Gerechtigkeit, Gas und Tränen
Uri
Avnery, 3.7.04
In der Stille des Gerichtssaales gab
es ein hörbares Aufatmen der Überraschung , als der Oberste Richter
Aharon Barak die Gerichtsentscheidung vorlas und zu den folgenden
Worten kam: „Der Militärkommandeur hat seine Verfügungsfreiheit
nicht, wie erforderlich, in angemessener Weise, angewandt.“
In diesem Augenblick erkannten die
erfahrenen Friedensaktivisten, die den Saal füllten, dass sie
gewonnen hatten.
Vier Tage vorher hätten wir dies
nicht zu träumen gewagt. Wir waren von der Stille des wunderschönen
Gebäudes des Obersten Gerichtshofes weit entfernt – geographisch
zwar nur wenige Kilometer, gedanklich aber Lichtjahre entfernt.
Zu jener Zeit liefen wir mitten in
A-Ram mit brennenden Augen durch Wolken von Tränengas, schnappten
nach Luft und husteten.
Zu unser aller Überraschung fing
alles in einer freundlichen Atmosphäre an. Wir waren aus allen
Teilen des Landes in einem Buskonvoi angekommen, um am Vorabend der
Gerichtsentscheidung gemeinsam mit den Einwohnern gegen die Mauer zu
demonstrieren.
Wir erwarteten, dass wir an der
Straßensperre vor A-Ram aufgehalten würden. Die Demonstration war
kein Geheimnis. Wir hatten sie in den Medien angekündigt. Wir waren
bereit, die Busse schnell zu verlassen und zu Fuß um die
Straßensperren herum weiterzugehen. Wir waren deshalb überrascht,
dass die Grenzpolizisten alle freundlich schauten und lächelten.
Der eine, der in unsern Bus kam , schien ein Sympathisant zu sein.
„Wisst Ihr, wo ihr hineingeht?“ fragte er uns in freundlichem Ton.
Als wir antworteten, wir wüssten das, sagte er: „Nun, dann habt
einen schönen Tag!“ und winkte uns durch.
Im Zentrum von A-Ram warteten
Tausende von Palästinensern auf uns. Wir hatten vor, auf der
Hauptstraße zu gehen, auf der geplanten Route der Mauer, die das
dicht bevölkerte städtische Areal in zwei Teile teilen sollte. Die
großen Betonblöcke für die Mauer lagen schon dort und warteten auf
den Augenblick, dass das Gericht die vorläufige gerichtliche
Verfügung aufheben würde, die die Bautätigkeit aufhielt.
Natürlich war die Demonstration
vollkommen gewaltfrei beabsichtigt. Der Beweis: in der ersten Reihe
gingen ein christlicher orthodoxer Priester, ein ranghoher
muslimischer Scheich, lokale Würdenträger und gegenwärtige und
frühere Abgeordnete der Knesset und des palästinensischen
Parlaments und vor uns die Pfadfinderkapelle von A-Ram.
Als symbolischen Akt hatten wir im
voraus fünf große Hämmer mitgenommen. Einige der Demonstranten
hatten vor, auf die Betonblöcke einzuschlagen, die dort am Boden
lagen.
Wir kamen in der brennenden Sonne
nur langsam voran. Plötzlich erschien auf der Anhöhe eine Reihe
von Grenzpolizisten, die von dort die Straße gut überblicken
konnten. Bevor uns klar war, was geschah, wurde eine Salve von
Tränengasgranaten gegen uns abgeschossen – eine, zwei, drei,
Dutzende. In wenigen Augenblicken waren wir in eine dichte Wolke von
Gas gehüllt, die auch alle Fluchtwege füllte.
Wir liefen in alle Richtungen
auseinander, aber die Gasgranaten explodierten weiter um uns herum.
Diejenigen unter uns, die auf ihrer Flucht den Hauptplatz der Stadt
erreichten, wurden mit Tränengas, mit Wassergüssen aus
Wasserkanonen und mit Gummi-ummantelten Kugeln angegriffen.
Der Platz ähnelte einem wirklichen
Schlachtfeld – Gaswolken, der Lärm explodierender Granaten und das
Schießen, das Sirenengeheul palästinensischer Ambulanzwagen,
brennende Kisten entlang der Straße, liegen gebliebene Poster,
geschlossene Läden. Als die palästinensischen Sanitäter mit den
Tragbaren zu den Ambulanzen eilten, tauchten plötzlich Jungs aus den
Gassen auf und warfen Steine auf die Grenzpolizisten ( eine in den
palästinensischen Gebieten allgemein verhasste Söldnergruppe). Von
Zeit zu Zeit stürmten Gruppen von Grenzpolizisten auf uns zu,
griffen sich männliche oder auch weibliche Demonstranten und zogen
sie zu ihren gepanzerten Jeeps. Einer der Ambulanzwagen brannte. In
Zivil verkleidete Polizisten mit Pistolen in der Hand schlugen auf
Leute ein und warfen sie zu Boden.
All dies dauerte länger als zwei
Stunden. Während der ganzen Zeit quälte mich eine Frage: Warum
geschieht dies? Wir waren deutlich in eine gut vorbereitete Falle
geraten. Was sollte damit erreicht werden?
Auf dem Rückweg hörten wir im Radio
die Nachrichten. Ein Sprecher der Polizei verkündete, dass die
Grenzpolizei von den Demonstranten angegriffen worden sei, die Äxte
und Hämmer auf sie geworfen hätten. In unserm Bus brach schallendes
Gelächter aus.
Das Rätsel wurde zwei Tage später im
Gerichtshof gelöst, als sich die Richter mit A-Ram befassten. Die
Anwälte der Regierung verlangten, dass die einstweilige Verfügung,
die den Bau aufhielt, aufgehoben werde. Sie hatten ein vernichtendes
Argument: vor zwei Tagen, so sagten sie, seien die die Maschinen
bewachenden Grenzpolizisten bösartig von Demonstranten angegriffen
worden. Ihr Leben sei in Gefahr gewesen. Deshalb müsste, um das
Leben der Polizisten vor den Übertätern -nämlich vor uns - zu
retten, der Bau der Mauer schnell fortgesetzt werden.
Die Richter waren anscheinend
unbeeindruckt. Sie verkündeten, dass das Gericht innerhalb der
nächsten zwei Tage, also am Mittwoch, eine Reihe von Prinzipien
herausgeben würde, die von jetzt an während des ganzen Mauerbaus,
einschließlich A-Rams, Gültigkeit haben würden.
Und tatsächlich wurde am Mittwoch
die Entscheidung getroffen, die alle Zuhörer im Raum hörbar
aufatmen ließ. Wir wussten im voraus, dass das Gericht nicht den
ganzen Mauerbau verbieten konnte. Das wäre eine zu große
Herausforderung für die Regierung, das Militär und den nationalen
Konsens gewesen. Wir erwarteten auch keine Entscheidung, die verfügt
hätte, dass die Mauer auf die Grüne Linie - die 1967er Grenze –
gesetzt würde.
Wir rechneten höchstens damit, dass
der Verlauf der Mauer ein paar Kilometer hier und dort verschoben
wird. Aber die tatsächliche Entscheidung ging viel weiter: sie
forderte große Veränderungen auf der ganzen Barrierenlänge von
750km, um sie aus der Nähe palästinensischer Dörfer zu entfernen und
ihr Land freizugeben.
Die Richter akzeptierten tatsächlich
die meisten Argumente, die wir in Dutzenden von Demonstrationen
hatten laut werden lassen:
a) dass die Mauer internationales
Recht verletze
b) dass sie die Lebensstruktur der
palästinensischen Bevölkerung zerstöre und ihr Leben zur Hölle mache
c) dass dieser Verlauf nicht
Sicherheitserwägungen berücksichtige, sondern vielmehr die
Siedlungen vergrößere, Land an Israel annektieren und die
Palästinenser vertreiben wolle.
Der Richter Barak, der Präsident des
Obersten Gerichthofes, der die Entscheidung abgefasst hatte,
vollführte einen Balanceakt. Einerseits provozierte er das mächtige
Militärestablishment und einen großen Teil der öffentlichen Meinung.
Andrerseits wollte er seinen guten Ruf in der internationalen
Gemeinschaft der Juristen nicht aufs Spiel setzen.
Vor Jahren hatte ich ihn ausführlich
interviewt. Ein Satz, den er damals aussprach, hat sich mir ins
Gedächtnis eingeprägt: „Der Gerichtshof hat keine Divisionen, die
seine Entscheidungen durchsetzen können. Seine Macht liegt allein im
Vertrauen der Öffentlichkeit. Deshalb kann sich das Gericht nicht zu
weit von der Öffentlichkeit entfernen.“
Dies wurde in dieser Woche wieder
deutlich. Barak ging sehr weit. Aber er wusste, wo er anhalten
musste: auf halbem Weg zwischen der geplanten Route und der Grünen
Linie. Dabei wurde ihm vom „Rat für Frieden und Sicherheit“, einer
Friedensgruppe von im Ruhestand befindlichen, ranghohen
Armeeoffizieren, geholfen. Sie schlug eine alternative Route vor.
Barak weiß genau, dass er ein
Risiko eingeht. Wenn jetzt ein Selbstmordattentat innerhalb Israels
geschieht, wird sicher der rechte Flügel dem Gericht die Schuld
geben.
Tatsächlich geschah dies schon. Nur
wenige Minuten nachdem die Gerichtsentscheidung verlesen worden war,
sagte der Oberst (in Reserve) Danny Tirzeh, ein die Kipa tragender
für den Mauerbau verantwortlicher Offizier im Ministerium, dass die
Gerichtsentscheidung Schuld sei, wenn Juden ermordet würden. Der
Mann wurde – Gott bewahre! - nicht auf der Stelle gefeuert, sondern
nur von seinem Minister getadelt.
Ariel Sharon mag mit der
Gerichtsentscheidung zufrieden sein. Es stimmt zwar, dass der
Verlauf der Mauer neu geplant werden muss, dass dies mehr Geld und
Zeit kostet. Aber in einer Woche wird der Internationale
Gerichtshof in Den Haag seine Entscheidung über die Mauer verkünden,
und die Angelegenheit wird an die UN zurückgegeben. Dort werden die
israelischen und amerikanischen Diplomaten argumentieren, dass das
israelische Gericht schon die Ungerechtigkeiten, die angesprochen
werden mussten, ausgeglichen habe.
In A-Ram und auch in den anderen
Vororten von Jerusalem wird der Verlauf der Mauer geändert werden
müssen. Ich hoffe, dass sie von der Hauptstraße, auf der wir am
letzten Samstag demonstriert haben, entfernt wird. Ich möchte nicht
noch einmal Gas inhalieren müssen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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