TRANSLATE
Des Königs Rede
Uri Avnery, 3. Dezember 2011
MITTE DER 80er-Jahre übermittelte mir
ein deutscher Diplomat eine überraschende Botschaft. Ein Mitglied
der jordanisch-königlichen Familie würde mich gerne in Amman
sprechen. In jener Zeit war Jordanien offiziell noch im Krieg mit
uns.
Irgendwie erhielt ich eine offizielle
Erlaubnis von der israelischen Regierung. Die Deutschen versahen
mich großzügig mit einem Pass, der streng genommen nicht ganz in
Ordnung war, und so kam ich mit einigem Augenzwinkern in Amman an
und wurde im besten Hotel untergebracht.
Die Nachricht von meinem Aufenthalt
verbreitete sich schnell, und nach einigen Tagen wurde dies für die
jordanische Regierung peinlich. Also wurde ich höflich darum
gebeten, das Land, bitte schön, sehr schnell wieder zu verlassen.
Aber vorher lud mich ein hochrangiger
Beamter in ein elegantes Lokal zum Essen ein. Er war eine hoch
gebildete, sehr kultivierte Person, die wunderbar englisch sprach.
Zu meinem äußersten Erstaunen erzählte er mir, er sei ein Beduine,
Mitglied eines bedeutenden Stammes. All meine Vorstellungen von
Beduinen wurden in einem Augenblick zunichte gemacht.
Dieses Essen blieb in meinem Gedächtnis;
denn in (buchstäblich) zehn Minuten lernte ich mehr über Jordanien
als in Jahrzehnten durch Lesen. Mein Gastgeber nahm eine
Papierserviette und zeichnete eine grobe Skizze von Jordanien.
„Sehen Sie auf unsere Nachbarn“, erklärte er, „hier ist Syrien, eine
radikale säkulare Diktatur der Baathpartei. Dann ist da der Irak,
auch mit einem Baath-Regime, das Syrien hasst. Als nächstes ist da
Saudi-Arabien, ein sehr konservatives, orthodoxes Land. Und hier ist
Ägypten mit einem prowestlichen, militärischen Diktator. Dann ist da
das zionistische Israel. In den besetzten palästinensischen
Gebieten kommen langsam radikale, revolutionäre Elemente hoch. Und
hier berührt uns fast ein fragmentierter, unberechenbarer Libanon.“
„Aus all diesen Ländern,“ fuhr er fort,
„strömen Flüchtlinge, Agenten und ideologische Einflüsse nach
Jordanien. Wir müssen sie alle absorbieren. Wir müssen einen sehr
empfindlichen Balanceakt spielen. Wenn wir zu nah an Israel heran
kommen, müssen wir am nächsten Tag Syrien befrieden. Wenn wir eines
Tages Saudi Arabien umarmen, müssen wir am nächsten Tag den Irak
küssen. Wir dürfen uns mit keinem verbünden.“
Einen anderen Eindruck nahm ich mit: die
Palästinenser in Jordanien ( außer den Flüchtlingen im
Flüchtlingslager, die ich nicht traf) sind vollkommen zufrieden mit
dem Status quo; sie beherrschen die Wirtschaft, werden reich und
beten um die Stabilität des Regimes.
ICH WÜNSCHTE, alle einflussreichen
Israelis hätten eine solche, die Augen öffnende Lektion erhalten,
weil es in Israel die seltsamsten Ideen über Jordanien gab und noch
immer gibt.
Gewöhnlich ist es das Bild eines
lächerlich kleinen Landes, das von aggressiven und primitiven
Beduinenstämmen beherrscht wird, während die Mehrheit aus
Palästinensern besteht, die ständig eine Verschwörung planen, um
die Monarchie zu stürzen, damit sie an die Macht kommen.
(Dies erinnert mich an ein anderes
Gespräch – diesmal in Kairo – mit dem damaligen stellvertretenden
Außenminister Boutros Boutros-Ghali, einem Kopten und einem der
intelligentesten Personen, denen ich je begegnet bin. „Israelische
Experten für arabische Angelegenheiten gehören zu den Besten in der
Welt“, sagte er zu mir, „sie haben alles gelesen, sie wissen alles
und sie verstehen nichts, weil sie nie in einem arabischen Land
gelebt haben.“)
Bis zum Oslo-Abkommen hat die ganze
israelische Elite die „Jordanische Option“ gut geheißen. Die Idee
war, dass nur König Hussein bereit war, mit uns Frieden zu
schließen, und dass er uns Ostjerusalem geben würde und Teile der
Westbank als Geschenk. Hinter dieser irrtümlichen Annahme verbarg
sich die traditionelle zionistische Entschlossenheit, das
palästinensische Volk zu ignorieren und um jeden Preis die Schaffung
eines palästinensischen Staates zu verhindern.
Eine andere Version dieser Idee beruht
auf dem Slogan „Jordanien ist Palästina“. Neun Monate vor dem 1.
Libanonkrieg wurde mir dies von Ariel Sharon erklärt: „Wir sollten
die Palästinenser aus dem Libanon nach Syrien vertreiben. Die Syrer
werden sie nach Süden nach Jordanien abschieben. Dort sollen sie den
König stürzen und Jordanien in Palästina verwandeln. So wird das
palästinensische Problem verschwinden. Und der verbleibende Konflikt
wird eine normale Meinungsverschiedenheit zwischen zwei souveränen
Staaten sein, zwischen Israel und Palästina“.
„Und was ist mit der Westbank?“ fragte
ich.
„Wir werden mit Jordanien einen
Kompromiss erreichen“, antwortete er, „vielleicht eine gemeinsame
Herrschaft, vielleicht eine Art funktionelle Teilung.“
Diese Idee taucht immer wieder einmal
auf. In dieser Woche hat einer der hyperaktiven und nicht ganz
zurechnungsfähigen parlamentarischen Typen noch eine andere
Gesetzesvorlage eingereicht: Sie wird „Jordanien – der Nationalstaat
des palästinensischen Volkes“ genannt.
Abgesehen von der Kuriosität eines
Landes, das ein Gesetz herausgibt, um den Charakter eines anderen
Landes zu definieren, war es politisch eine peinliche Angelegenheit.
Doch statt diese nur rauszuwerfen, wurde sie an ein Unterkomitee
weitergegeben, wo die Beratungen als solche geheim sind.
SEINE MAJESTÄT König Abdallah ist
besorgt. Er hat dafür gute Gründe.
Da ist zum einen der demokratische
arabische Frühling, der in sein autokratisches Königreich
herüberschwappen könnte. Zum anderen gibt es im benachbarten Syrien
einen Aufstand, der Flüchtlinge nach Süden drängt. Und da gibt es
den wachsenden Einfluss des schiitischen Iran, der für seine
entschiedene sunnitische Monarchie nicht gut aussieht.
Aber all dies ist nichts, verglichen mit
der wachsenden Bedrohung aus dem radikalen Israel mit dem extrem
rechten Flügel.
Die größte unmittelbare Gefahr - seiner
Ansicht nach – ist die wachsende israelische Unterdrückung und
Kolonisierung der Westbank. An einem dieser Tage könnte sie Massen
von palästinensischen Flüchtlingen dahin drängen, dass sie den
Jordan überqueren, in sein Königreich strömen und die angespannte
demographische Balance zwischen Einheimischen und Palästinensern in
seinem Land stören.
Es war diese Angst, die seinen Vater,
König Hussein, veranlasste, während der 1. Intifada alle
Verbindungen mit der Westbank abzubrechen, die von seinem Großvater
nach dem 1948er-Krieg an Jordanien angeschlossen wurde ( Der
Ausdruck „Westbank“ ist jordanisch, um von der Eastbank – dem
Jordan-Ostufer zu unterscheiden, das ursprüngliche Transjordanien.)
Wenn „Jordanien Palästina ist “, dann
gibt es für Israel keinen Grund , die Westbank nicht zu annektieren,
palästinensisches Land zu enteignen, die bestehenden Siedlungen zu
vergrößern und neue zu schaffen und allgemein die Palästinenser zu
„überzeugen“, ein besseres Leben östlich des Flusses zu suchen.
Mit diesen Ideen im Hinterkopf sprach
der König seine Sorge in einer weit verbreiteten und
veröffentlichten Rede in dieser Woche aus. Darin erwog er die
Möglichkeit einer Föderation zwischen Jordanien und dem noch
besetzten Staat Palästina in der Westbank auf, offensichtlich den
israelischen Absichten zuvorzukommen. Vielleicht wünscht er auch die
Palästinenser davon zu überzeugen, dass dies ihnen helfen werde, die
Besatzung zu beenden und ihren Antrag zur Aufnahme als UN-Mitglied
zu erleichtern und ein US-Veto zu verhindern oder zu umgehen. (Ich
bezweifle, dass viele Palästinenser sich dafür begeistern werden.)
DIE INITIATOREN der israelischen
Gesetzesvorlage machen es klar, dass ihr Hauptzweck Propaganda ist,
ein Euphemismus für das hebräische Wort „Hasbarah“ ( das wörtlich
„Erklärung“ heißt) . Ihre Idee - so glauben sie –wird ein Ende der
Isolierung und Delegitimation Israels sein. Die Welt wird
akzeptieren, dass es, jenseits des Jordan , den Staat Palästina
schon gibt, so dass kein zweiter auf der Westbank nötig ist.
SEINE MAJESTÄT hat den Verdacht, dass es
noch viel unheimlichere Dimensionen als Propagandatricks gibt und er
hat Recht. Offensichtlich denkt er über tiefere langfristigere
Möglichkeiten nach.
Dies geht auf das grundsätzliche Dilemma
der israelischen Rechten zurück, ein Dilemma, das wohl unlösbar
scheint.
Die israelische Rechte hat die Idee von
„Groß-Israel“ niemals aufgegeben (was im Hebräischen als „das ganze
eretz Israel“ genannt wird). Dies bedeutet die totale Zurückweisung
einer Zwei-Staaten-Lösung in jeder Form und die Schaffung eines
jüdischen Staates vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss.
Doch würden in solch einem Staat von
heute etwa 6 Millionen israelische Juden und 5,5 Mill. arabischer
Palästinenser leben (2,5 Mill. in der Westbank, 1,5 im Gazastreifen,
1,5 als Bürger in Israel) Einige Demographen glauben, dass die
Anzahl noch größer sei. Was dann?
Nach allen demographischen Voraussagen
werden die Palästinenser bald die Mehrheit in dieser geographischen
Entität darstellen.
Einige Idealisten glauben (oder machen
sich selbst etwas vor), dass wenn Israel ernster internationaler
Missbilligung gegenüber steht, es allen diesen Einwohnern die
Staatsbürgerschaft gewährt und die ganze Entität in einen
bi-nationalen oder multi-nationalen oder nicht-nationalen Staat
verwandelt. Auch ohne Umfrage kann man mit Sicherheit sagen, dass
99,999% der jüdischen Israelis mit all ihrer Kraft gegen diese Idee
sind. Es wäre die totale Verneinung von dem, wofür Zionismus steht.
Die andere Möglichkeit würde sein, dass
diese Entität ein Apartheidstaat werden würde – nicht nur teilweise,
nicht nur praktisch, sondern ganz und offiziell. Die große Mehrheit
der jüdischen Israelis würde dies nicht mögen. Es wäre auch eine
Negation der grundsätzlichen zionistischen Werte.
Für dieses Dilemma gibt es keine Lösung
– oder ?
DER KÖNIG glaubt anscheinend, dass es
eine gibt. Sie ist tatsächlich stillschweigend in dem Traum von
Groß-Israel.
Diese Lösung ist eine Wiederholung von
1948: eine Nakba von weit größeren Ausmaßen. Euphemistisch nennt man
dies Transfer.
Dies bedeutet, dass zu einer bestimmten
Zeit, wenn die internationale Lage es zulässt – eine riesige
internationale Katastrophe, die die Aufmerksamkeit auf einen anderen
Teil der Welt lenkt, ein großer Krieg, oder so etwas – die
Regierung die nicht-jüdische Bevölkerung vertreiben wird. Wohin? Die
Geographie diktiert die Antwort: nach Jordanien. Oder in den
zukünftigen Staat Palästina, das einmal Jordanien war.
Ich nehme an, dass fast jeder Israeli,
der die Groß-Israel-Idee unterstützt, dies – wenn auch unbewusst –in
seiner Vorstellung hat. Vielleicht nicht als Aktionsplan für die
nächste Zukunft aber sicher auf die Dauer als die einzige Lösung.
VOR MEHR als 80 Jahren schrieb Vladimir
(Ze’ev) Jabotinsky, der Gründer des revisionistischen Zionismus und
der spirituelle Vater von Binyamin Netanjahu, einige Verse, die vom
Irgun (zu der ich als Junge auch gehörte) gesungen wurde.
Es ist ein nettes Lied mit einer netten
Melodie. Der Refrain lautet: „Der Jordan hat zwei Ufer/ das eine
gehört uns/ und das andere auch.“
Jabotinsky, ein leidenschaftlicher
Bewunderer des italienischen Wiederaufblühens im 19. Jahrhundert,
war ein Ultranationalist und ein ernsthafter Liberaler. In einem
Vers des Gedichtes heißt es: „Der Sohn Arabiens, der Sohn aus
Nazareth und mein eigener Sohn werden dort ihr Glück finden/ Weil
meine Flagge eine Flagge der Reinheit und Ehrenhaftigkeit ist/ sie
wird beide Ufer des Jordan reinigen.“
Das offizielle Emblem des Irgun bestand aus einer
Karte, die Transjordanien einschloss, darüber ein Gewehr gelegt.
Dieses Emblem wurde von Menahem Begins Heruth-Partei („Freiheit“)
geerbt, die Mutterpartei des Likud.
Diese Partei hat vor langem das Ideal der drei
Söhne, die Reinheit und die Ehrenhaftigkeit, aufgegeben. Der Slogan
„Jordanien ist Palästina“ bedeutet, dass es auch den Anspruch auf
das Ostufer des Jordan aufgegeben hat.
Oder doch nicht?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
|