Wer ? Ich?
Uri Avnery, 9.8.06
HEUTE BEGINNT
die 5. Kriegswoche. Es ist kaum zu glauben: unsere
mächtige Armee kämpft jetzt seit 29 Tagen gegen eine
„Bande“ und eine „Terroristenorganisation“, wie die
Militärkommandeure sie gern beschreiben, und die
Schlacht wurde noch nicht entschieden.
Gestern meldeten
militärische Quellen in Israel, dass von den 1200
Hisbollah-Terroristen 400 getötet worden seien. Das
heißt also, es haben nur 1200 gegen Zehntausende
unserer Soldaten gekämpft, die mit den in aller Welt am
besten entwickelten Waffen ausgerüstet sind – und
außerdem sind hundert Tausende israelischer Bürger noch
immer unter Katjuscha-Raketenbeschuss, und unsere
Soldaten werden getötet.
WER? ICH?
Inzwischen gibt schon jeder zu, dass in diesem Krieg
grundsätzlich etwas schief gelaufen ist . Der Beweis:
der „ Krieg der Generäle“, der sonst erst nach
Kriegsende begonnen hat, ist nun schon im Krieg
öffentlich geworden.
Der
Generalstabschef Dan Halutz hat den Schuldigen gefunden:
Udi Adam, den Chef des Kommando Nord. Er hat ihn
praktisch mitten in der Schlacht entlassen. Es ist das
alte Spiel des Diebes, der schreit „Haltet den Dieb!“
Dabei ist es klar, dass die Person, der die Hauptschuld
für die Fehlschläge des Krieges zu geben ist, allein
Halutz selbst ist, der törichterweise glaubte, die
Hisbollah könne mit Luftangriffen besiegt werden.
Doch fliegen
nicht nur an der Armeespitze Anklagen umher. Das
Armeekommando klagt die Regierung an, die in gleicher
Münze zurückzahlt.
Am Abend seiner
Degradierung klagte Udi Adam öffentlich die Regierung
an, er habe keine freie Hand zum Handeln gehabt, also :
die Regierung ist schuld. Ehud Olmert blieb nichts
schuldig und erklärte, die Armee habe keinen Plan zur
Erweiterung der Kampagne vorgelegt. Was wohl so viel
heißen mag wie: wenn ihr inkompetent seid, dann
beschuldigt nicht mich .
Um sich selbst
zu rechtfertigen, fügte Olmert noch einen wichtigen Satz
hinzu: „Vom ersten Tag des Krieges an hat die Regierung
keine einzige Forderung der Armee zurückgewiesen!“ In
andern Worten, es ist der Generalstabschef, der die
Politik macht und den Krieg führt, während die
politische Führung routinemäßig alles abstempelt, was
die Armee „fordert“.
Aber das ist
eine sinnlose Debatte, weil sie die Hauptsache
ignoriert, die von Tag zu Tag klarer wird: es ist
einfach unmöglich, diesen Krieg zu gewinnen. Deshalb
läuft nichts, wie es geplant war.
PLAN? WAS FÜR
EIN PLAN ? Vor vielen Jahren hatte der
Militärkommentator von Haolam Hazeh - der Zeitschrift,
deren Herausgeber ich damals war - die Nase voll von
der Prahlerei, mit der sich unsere Armee in
Improvisationen übertraf. „Die Fähigkeit zu
improvisieren“, schrieb er, „ ist nur eine andere
Bezeichnung für die Unfähigkeit zu planen.“
Nach
authentischen Berichten hat sich die Armee länger als
drei Jahre auf den Krieg vorbereitet. Die letzte
Militärübung fand einen Monat vor Kriegsanfang statt und
schloss eine Invasion in den Libanon durch die
Landkräfte ein. Es ist klar, dass das Kommando nicht
mit einer Kampagne rechnete, die vier Wochen oder gar
länger dauern würde. Was zum Teufel !– es ging doch nur
gegen eine kleine Gang von Terroristen. Es scheint den
Spruch zu bestätigen, dass selbst der beste Kriegsplan
den ersten Kriegstag nicht überlebt.
DER KRIEG DER
ARMEN. Es ist auch ziemlich klar, dass der wunderbare
Plan des Armeekommandos den Schutz der Etappe nicht mit
einschloss, die in der Reichweite der Raketen liegt. Es
gab keinen Plan für die hundertundeins Probleme, die
durch den Angriff der Hisbollah auftauchten: von der
Verteidigung der zivilen Bevölkerung gegenüber den
Tausenden von Raketen bis zu notwendigen
wirtschaftlichen Vorkehrungen, wenn ein Drittel der
Bevölkerung des Landes unter Bombardements lebt und
gelähmt ist.
Nun schreit die
Öffentlichkeit auf – und bald werden die Minister und
Generäle jemanden finden müssen, der als Sündenbock
dienen kann.
Denn dieser
Krieg wird auf dem Rücken der Schwachen ausgefochten,
die es sich nicht leisten können, „sich selbst aus dem
Raketengebiet zu evakuieren“. Die Reichen und
Wohlhabenden sind schon längst weg - in Israel genau
so wie im Libanon. Die Armen, Alten und Behinderten
bleiben in den Schutzräumen. Sie sind die
Hauptleidtragenden. Aber das macht sie nicht zu
Kriegsgegnern – im Gegenteil , sie schreien am lautesten
und verlangen „ macht Schluss mit ihnen!“, „zermalmt
sie!“, löscht sie aus!“
Das ist
keineswegs neu: die Schwächsten in der Gesellschaft
wollen fühlen, dass sie zur stärksten Nation gehören.
Diejenigen, die nichts haben, werden zu den größten
Patrioten. Und sie sind auch die Hauptopfer.
Diejenigen, die
den Krieg initiiert und geplant haben, pflegen die im
Norden festsitzenden Bewohner zynisch zu umschmeicheln
und nennen sie „Helden“ und loben ihre „wunderbare
Standhaftigkeit“.
VEREINIGTE
ZYNIKER. Nun hängt das Ende des Mordens von der UN ab.
David Ben Gurion
nannte sie verächtlich „UNO-SHMUNO“ ( UM-Shmum auf
hebräisch). Im Krieg von 1948 verletzte er ihre
Resolutionen über Waffenpausen, wann immer es ihm
passte (als Soldat nahm ich an etlichen solcher
Aktionen teil). Er und alle seine Nachfolger seitdem
haben alle UN-Resolutionen, die uns betreffen, verletzt.
Sie behaupteten ( nicht unberechtigt), dass die
Organisation, die aus dem Sowjetblock und aus
Dritte-Welt-Ländern bestand, von einer automatisch
anti-israelischen Mehrheit beherrscht sei.
Seitdem hat sich
die Situation verändert. Der Sowjetblock brach zusammen,
die UN ist zu einem verlängerten Arm der US-Regierung
und Kofi Annan zu ihrem Hausmeister geworden. Der
wirkliche Boss ist der US-Abgesandte John Bolton, ein
rasender Neo-Con und deshalb ein großer Freund Israels.
Er will, dass der Krieg weitergeht.
Der Name des
amerikanischen Spieles: der israelischen Armee noch mehr
Tage, vielleicht noch Wochen geben, um mit dem Krieg
weiter zu machen, um das Wunder des Sieges zu erlangen –
gleichzeitig aber vorgeben, alles zu tun, um den Krieg
zu beenden. Anscheinend habe Olmert Bush versprochen,
den Krieg zu gewinnen, wenn ihm nur genügend Zeit
gegeben werde.
Die neuen
Vorschläge der Regierung in Beirut ließen die Lichter in
Jerusalem rot aufleuchten. Die libanesische Regierung
schlägt vor, entlang der Grenze 15 000 libanesische
Soldaten aufzustellen, eine Waffenruhe zu erklären und
den Abzug der israelischen Soldaten aus dem Libanon; es
ist genau das, was die israelische Regierung zu Beginn
des Krieges gefordert hat. Aber jetzt sieht dies wie
eine Gefahr aus. Es könnte den Krieg stoppen – ohne
einen israelischen Sieg.
So wurde eine
paradoxe Situation geschaffen: die israelische Regierung
weist einen Vorschlag zurück, der ihr ursprüngliches
Kriegsziel reflektiert, und fordert stattdessen, die
Aufstellung einer internationalen Truppe, gegen die sie
bei Kriegsbeginn strikt war. Das geschieht, wenn man
einen Krieg ohne klares und erreichbares Ziel beginnt.
Alles gerät durch einander.
GENERÄLE UND
KOMMENTATOREN. Ich mache einen Vorschlag, der alle
durch diesen Krieg verursachten Probleme löst: die
Generäle mit den Kommentatoren auszutauschen.
Die Generäle
haben sich bei der Kriegsführung nicht ausgezeichnet.
Aber sie und ihre Kollegen, die Ex-Generäle, haben sich
als ausgezeichnete Kommentatoren bewiesen. Sie haben
alle andern aus den Studios gedrängt, einen nationalen
Konsens geschaffen und alle Kritik zum Schweigen
gebracht (außer einer Art von Kritik: warum wir nicht
tiefer in den Libanon eindringen? Warum wir noch nicht
den Litani erreicht haben? Warum gehen wir nicht über
den Litani? Warum wischen wir nicht die libanesischen
Dörfer von der Erdoberfläche? )
Andrerseits
beweisen die Sendungen, dass die Militärkommentatoren
genau wissen, wie man einen Krieg führt. Sie haben
überzeugende Meinungen und eine Menge Ratschläge - sie
wissen, wann man voranschreiten muss und wo, welche
Truppen eingesetzt und welche Waffen benützt werden
sollen
Warum sollte man
nicht sie den Krieg führen lassen?
MACHOSTAN. Die
Batterie der Generäle, die jeden Abend auf allen
TV-Kanälen erscheint, um der Nation eine
„Berichterstattung“ ( d.h. Propaganda) zu geben, sind
alle männlich. Bei ihnen ist eine Quoten-Frau, eine
wirkliche Schönheit, die den Titel „Armeesprecherin“
trägt. Sie soll Abwechslung ins Programm bringen. Die
Kommentatoren beim Fernsehen sind natürlich harte Jungs,
und dies trifft auch für die andern Sprecher zu.
Die Herrschaft
der Männer wird dadurch noch unterstrichen, dass das
Außenministerium von einer Frau geführt wird. Seit der
Gründung Israels war das Verteidigungsministerium der
Bereich der Männer, die mit Verachtung auf das
Außenministerium schauen, was immer als schwach und
kraftlos angesehen wird. Auch jetzt ist das
Außenministerium ein kränkliches Glied des
Verteidigungsestablishments. Tsipi Livni, auf die einmal
Hoffnungen gesetzt worden sind, ist der Papagei der
Armee – so wie Condoleezza Rice Bushs Papagei ist.
Natürlich ist
der Krieg Sache der Männer. So war es von Anbeginn der
menschlichen Rasse an und vielleicht sogar noch früher.
Ein Stamm von Affen bildete, wenn eine Gefahr
auftauchte, automatisch eine Verteidigungsordnung: die
Alten, die weiblichen Tiere mit ihren Jungen in der
Mitte, die männliche Jugend bildete einen Kreis um sie.
Da gibt es nur einen Unterschied zwischen ihnen und uns:
ihr Führer ist immer der weiseste und erfahrenste des
Stammes.
Die Vorliebe der
Männer für den Krieg ist ein Phänomen, das wir jetzt
aus der Nähe beobachten können, und hat nicht nur etwas
mit dem biologischen Erbe zu tun. Der Krieg sichert die
totale Vorherrschaft des Männlichen innerhalb der
Gesellschaft. Dies sichert auch die totale Vorherrschaft
der Generäle im Staat ab.
Falls wir
geglaubt hatten, dass sich dies ändern würde, wenn die
Regierung von Zivilisten geführt wird, so hat sich dies
offensichtlich als falsch erwiesen. Das Gegenteil ist
der Fall. Die Zivilisten, die sich wie Kriegsführer
benehmen, sind nicht besser als Generäle. Ein alter
General mag sogar etwas aus seinen Erfahrungen gelernt
haben.
Ich werde jetzt
etwas sagen, von dem ich nie gedacht hätte, ich würde
es einmal äußern. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass
wir nicht in diesen dummen Krieg geschliddert wären,
wenn Sharon noch im Amt gewesen wäre. Tatsache ist: er
hat die Hisbollah nach dem Abzug im Jahre 2000 nicht
angegriffen. Ein Versuch genügte ihm. Das beweist
noch einmal, dass es nichts Schlimmes gibt, dem nicht
noch Schlimmeres folgen kann .
Die Kriegslust
erklärt auch den Chor der Hunderte von Ex-Generälen,
die Unisono zugunsten den Krieges denken und reden. Ein
Zyniker würde sagen: Na und? Es ist eben die Armee, die
ihnen ihren herausragenden Platz in der Gesellschaft
gibt. Sie sind dort nur so lange wichtig, solange es
einen Konflikt zwischen Israel und der arabischen Welt
gibt. Der Konflikt garantiert ihren Status. Sie haben
gar kein Interesse an seiner Eliminierung .
Doch das
Phänomen liegt tiefer. Die Armee ist der Schmelztiegel
der hochrangigen Offiziere. Dieser prägt ihre
Weltanschauung, ihre Haltung und ihren Stil. Von den
Siedlern abgesehen, ist das hochrangige Offiziers-Corps
- mit und ohne Uniform - heute die einzige ideologische
Partei in Israel und hat deshalb großen Einfluss . Es
kann leicht tausend kleine Funktionäre wie Amir Peretz
vor dem Frühstück verschlingen.
Deshalb gibt es
keine wirkliche Selbstkritik. Zu Beginn der fünften
Kriegswoche hört man wieder die Slogans: Vorwärts! Auf
zum Litani! Weiter! Stärker! Tiefer!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert.) |