. Gut.
Aber das schließt nicht „offensichtlich“ illegale Befehle ein, über
denen die schwarze Flagge der Illegalität weht. Seit den Nürnberger
Prozessen, gibt es die Entschuldigung „Ich habe nur Befehle
ausgeführt“ nicht mehr.
Darum muss die persönliche Verantwortung aller Beteiligten, vom
Stabschef, dem Frontkommandeur, dem Divisionskommandeur bis zum
letzten Soldaten geprüft werden. Aus Gesprächen mit Soldaten muss
man schließen, dass viele glaubten, es sei ihre Aufgabe, „so viele
Araber wie möglich umzubringen“ . Das bedeutet, keinen Unterschied
zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern zu machen. Das ist ein total
illegaler Befehl, ob er nun explizit gegeben wurde oder nur mit
einem Augenzwinkern. Die Soldaten verstanden dies als „den Geist des
Kommandeurs.
UNTER DENEN, die der Kriegsverbrechen verdächtigt werden, haben
Rabbiner einen „Ehrenplatz“.
Diejenigen, die zu Kriegsverbrechen anstacheln und Soldaten direkt
oder indirekt aufrufen, Kriegsverbrechen zu begehen, können selbst
eines Kriegsverbrechens schuldig sein .
Wenn man von „Rabbinern“ spricht, denkt man an alte Männer mit
langen, weißen Bärten und großen Hüten, die ehrwürdige Weisheiten
von sich geben. Doch die Rabbiner, die die Soldaten begleiten, sind
eine andere Spezies.
Während der letzten Jahrzehnte hat das vom Staat finanzierte
religiöse Bildungssystem „Rabbiner“ produziert, die eher
mittelalterlichen christlichen Priestern ähneln als den jüdischen
Weisen aus Polen und Marokko. Dieses System indoktriniert seine
Schüler mit einem gewalttätigen Stammeskult, der völlig
ethnozentrisch ist: die ganze Weltgeschichte sei nichts anderes
als eine endlose Geschichte der Juden als Opfer. Dies ist die
Religion eines Auserwählten Volkes, anderen Völkern gegenüber
gleichgültig, eine Religion ohne Mitleid für die, die nicht jüdisch
sind, die den von Gott angeordneten Genozid – im biblischen Buch
Josua beschrieben - verherrlicht.
Die Früchte dieser Erziehung sind jetzt die „Rabbiner“, die nun die
religiöse Jugend unterrichten. Mit deren Ermutigung ist ein
systematischer Versuch unternommen worden, die israelische Armee
von innen heraus zu übernehmen. Kippa-tragende Offiziere haben die
Kibbutzniks ersetzt, die noch bis vor kurzem in der Armee
vorherrschend waren. Viele Offiziere der unteren und mittleren
Ränge gehören nun zu dieser Gruppe.
Das herausragendste Beispiel unter ihnen ist der Armee-Chef-Rabbiner
Oberst Avishai Ronski, der erklärt hat, es sei sein Job, den
Kampfgeist der Soldaten neu zu stärken. Er gehört zur äußersten
Rechten und ist nicht weit entfernt von der Einstellung des
verstorbenen Rabbiners Meir Kahane, dessen Partei in Israel wegen
ihrer faschistischen Ideologie verboten ist. Unter der
Schirmherrschaft des Armee-Rabbinats wurden religiös-faschistische
Broschüren der ultra-rechten „Rabbiner“ an die Soldaten verteilt.
Dieses Material schließt politische Aufhetzung ein, so wie die
Behauptung, dass die jüdische Religion es verbietet, „ auch nur
einen Millimeter von Eretz Israel aufzugeben“, dass die
Palästinenser wie die biblischen Philister (von denen der Name
Palästina abgeleitet wurde) ein fremdes Volk seien, das das Land
überfallen habe, und dass jeder Kompromiss (so wie es das offizielle
Regierungsprogramm aufzeigt) eine Todsünde sei. Die Verteilung von
politischer Propaganda verstößt natürlich gegen das Militärgesetz.
Die Rabbiner riefen die Soldaten offen auf, grausam und gnadenlos
gegenüber den Arabern zu sein.
Sie barmherzig zu behandeln – so behaupteten sie – sei eine
schreckliche, entsetzliche Unmoral“. Wenn solches Material an
religiöse Soldaten verteilt wird, die in einen Krieg gehen, ist es
nicht schwer, sich vorzustellen, warum die Dinge so geschehen sind,
wie sie geschahen.
DIE PLANER dieses Krieges wussten, dass der Schatten von
Kriegsverbrechen über der geplanten Operation schwebte. Darum wurde
der Staatsanwalt (dessen offizieller Titel „Rechtsberater der
Regierung“ ist), an der Planung beteiligt. In dieser Woche
enthüllte der Armeechefanwalt Oberst Avichai Mandelblit, dass seine
Offiziere während des ganzen Krieges die Kommandeure – vom Stabschef
bis zum Divisionskommandeur hinunter – begleitet haben.
All dies zusammen führt zur unausweichlichen Schlussfolgerung, dass
die Rechtsberater direkte Verantwortung für die Entscheidungen
tragen, die getroffen und ausgeführt wurden – von den Massakern an
den zivilen Polizeirekruten bei der Vereidigungszeremonie bis zum
Bombardieren der UN-Einrichtungen. Jeder Anwalt, der ein Partner bei
den Überlegungen war, bevor ein Befehl gegeben wurde, ist
verantwortlich für seine Folgen, es sei denn, er kann beweisen, dass
er dagegen war.
Der Chefanwalt, dessen Aufgabe es ist, der Armee professionellen
und objektiven Rat zu geben, spricht über den „ungeheuerlichen
Feind“ und versucht, die Aktionen der Armee zu rechtfertigen, indem
er sagt, dass es ein Kampf gegen „einen hemmungslosen Feind“ gewesen
sei, der den „Tod liebe“ und Schutz „hinter dem Rücken der Frauen
und Kinder“ findet. Solch eine Sprache ist vielleicht in der Rede
eines kriegstrunkenen Einsatzkommandeurs entschuldbar, wie dem
Bataillonchef , der seinen Soldaten den Selbstmord empfahl, bevor
sie gefangen genommen werden, aber solch eine Sprache ist
unannehmbar, wenn sie vonseiten des Chefs der Armeejustiz kommt.
WIR MÜSSEN alle juristischen Möglichkeiten hier in Israel
ausschöpfen, auf einer unabhängigen Untersuchung und auf der Anklage
der verdächtigen Täter bestehen. Wir müssen dies fordern, selbst
wenn die Chancen, dass dies durchgeführt wird, tatsächlich gering
sind.
Wenn diese Bemühungen misslingen, wird niemand in der Lage sein,
sich gegen Gerichtsverfahren im Ausland zu wehren, weder bei einem
Internationalen Gerichtshof noch bei Gerichten jener Nationen, die
die Menschenrechte und das Völkerrecht achten.
Bis dies geschieht, wird die schwarze Flagge wehen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz vom Verfasser
autorisiert)
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