TRANSLATE
Ein rothaariger junger Mann
Uri Avnery, 11.Juni
2011
MEIN HELD des Jahres ist (bis jetzt) ein junger rothaariger
palästinensischer Flüchtling, der in Syrien lebt und Hassan Hejazi
heißt.
Er
war einer von Hunderten von Flüchtlingen, die die Demonstration auf
der syrischen Seite des Golan-Grenzzaunes zur Erinnerung an die
Nakba („Katastrophe“) hielten – den Exodus von mehr als der Hälfte
des palästinensischen Volkes aus dem von Israel im 1948er Krieg
eroberten Gebiet. Einige der Demonstranten rannten hinunter bis zum
Zaun und überquerten das Minenfeld. Glücklicherweise explodierte
keine Mine – vielleicht waren sie einfach zu alt.
Sie kamen in das drusische Dorf Majdal Shams, das seit 1967 von
Israel besetzt ist, und verteilten sich dort. Israelische Soldaten
schossen, töteten und verletzten mehrere von ihnen. Der Rest wurde
gefangen genommen und sofort nach Syrien zurückgebracht.
Außer Hassan. Er fand einen Bus mit israelischen und internationalen
Friedensaktivisten, die ihn mit sich nahmen – vielleicht wussten
sie, woher er kam, vielleicht auch nicht. Er sah offenbar nicht
arabisch aus.
Sie ließen ihn in der Nähe von Tel Aviv aussteigen. Er fuhr per
Anhalter weiter und schließlich erreichte er Jaffa, die Stadt, in
der seine Großeltern lebten.
Ohne Geld und ohne dass er jemanden dort kannte, versuchte er, das
Haus seiner Familie zu finden. Es gelang ihm nicht. Der Ort hatte
sich viel zu sehr verändert.
Schließlich gelang es ihm, Kontakt mit einem israelischen
TV-Korrespondenten aufzunehmen, durch den er sich selbst der Polizei
übergab. Er wurde verhaftet und zurück nach Syrien deportiert.
Eine bemerkenswerte Heldentat.
DIE GRENZÜBERQUERUNG der Flüchtlinge nahe Majdal Shams verursachte
in Israel fast eine Panik.
Zunächst gab es die üblichen gegenseitigen Beschuldigungen. Warum
war die Armee nicht auf diesen Vorfall vorbereitet? Wer war schuld
daran – das Nördliche Kommando oder der militärische
Nachrichtendienst?
Hinter all der Aufregung stand der Alptraum, der Israel seit 1948
heimsucht: dass die 750 000 Flüchtlinge und ihre Nachkommen – jetzt
etwa 5 Millionen – eines Tages aufstehen, auf die Grenzen Israels
vom Norden, Osten und Süden zumarschieren, den Zaun durchbrechen und
ins Land fluten werden. Dieser Alptraum ist das Spiegelbild des
Traumes der Flüchtlinge.
Während der ersten Jahre Israels war dies ein bewusster Alptraum. Am
Gründungstag Israels hatte es 650 000 jüdische Einwohner. Die
Rückkehr der Flüchtlinge hätte tatsächlich den jungen israelischen
Staat überschwemmt. Heute mit mehr als sechs Millionen jüdischer
Bürger hat sich die Angst in den Hintergrund verzogen – aber sie ist
noch immer da. Psychologen könnten sagen, dass sie verdrängte
Schuldgefühle in der nationalen Psyche darstellt.
IN
DIESER Woche gab es eine Wiederholung. Die Palästinenser rund um
Israel haben den 5. Juni zum Naksa-Tag erklärt, um an den
„Rückschlag“ von 1967 zu erinnern, als Israel sensationell die
Armeen von Ägypten, Syrien und Jordanien besiegten, die von
irakischen und Saudi-Soldaten verstärkt waren.
Dieses Mal war die israelische Armee vorbereitet. Der Zaun war
verstärkt und ein Anti-Panzer-Graben davor gegraben worden. Als die
Demonstranten versuchten, den Zaun zu erreichen – wieder in der Nähe
von Majdal Shams – wurden sie von Scharfschützen beschossen. Etwa 22
wurden getötet, viele Dutzende verletzt. Die Palästinenser
berichten, dass Leute, die die Verletzten zu retten und die Toten zu
holen versuchten, auch beschossen und getötet wurden.
Zweifellos war dies eine absichtliche Taktik, die im Voraus vom
Armeekommando nach dem Nakba-Fiasko entschieden und von Binjamin
Netanyahu und Ehud Barak genehmigt wurde. Dies wurde ganz offen
gesagt: den Palästinensern muss eine Lektion erteilt werden, die sie
nicht vergessen werden, um jeden Gedanken einer Massenaktion aus
ihren Köpfen zu vertreiben.
Es
erinnert erschreckend an die Ereignisse von vor 10 Jahren. Nach der
ersten Intifada, in der Steine werfende Jugendliche und
Kinder einen moralischen Sieg errangen, der zum Oslo-Abkommen
überleitete, führte unsere Armee Übungen in Erwartung einer 2.Intifada
durch. Sie brach nach dem politischen Desaster von Camp David
aus. Die Armee war bereit.
Die neue Intifada beginnt mit Massendemonstrationen unbewaffneter
Palästinenser. Sie trafen auf speziell trainierte Scharfschützen.
Neben jedem Scharfschützen stand ein Offizier, der auf Individuen
zeigte, die erschossen werden sollten, weil sie wie Anführer
aussahen: „Den Kerl dort mit rotem Hemd .. jetzt den Jungen mit der
blauen Hose …“
Der unbewaffnete Aufstand brach zusammen und wurde durch die
Selbstmordattentäter, Bomben am Straßenrand und andere
„terroristische“ Akte ersetzt. Mit denen wusste unsere Armee
umzugehen.
Ich habe den starken Verdacht, dass wir jetzt noch einmal dasselbe
erleben. Speziell trainierte Scharfschützen sind wieder im Gange,
von Offizieren angeleitet.
Doch gibt es einen Unterschied. 2001 wurde uns erzählt, unsere
Soldaten hätten in die Luft geschossen. Jetzt sagte man uns, dass
sie auf die Beine der Araber schießen. Damals mussten die
Palästinenser hoch in die Luft springen, um getötet zu werden, jetzt
scheint es, als müssten sie sich bücken.
DIE GANZE Sache ist nicht nur mörderisch, sondern auch unglaublich
dumm.
Seit Jahrzehnten reden praktisch alle über Frieden, der sich auf die
im 1967er-Krieg besetzten Gebiete konzentriert. Präsident Mahmoud
Abbas, Präsident Barack Obama und die israelische Friedensbewegung
reden alle über die „1967er-Grenzen“. Als meine Freunde und ich 1949
anfingen, über die Zwei-Staaten-Lösung zu reden, meinten wir auch
diese Grenzen. (die „1967er-Grenzen“ sind tatsächlich die
Waffenstillstandslinien, auf die man sich nach dem 1948er-Krieg
geeinigt hatte.)
Die meisten Leute, selbst die in der israelischen Friedensbewegung,
ignorierten vollkommen das Flüchtlingsproblem. Sie arbeiteten mit
der Illusion, dass dies nicht mehr besteht oder dass es mit einem
Friedensschluss verschwindet, der zwischen Israel und der
Palästinensischen Behörde erreicht würde. Ich warnte meine Freunde
immer wieder, dies würde nicht geschehen – fünf Millionen Menschen
kann man nicht einfach ausschließen. Es hat keinen Sinn, mit der
Hälfte des palästinensischen Volkes Frieden zu schließen und die
andere Hälfte zu ignorieren. Das bedeutet kein „Ende des
Konfliktes“, egal was im Friedensabkommen festgelegt werden wird.
Aber während jahrelanger Diskussionen, meist hinter verschlossenen
Türen, war ein Konsens erreicht worden. Fast alle palästinensischen
Führer sind mit der Formel einer „gerechten und übereingekommenen
Lösung für das Flüchtlingsproblem“ einverstanden – entweder
ausdrücklich oder stillschweigend – so dass jede Lösung israelischer
Zustimmung bedarf. Ich habe darüber viele Male mit Yasser Arafat,
Faisal al-Husseini und anderen gesprochen.
Praktisch bedeutet dies, dass einer symbolischen Anzahl von
Flüchtlingen die Rückkehr nach Israel erlaubt werden soll (Die
genaue Anzahl sollte bei Verhandlungen festgelegt werden), die
anderen sollten im Staat Palästina wieder angesiedelt werden (das
groß sein muss und lebensfähig, damit dies möglich ist) oder
großzügige Entschädigung erhalten, die ihnen erlaubt, dort, wo sie
sind, oder irgendwo anders ein neues Leben aufzubauen.
UM
DIESE komplizierte und schmerzvolle Lösung zu erleichtern, stimmte
jeder darin überein, dass es das beste sei, sich mit dieser
Angelegenheit nah am Ende der Friedensverhandlungen zu befassen,
nachdem gegenseitiges Vertrauen und eine entspannte Atmosphäre
geschaffen worden ist.
Und jetzt kommt unsere Regierung und versucht, das Problem mit
Scharfschützen zu lösen – nicht als letzten Ausweg, sondern als
ersten . Statt den Demonstranten mit wirksamen nicht tödlichen
Mitteln zu begegnen, töten sie die Leute. Dies wird die Proteste
natürlich intensivieren, Massen von Flüchtlingen mobilisieren und
das „Flüchtlingsproblem“ direkt mitten auf den Tisch legen, bevor
die Verhandlungen überhaupt begonnen haben.
Mit anderen Worten: der Konflikt von 1967 wird auf 1948
zurückgeschraubt. Für Hassan Hejazi, den Enkel eines Flüchtlings aus
Jaffa, ist dies eine große Errungenschaft.
Nichts könnte dümmer sein als dieser Aktionskurs von Netanyahu & Co.
Natürlich vorausgesetzt sie täten dies bewusst, um
Friedensverhandlungen unmöglich zu machen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
|