Erschießt nicht den Croupier!
Uri Avnery, 9.4.05
Als einer anständigen Person
erwartet man von mir, dass ich mit den Siedlern von Gush Kativ
Mitleid empfinde, dass ich sie umarme und eine Träne wegen
ihres Leidens vergieße.
Und es gibt tatsächlich Gründe
für Mitleid. Wenn Menschen aus ihrem Umfeld, in dem sie
Jahrzehnte gelebt haben, gerissen werden. Wenn Leute mittleren
Alters gezwungen werden, ihr Leben völlig neu zu beginnen. Wenn
Kinder, die dort geboren wurden, gezwungen werden, in Schulen
anderer Orte zu wechseln. Wenn Leute mit blühenden Geschäften –
wer weiß, unter welchen Bedingungen - sich nun einen neuen
Lebensunterhalt aufbauen müssen.
Aber - so sehr ich es auch
versuche – ich kann wirklich nicht viel Mitleid für sie
aufbringen.
Zunächst einmal ist es eine
Sache der Proportion. Ich selbst habe solch ein Trauma erfahren.
Und so wie ich Millionen anderer Immigranten, die in den letzten
Hundert Jahren in dieses Land gekommen sind – Immigranten aus
Russland, Polen, Deutschland, den arabischen Ländern, der
früheren Sowjetunion. Sie alle haben diese Erfahrung gemacht –
und die meisten unter viel, viel schwierigeren Bedingungen.
Mein Vater war 45 Jahre alt, als
er mit seiner 39 Jahre alten Frau und vier Kindern aus
Deutschland floh. Sie wurden von ihren Familien und Freunden
abgeschnitten, siedelten sich in einem weit entfernten Land an,
mussten sich an eine andere Sprache, eine fremde Landschaft, ein
sehr unterschiedliches Klima, an eine andere Kultur, eine andere
Gesellschaft, andere Sitten und Gebräuche gewöhnen. Keiner gab
ihnen einen Cent, weder als Kompensation noch als Unterstützung.
Beide, Vater und Mutter, waren in ihrer Heimat wohlhabende
Leute. Hier mussten sie uns mit schwerer körperlicher Arbeit
durchbringen , die sie nicht gewöhnt waren. Wir lebten in
tiefster Armut.
Im Vergleich dazu, stellt sich
das „Leiden“ der Siedler wie ein Picknick dar.
Wir hören herzzerreißende
Schreie über das „Entwurzeln von Juden im Lande Israel“. Das ist
ein ganz verlogener Slogan. Nehmen wir an, dass Gush Kativ
tatsächlich ein Teil von Eretz Israel ist - und dies ist
umstritten – dann sind die Orte, in die sie umziehen sollen,
innerhalb Israels. Ashkalon ist eine israelische Stadt, auch
Ashdod und Tel Aviv. Die Weiten Galiläas und der Negev rufen sie
– es gibt keine israelischeren Landschaften als diese.
Wenn man ihre bemitleidenswerten
Schreie hört, könnte man meinen, dass sie in entlegene Länder
jenseits der Berge der Finsternis verbannt werden. Aber die
Entfernung von der bald zu evakuierenden Westbanksiedlung Ganim
zur israelischen Stadt Afula ist wie die zwischen Manhattan
und Queens in New York City. Die Entfernung zwischen Berlin
und Hamburg ist viel größer, und so ist die zwischen London
und Liverpool. Wie viele Leute machen jedes Jahr solch einen
Umzug ?
Man erinnere sich daran, dass
sie dies schon einmal mit Freude und Begeisterung getan haben,
als sie Herzlia, Jerusalem, Beit Alpha und andere Orte
verließen, um in die Siedlungen zu gehen.
„Juden vertreiben Juden !“
winseln die Siedler. In einem demokratischen Land werden Bürger
nicht gezwungen, ihre Häuser zu verlassen!“ Stimmt das denn ?
Wie viele Dörfer wurden in
Ägypten umgesiedelt, um den Assuan-Damm zu bauen? Nun gut,
Ägypten ist keine Demokratie. Aber wie viele Städte und Dörfer
mussten in den demokratischen USA für den Tennessee-Damm Platz
machen? Jede Regierung verlegt Stadt- und Dorfgemeinden, wenn es
das öffentliche Interesse verlangt.
Aber es geht gar nicht um diese
Gründe, warum es mir so schwer fällt, meine Mitleidsdrüsen zu
aktivieren. Der Hauptgrund liegt ganz wo anders.
Ausnahmslos wusste jeder
Siedler, dass er oder sie in ein Gebiet ziehen, das im Krieg
erobert wurde, in dem ein anderes Volk lebt und außerdem
niemals von Israel annektiert wurde - wenn man von Jerusalem und
den Golanhöhen absieht. In anderen Worten: er hat seine Zukunft
aufs Spiel gesetzt.
In der vergangenen Woche wiesen
Anwälte der Regierung im Obersten Gerichtshof darauf hin, dass
jeder Kauf- oder Pachtvertrag von Land in den besetzten Gebieten
eine Klausel enthielt , die explizit feststellte, dass der
Vertrag provisorisch sei. Es ist selbstverständlich: Nach
Internationalem Recht hält Israel diese Gebiete mit einer „kriegsführenden
Besatzung“ besetzt, die vorübergehend ist und nur so lange
besteht, wie die Militärherrschaft. Wenn der Frieden kommt,
verschwindet die Militärherrschaft mit all ihren Gesetzen und
Entscheidungen.
Was nun die Siedler betrifft, so
sind sie alle im Gazastreifen und in der Westbank wie in einem
großen Las Vegas. Sie können nicht sagen, dass sie nicht
vorgewarnt waren: meine Freunde und ich sagten es ihnen von
Anfang der Besatzung an - in der Knesset und in den Medien.
Für viele, die kamen, und denen
es um „Lebensqualität“ ging, war es eine sehr attraktive Wette.
Junge Paare, ohne Mittel, um ein Haus in Israel zu erwerben,
konnten eine Traumvilla auf ihrem „eigenen“ Stück Land in den
„Gebieten“ bauen, fast ohne Kapitalanlage oder mit einer Summe,
die für zwei Räume in einem israelischen Slum kaum genug gewesen
wäre. Alles war fast umsonst: großzügige Infrastruktur,
geräumige Gärten für die Kinder, wunderschöne Landschaft ( mit
dem Blick auf malerische arabische Dörfer oder das Meer).
Lebensqualität.
Unternehmer, die nicht das Geld
hatten, sich in Israel ein Geschäft aufzubauen, konnten dies
in Gush Kativ tun. Es gab genug Land für Gewächshäuser.
Palästinensische Arbeiter, die für einen Hungerlohn schufteten,
weil ihnen die Besatzung alle anderen Möglichkeiten, einen
Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen, abgeblockt
hatte. Oder Thai-Gastarbeiter, die aus dem Ausland importiert
wurden und die bereit sind, 12 Stunden am Tag für niedrigen Lohn
zu arbeiten. Da das israelische Gesetz in Gush Kativ nicht gilt,
gab es auch den „Unsinn“ von Mindestlöhnen, jährlichem Urlaub,
Krankengeld und Entlassungsabfindungen nicht.
Es ist wunderbar, israelischer
Patriot an einem Ort zu sein, an dem die israelischen Gesetze
keine Gültigkeit haben!
Viele Ausbeuter hüllen sich
jetzt in die Nationalflagge, um so zu versuchen, ihre
Privilegien zu retten.
Aber natürlich gibt es auch
einen harten Kern von wirklich nationalistisch-messianischen
Ideologen. Sie siedelten dort, um Groß-Eretz-Israel zu besitzen
( oder eher „das ganze Eretz Israel“ auf hebräisch) und zu
verhindern, dass das palästinensische Volk jemals seine
Freiheit in einem eigenen Staat erhält. Die Siedler verbargen
nie ihre Absicht, die palästinensische Bevölkerung zu
entfernen, und sie durch eine jüdische zu ersetzen.
„Dies ist keine Evakuierung,
dies ist Transfer!“ schreien sie jetzt schamlos und verwenden
das Kodewort für ethnische Säuberung. „Transfer“? Aber von
Anfang an war der Transfer der Palästinenser ihr eigenes Ziel!
„Entfernen“? Aber sie wollten doch die Palästinenser entfernen -
und sie arbeiteten unermüdlich daran. Viele von ihnen halten
dies sogar für ein religiöses Gebot.
„Die Regierung hat uns hierher
geschickt – und nun will sie uns von hier vertreiben!“
Nun, zunächst mal hörten wir
nie, dass jemand gezwungen wurde, in die besetzten Gebiete zu
ziehen. Die verschiedenen Regierungen ermunterten sie,
verletzten das Gesetz und drückten ein Auge zu, beraubten die
Allgemeinheit, um Gelder in die Siedlungen zu schütten. Stimmt.
Aber keiner wurde gezwungen, dorthin zu gehen. Soldaten erhalten
Befehle und haben keine Alternative außer zu gehorchen. Jeder
Siedler hat eine Alternative.
Zweitens, derjenige, der
ernennt, hat auch das Recht, zu entlassen. Derjenige, der
jemanden schickt, hat auch das Recht, zurückzurufen. Wenn die
Siedler nur geschickt sind, können sie auch hier und dorthin
geschickt werden.
Und was das menschliche Mitleid
betrifft – so verlangen es die Siedler zwar von uns – schienen
es aber selbst nie jemand anderem gegenüber praktiziert zu
haben; es ist etwas Widerliches in ihrer Unfähigkeit, den
Anderen zu sehen. Es ist eine Art gefühlsbehindert zu sein. Die
Massenvertreibung der Araber ist in Ordnung. Die Umsiedlung
von ein paar tausend Juden innerhalb des Landes ist ein
„Zweiter Holocaust“. Das „Entfernen von Juden“ aus 20-30 Jahre
alten Siedlungen ist ein schreckliches Verbrechen. Das
Vertreiben von 750 000 Palästinensern, die seit Hunderten oder
Tausenden von Jahren auf ihrem Land gelebt haben, war ein
gerechter Akt der „moralischsten Armee der Welt“. Ein jüdisches
Kind muss bemitleidet werden, da es gezwungen wird, sich mit
seinen Freunden an eine neue Schule zu gewöhnen – aber warum
sollte man Mitleid mit einem arabischen Kind haben, das in
einem verkommenen, armseligen Flüchtlingslager geboren und
aufgewachsen ist.
Ganz zu schweigen von den Akten
der Siedler in Hebron, Yitzhar, Tapuah und vielen anderen Orten,
wo die Bewohner beschossen, Pogrome in Dörfern ausgeführt
werden, das Land mit Gewalt geraubt, Weiden mit Gift besprüht,
Brunnen zerstört, die Olivenbäume ausgerissen, ihre Früchte
gestohlen werden usw. .
Aus all diesen Gründen ist es
sehr schwierig, mit ihnen Mitleid zu haben. Die
„Lebensqualitäts-Siedler“ und die mit messianischer Vision
haben mit großen Wetteinsätzen gespielt. Sie haben mit ihrer
Zukunft gespielt. Sie wetteten und haben verloren.
So wie die Million französischer
Siedler in Algerien, die innerhalb weniger Wochen, als das Land
die Unabhängigkeit erhielt, rausgeschmissen wurden und nach
Frankreich zurückkehrten.
Trotz all dem bin ich nicht
dagegen, sie großzügig zu entschädigen. Im Gegenteil.
Unmittelbar nach dem Oslo-Abkommen beteiligte ich mich an einem
öffentlichen Appell von Gush Shalom an den damaligen
Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, in dem dazu aufgerufen
wurde, den Siedlern, die bereit waren, freiwillig zu gehen,
sofort großzügige Entschädigungen zu zahlen.
Rabin weigerte sich. Ja, es kam
noch schlimmer: er fuhr fort, die Siedlungen mit großer
Geschwindigkeit zu vergrößern, so wie es auch seine Nachfolger
taten.. Selbst die Siedler, die bereit gewesen wären, zu gehen,
konnten nicht und waren praktisch in ihren Siedlungen gefangen,
da sie ihre Häuser nicht verkaufen und wo anders ein neues Leben
beginnen konnten. Tatsache ist: das ist ihre Situation bis zum
heutigen Tag.
Ich sprach von „großzügigen
Kompensationen“. Aber ist man ihnen gegenüber denn etwas
„schuldig“?
Einer, der beim Roulette all
sein Geld verloren hat, kann keine Kompensationen erwarten.
Als eine Maßnahme der
Großzügigkeit, und um ihre Rückkehr zu beschleunigen, würde es
weise sein, den Siedlern das Geld zu zahlen, das sie investiert
haben – und das ist äußerst wenig. Und noch einmal, aus
Großzügigkeit bin ich dafür, genug zu zahlen, um ihnen zu
helfen, in Israel ein neues Leben zu beginnen. Als humanitäre
Geste und auch als Wink gegenüber den Westbanksiedlern, dass es
sich lohnt, so bald wie möglich heimzugehen.
Für Ariel Sharon, der die
Siedler geschubst, verwöhnt und ihnen den Weg bereitet hat, muss
es schwierig sein die Worte zu äußern. Aber wir, die Bürger
Israels, können sagen: Kameraden, Ihr habt gewettet und habt
verloren.
Es ist menschlich, wenn ihr
schreit und euch die Haare rauft. Aber es gibt keinen Grund, den
Croupier zu erschießen. Ihr müsst eure Zwangsneurose zu spielen
überwinden.
Und wenn wir, die Bürger
Israels, bereit sind, euch aus unseren Geldbeuteln großzügige
Kompensationen für die Spielmarken, die ihr verloren habt, zu
zahlen, dann solltet ihr wenigstens den Anstand haben, „Danke!“
zu sagen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |