Der Dschinn in der Wahlurne
Uri Avnery, 2.4.05
Wir schauten
durch die Fenster eines eleganten, modernen Büros auf die Dächer
von Kairo.
Mein
Gesprächspartner war ein Nachkomme der lokalen Aristokratie und
einer der Gründer des ägyptischen Marxismus.
„Wir müssen uns
mit der Muslim-Bruderschaft verbünden,“ sagte er.
Ich war
verwundert. „Sie sind eine vollkommen säkulare Person!“ rief ich
aus. „Sie kämpfen für eine moderne Gesellschaft. Was haben Sie
mit diesen religiösen Fanatikern gemeinsam?“
„Wir Marxisten
haben in der Masse der Bevölkerung keine Wurzeln,“ seufzte er.
„Die Muslimbrüder haben dies. Wir müssen uns mit ihnen
verbinden, um die Masse zu erreichen.“
Ich bemerkte,
dies sei schon im Iran fehlgeschlagen, wo aus demselben Grund
die linke Tudeh-Partei sich vor der Revolution mit Khomeini
verbündete, um dann – als er an der Macht war– von ihm
liquidiert zu werden.
„Wir haben
keine andere Wahl,“ sagte er.
Dieses Gespräch
fand vor mehr als zwanzig Jahren statt. In dieser Woche
erinnerte ich mich daran als ich sah, was sich jetzt in Ägypten
ereignet.
Die westlichen
( und natürlich auch die israelischen) Medien bringen begeistert
Berichte über die Demonstrationen für Demokratie und gegen das
Regime von Husni Mubarak. Einige der Demonstranten sind Linke,
aber die meisten sind Führer der Muslim-Bruderschaft und ihre
Anhänger.
Es gibt keine
Anzeichen, dass das Regime von Mubarak dabei ist zu stürzen. Er
versprach, dass es in den kommenden Präsidentschaftswahlen
andere Kandidaten geben werde; doch dies wurde nur gesagt, um
Präsident Bush zu beschwichtigen, der verzweifelt zu beweisen
versucht, dass seine Invasion im Irak ein demokratisches
Erwachen in der ganzen arabischen Welt verursacht habe. In der
Praxis gibt es überhaupt keine Chance, dass sich in Ägypten
etwas ändern werde. Keinem ernsthaften Kandidaten wird es
erlaubt sein, neben Mubarak zu stehen.
Aber vermuten
wir nur einen Augenblick lang, Mubarak wäre gezwungen, seine
Absicht, selbst wieder gewählt zu werden, aufzugeben und dass
wirklich demokratische Wahlen stattfänden. Wer würde in dieser
hypothetischen Situation gewinnen?
Eine der
wahrscheinlichen Antworten: die Muslim-Bruderschaft. Sie haben –
wie schon erwähnt – tiefe Wurzeln im Volk. Ihre Infrastruktur
hat eine Geschichte von mehr als fünfzig Jahren. Die ägyptische
Oberklasse, die säkular, liberal und weltoffen ist, kann sich
so plötzlich unter dem Joch religiöser Fanatiker wieder finden.
Dieses Dilemma
besteht in fast allen arabischen Ländern: bei wirklich
demokratischen Wahlen werden die islamischen Kräfte gewinnen –
Kräfte, die die Vision eines säkularen, demokratischen und
liberalen Staates, über die Bush so viel redet, ablehnen.
Solch ein
Experiment hat bereits stattgefunden. Algerien hatte
demokratische Wahlen. Bei der ersten Runde wurde klar, dass die
islamischen Kräfte im Begriff waren, einen überwältigenden Sieg
zu gewinnen. Die Armee intervenierte und verhinderte die zweite
Runde. Die Folge davon war ein scheußlicher Bürgerkrieg mit
Hunderttausenden von Opfern. Jetzt – Jahre später - wird ein
Kompromiss gesucht.
Bei den
irakischen Wahlen, auf die Bush so stolz ist, hat die von
Schiiten geleitete Allianz einen eindrucksvollen Sieg errungen.
Dies geschieht unter der Autorität eines religiösen Führers,
Ayatolla Ali Hussaini Al-Sistani, der das Kommando vollkommen
in der Hand hat. Glücklicherweise unterscheidet er sich sehr von
seinem Kollegen im Iran, dem benachbarten schiitischen ( aber
nicht arabischen) Land. Anders als die iranischen Ayatollahs,
die ihr Land regieren, glaubt Al-Sistani, dass die religiöse
Führung sich selbst schaden würde, wenn sie sich direkt in das
politische Leben einmischen würde. Aber auch er wünscht, dass
sich der Staat dem islamischen Gesetz - der Scharia -
unterwirft.
Bis jetzt
begegnet man dem mit Widerstand. Um die zwei Drittel Mehrheit
bei einer Präsidentschaftswahl und der Annahme einer Verfassung
zu erreichen, benötigen die irakischen Schiiten die
Unterstützung der Kurden, die muslimische Sunniten sind. Die
Kurden wollen Autonomie, die an Unabhängigkeit grenzt, und sie
sind gegen die Aufzwingung des islamischen Gesetzes. Das
vorläufige Ergebnis ist: kein Präsident, keine Verfassung –
alles hängt in der Luft.
In der
benachbarten Türkei - auch ein islamisches, aber kein
arabisches Land - gewann vor ein paar Jahren eine islamische
Partei die Wahlen. Als sie begann, islamische Gesetze
einzuführen, intervenierte die Armee und warf sie hinaus. Die
türkische Armee betrachtet sich selbst als Wächter der säkularen
Lehren des großen Atatürk, des Gründungsvaters des modernen,
sehr säkularen türkischen Staates. Bei den letzten Wahlen gewann
eine moderatere islamische Partei. Sie geht sehr vorsichtig
vor, zum Teil, weil sie von der Europäischen Union akzeptiert
werden will, die noch recht zögerlich ist, zum ersten Mal einen
muslimischen Kandidaten als Mitglied aufzunehmen. Die Einführung
religiöser Gesetze könnte das Tor der EU direkt vor der Nase der
Türkei zuschlagen lassen.
In fast allen
arabischen und vielen anderen muslimischen Ländern besteht die
reale Möglichkeit, dass bei wirklich freien Wahlen mehr oder
weniger extreme islamische Parteien gewinnen würden. Die
augenblicklichen Diktaturen in so vielen arabischen Länden - wie
u.a. Libyen, Jordanien, Sudan, Saudi Arabien, die Golfstaten –
stellen sich als Bollwerk gegen fanatische islamische Kräfte
dar.
Wir haben schon
erlebt, dass demokratische Wahlen nicht notwendigerweise zur
Wahl von Demokraten führen. Das klassische Beispiel ist
Deutschland. Die Nazi-Partei kam durch einen demokratischen
Prozess an die Macht – auch wenn sie nie 51% der Stimmen
erreichte. Eine Partei wie die afghanischen Taliban konnten
durch freie Wahlen zur Macht kommen und dann ein extrem
islamisches Regime errichten, die Frauen unterdrücken und Gegner
verfolgen.
Elemente der
Demokratie wie Viel-Parteien-Wahl, freie Wahlkampagnen,
ungehinderten Zugang zu den Medien stellen nicht an sich schon
einen Sieg der Demokratie sicher. Es ist ein angemessenes
soziales Umfeld nötig, die Stärke demokratischer Werte im
öffentlichen Bewusstsein, Akzeptanz der Mehrheitsregierung und
der Schutz der Rechte der Minderheit. Wo diese Realität fehlt,
sind Wahlen leere Gefäße. Der Dschinn des islamischen
Fundamentalismus’ taucht dann aus der Wahlurne auf – genau wie
der Dämon des christlichen Fundamentalismus’ aus der
amerikanischen Wahlurne sprang.
Und wie ist die
Situation in Palästina? Dort gibt es großen Enthusiasmus für
Demokratie. Der kam nicht erst nach dem Tode von Yasser Arafat
auf, wie viele zu glauben schienen. Schon vor neun Jahren fanden
echte demokratische Wahlen in den Gebieten der palästinensischen
Nationalbehörde statt, wie die internationalen Beobachter unter
dem Ex-Präsidenten Jimmy Carter bestätigten. Aber die dominante
Persönlichkeit von Arafat und die Konzentration der Exekutive in
seinen Händen verschleierten diese großartige Errungenschaft.
Jetzt sollen
neue Wahlen für den Legislativrat ( Parlament der
palästinensischen Behörde) und die Ortsräte stattfinden. Das
erste Mal wird die religiöse Hamasbewegung teilnehmen, und man
erwartet, dass sie Erfolg haben wird. Wie in vielen muslimischen
Ländern erscheinen die religiösen Parteien als eine Organisation
mit starkem sozialem Engagement, die von Korruption nicht
beeinträchtigt ist. Dem muss natürlich noch die Aura, die vom
bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzung
herrührt, hinzugefügt werden. (Der Name HAMAS bildete sich aus
den arabischen Anfangsbuchstaben der „Islamischen
Widerstandsbewegung“.)
Ich bin davon
überzeugt, dass die Teilnahme von Hamas an den Wahlen eine gute
Sache ist. Die palästinensische Gesellschaft muss selbst
entscheiden, ob sie eine demokratisch-säkulare oder eine
religiöse Zukunft wünscht. Ich erhoffe mir natürlich den Sieg
der säkularen Kräfte. Aber ich denke, dass das türkische
Beispiel dem algerischen vorzuziehen ist, dass die Integration
der religiösen Kräfte in den demokratischen Prozess besser ist
als ihre gewalttätige Unterdrückung. Integration kann religiöse
Bewegungen mäßigen, Unterdrückung wird sie radikalisieren.
(Genau das
geschah auch in unserm Land: die Integration der orthodoxen
Shas-Partei in das demokratische System war vorteilhaft, während
die Rebellion der jüdischen Fundamentalisten, der Siedler und
ihrer Verbündeten, gegen das demokratische System schlimme
Folgen haben kann.)
Die Folgen des
ganzen Prozesses in der arabischen Welt mögen sehr anders
aussehen als das von oberflächlichen westlichen Politikern, wie
Bush, gemalte Bild. Die arabische Gesellschaft unterscheidet
sich von der westlichen Gesellschaft, und die arabische
Demokratie wird keine Kopie der westlichen Demokratie sein.
Nach Friedrich
dem Großen über religiöse Toleranz soll „jeder nach seiner
eigenen Façon selig werden.“
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |