Der Tag
danach
Uri Avnery , 25.6.05
In der vergangenen Woche wurde das Land von einem schrecklichen
Eisenbahnunglück erschüttert. Ein schwerer Lastwagen überquerte
einen Bahnübergang, als sich ein Zug mit hoher Geschwindigkeit
näherte. Der Lokomotivführer sah den Lastwagen, konnte aber
nicht mehr rechtzeitig stoppen. Der LKW-Fahrer sah den Zug; er
konnte nicht mehr schnell genug von den Schienen kommen. Die
Folge davon: es gab viele Tote, viele Verletzte; es war eine
Szene voller Zerstörung.
Etwas Ähnliches wie dieser Unfall droht jetzt beim Rückzug
aus Gush Kativ. Der Zug der Siedler nähert sich schnell einer
verhängnisvollen Kreuzung. Nur durch ein Wunder werden sie
beizeiten bremsen können. Nur durch ein Wunder wird ein
unheilvoller Zusammenstoß vermieden werden können.
So wie die Dinge jetzt aussehen, ist es wahrscheinlich, dass
dieser Zusammenprall die größte Veränderung in der Geschichte
Israels seit 1967 bringen wird.
Die Siedler können und wollen nicht mehr anhalten. Sie gieren
nach Kampf. Sie sind sich ihrer Macht so sicher. Jahrelange
geheime Zusammenarbeit hat sie davon überzeugt, dass die
herrschende Gruppe des Staates, Armeeoffiziere und Staatsbeamte,
hinter ihnen stehen. Mit Verachtung behandeln sie das
oppositionelle Lager. Genau wie die faschistischen Diktatoren
der 30er Jahre die „degenerierten und verfaulten Demokratien“
verachteten, verachten sie die demokratische Mehrheit.
Selbst wenn die Siedler ihren Zug anhalten wollten, wie jener
unglückliche Lokomotivführer, wären sie nicht mehr in der Lage
dazu. Es liegt im Wesen fanatischer Bewegungen, dass sie
Gruppen hervorbringen, die noch fanatischer sind und die
ihrerseits Gruppen gebären, die sogar noch extremer sind. Sie
können ihren Nachwuchs nicht zügeln, und die Elemente am Rande
geben das Tempo an. Irgend jemand wird mit Gewalt beginnen,
irgend jemand wird das Feuer eröffnen. Die vielen Bewunderer von
Yigal Amir, Rabins Mörder, wollen am Ruhm teilhaben.
Die demokratische Mehrheit ist in Wirklichkeit schwach und
armselig. Sie beobachtet die Ereignisse wie die Menge bei einem
Fußballspiel. Der Kampf um das Schicksal des Staates und seiner
Bewohner ist zu einem Zuschauersport geworden. Doch kann sich
dies auch ganz plötzlich verändern, wenn Dinge passieren, die
den gewöhnlichen Israeli aus seiner faulen Gelassenheit
aufschrecken. Wenn z.B. der erste Soldat von einem Siedler
erschossen wird.
Was dann? Der Israeli, ein Glas Bier in der einen Hand und in
der anderen eine Tüte mit Nüssen, sitzt dösend vor dem
Fernseher und wird plötzlich aufwachen. Er wird begreifen, dass
dies kein Fußballspiel ist, dass es ihn und seine Familie
betrifft. Dass eine Bande messianischer Rabbis und
nationalistischer Rowdis die Kontrolle über sein Leben genommen
haben und sein Land in einen jüdischen Talibanstaat verwandeln
wollen.
Natürlich kann dies auch anders gehen. Nach der Ermordung von
Rabin durch einen messianischen Rechten, der ein Schüler der
Siedler und ein Student der religiösen Bar-Ilan-Universität war,
hätte es eine Möglichkeit gegeben, den verhängnisvollen Einfluss
der extremen Rechten auf den Staat zu brechen. Es geschah nicht.
In seiner Torheit verhinderte Shimon Peres eine unmittelbare,
endgültige Kraftprobe bei den Wahlen. Die Mehrheit ließ sich vom
Sirenenruf der „Versöhnung“ verführen, eine Falle des rechten
Flügels, um der Zerstörung zu entkommen.
Aber wie es jetzt aussieht, ist die Wahrscheinlichkeit groß,
dass der Zusammenprall stattfinden wird. Wer wird gewinnen?
Die Kräfte sind nicht gleich.
Auf der einen Seite ist eine Minorität in Trance, mit einer
inspirierenden nationalistisch-messianischen Ideologie und einer
starken, vereinigten Führung.
Dieses Lager hat ein stehendes Heer und ausgedehnte
Reservekräfte, die in kürzester Zeit mobilisiert werden könnten.
In den Siedlungen sind etwa 200 000 Männer und Frauen, alte
Leute und Kinder, viele von ihnen ( einschließlich Kindern und
sogar Babys ) können zu jeder Zeit zu Aktionen gerufen werden.
Viele von ihnen sind Ex-Soldaten, die meisten von ihnen bis an
die Zähne bewaffnet. In den „Arrangement Yeshivots“ , den Habad-
Institutionen und anderen religiösen Seminaren gibt es noch
zusätzliches Menschenpotential und viele einzelne Menschen, die
bereit sind, ihnen zu Hilfe zu eilen.
Auf der anderen Seite gibt es keine Organisation und keine
Führung. Leute versammeln sich am Freitagabend in ihren
Wohnzimmern und beklagen sich. Sie wälzen sich in einem warmen
und gemütlichen Whirlpool von Verzweiflung. Leute wie ich, die
jahrelang vergeblich versuchten, sie auf die Straße zu
bekommen, Demonstrationen zu organisieren, ihr Rückgrat zu
stärken, sie zu ermutigen, haben sicherlich keine übertriebenen
Hoffnungen.
Aber eine demokratische Öffentlichkeit kann überraschen, wie es
die rechten Diktatoren im 2. Weltkrieg erlebten. Ariel Sharon
entdeckte dies nach den Massakern von Sabra und Shatila, als
Hunderttausende „apathischer“ Leute in einem Sturm der Erregung
auf den Platz in Tel Aviv strömten.
Sollte dies wieder geschehen, dann wird die Demokratie
gewinnen. Der düsterste Alptraum der Siedler würde Realität: der
Aufruf zur Auflösung der Gush Kativ-Siedlungen würde sich in
eine Kampagne zur Auflösung der Siedlungen auf der Westbank
entwickeln. Effektiver amerikanischer Druck könnte auch
plötzlich Form annehmen. In solch einem Wirbelwind würden
vielleicht Sharons Absichten, Pläne und Tricks – und vielleicht
auch der Mann selber irrelevant werden. Die Dynamik des
Prozesses wird ihn wie ein Stück Treibholz in einem Tsunami
davontragen.
Das kann geschehen. Aber es ist überhaupt nicht sicher. Der
Lokomotivführer kann seinen Zug noch im letzten Augenblick zum
Halten bringen. Demokratie mag noch einmal davon kommen. Es kann
enden wie die Weimarer Republik. Der „Abzugsplan“ kann auch
rückgängig gemacht werden. Vielleicht.
Nur eines ist sicher, dass nichts sicher ist. Keiner kann
vorhersagen, wie die Situation am „Tag danach“ aussehen wird.
Doch wir sitzen nicht in einem Theater und warten auf den 5.
Akt, um endlich zu erfahren, wie das Spiel zu Ende geht. Jeder
in Israel ist durch seine Aktionen genau so wie durch sein
Nichtstun Mitspieler in diesem Stück - ob er es will oder
nicht.
Menschen mit einem entwickelten demokratischen Bewusstsein –
Friedensaktivisten, Menschenrechtsaktivisten, soziale Aktivisten
und solche von demokratischen Verbindungen – haben in diesem
Drama eine immens wichtige Aufgabe. Es ist ihre Aufgabe, die
Mehrheit aus ihrem Schlaf zu wecken und sie auf die Straße zu
bekommen, um ihre Entschlossenheit zu stärken, die Demokratie zu
verteidigen und gegen die Angriffe der
messianisch-nationalistischen Rechte aufzustehen. Sie müssen die
Alternative, die andere Option, so hoch und leuchtend empor
halten, damit sie immer vor den Augen der Mehrheit sichtbar
wird.
Zum Beispiel: auf den Straßen findet gerade ein Krieg der
Farben statt. Die Siedler, die die Farbe orange adoptiert haben,
haben es nicht fertig gebracht, „das Land orange zu färben“, wie
sie prahlten, aber viele orange Bänder flattern von vielen
Autoantennen. Auf der anderen Seite gab es mehrere Initiativen,
die anders farbige Bänder flattern ließen. Aber wie es mit
Demokraten geschieht, wird alles ohne Organisation gemacht und
ohne minimale Kooperation: hier blaue Bänder, dort blau-weiße
oder grüne Bänder. Ein Durcheinander.
Aber dies ist vielleicht das erste Zeichen. Die demokratische
Öffentlichkeit erhebt sich langsam. So ist es immer. Man muss
anschieben.
Meine Nase nimmt eine Veränderung wahr. Es ist ein
berauschender Duft, wie der Duft von Oleander, der jetzt durch
unsere Straßen weht.
Ich habe ein besonderes Gefühl für Gerüche großer
Veränderungen. Als ich 10 Jahre alt war, machte ich die
Erfahrung einer völligen Veränderung meines Lebens: ich
wechselte das Land, das Klima, die Sprache und Kultur, den Namen
und den Charakter. Alles veränderte sich. Seitdem bin ich für
drastische Veränderungen sensibilisiert und jeden Augenblick für
sie bereit. Ich erlebte solche Veränderungen noch wenigstens
zweimal: den Krieg 1948 mit der Gründung Israels und beim
Krieg 1967 mit der Schaffung des israelischen Imperiums. Es kann
schon sein, dass ich nahende Veränderungen früher wahrnehme als
andere, so wie manche Tiere, die den kurz bevorstehenden Tsunami
vor den Menschen spürten.
Es gibt für Israel eine Chance eines neuen Anfangs jenseits der
„Abzugs-“Tricks und Sharons Masche. Es gibt die Möglichkeit,
dass sich am „Tag danach“ große neue Möglichkeiten ergeben, die
von vielen schon verzweifelt aufgegeben wurden: eine
Bereitschaft, die Besatzung zu beenden, Frieden zu erreichen und
bis zu einem gewissen Grad auch Versöhnung und gegenseitige
Achtung, und was am wichtigsten ist: das Gesicht Israels als
eines demokratischen, liberalen, säkularen und egalitären
Staates zu erneuern.
Natürlich wird dies nicht vom Himmel fallen. Es hängt mehr als
von allem anderen von unserm Glauben ab, dass dieser Tag
tatsächlich kommen kann.
So wie wir oft singen: „Sagt nicht: der Tag wird kommen! Bringt
den Tag!“
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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