Der große Knall oder sang- und klanglos
Uri Avnery, 3.8.05
„Jedes Ding hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat
seine Stunde: ...Pflanzen hat seine Zeit und Ausreißen, was
gepflanzt ist, hat seine Zeit; bauen hat seine Zeit, abbrechen hat
seine Zeit ....“ Das biblische Buch des Predigers Salomo (
Pred.3,1f). hat keinen besseren Nachfolger als Ariel Sharon.
Der
Beweis: Sharon selbst hat die Siedlungen im Gazastreifen aufgebaut –
und nun hat er sie mit eigenen Händen abgerissen. Er hat den Likud
geschaffen, und nun wird er ihn – hoffentlich – beerdigen.
Für
jene, die sich nicht mehr erinnern: die Schaffung des Likud war die
exklusive Leistung von Ariel Sharon.
Vor
dem Yom-Kippur-Krieg, 1973, war er gezwungen, die Armee zu
verlassen, als die anderen Generäle seinen Weg zum Generalstabschef
blockierten. Sie hassten ihn, weil er als Kollege unerträglich,
gegenüber seinen Vorgesetzten aufsässig und gegenüber
Gleichgestellten unloyal war - Eigenschaften, die er sein ganzes
Leben behielt und die vielleicht typisch für Führer sind, die
hoffen, unumschränkte Herrscher zu werden.
Einer seiner Bewunderer prägte den berühmt gewordenen Satz:
„Diejenigen, die ihn nicht als Generalstabschef haben wollen, werden
ihn als Verteidigungsminister erhalten.“ Sharon schaute nach einem
Kran aus, der ihn in diese Position hievte, da er keinen bereit
fand, erschuf er einen, den Likud ( „Vereinigung“).
Die
Idee war einfach: Einigung des rechten Flügels. Es stimmt, die zwei
größeren Parteien vom rechten Flügel – Herut und die liberale Partei
– hatten schon einen gemeinsamen parlamentarischen Block ( Gahal ),
doch da gab es noch zwei rechte Splitterparteien. Sharon benützte
sein neues öffentliches Prestige und zwang sie – fast gegen ihren
Willen – sich zusammenzuschließen.
Ich
fragte ihn damals nach dem Zweck dieser Übung, da Herut und die
Liberalen schon vereint waren und die Splitterparteien nichts
hinzuzufügen hatten. „Es ist notwendig“, sagte er zu mir, „um den
Eindruck zu wecken, dass die ganze Rechte vereint ist. Das wird die
Massen anziehen. Keiner sollte draußen gelassen werden.“
Und
tatsächlich wirkte dies. 1969 hatte der Gahal-Block ( von 120) nur
26 Sitze der Knesset gewonnen, genau wie vier Jahre zuvor. 1973
gewann der neue Likud aber schon 39 Sitze und 1977 sogar 43 Sitze
und wurde Regierungspartei.
Wie
es Sharons Gewohnheit war, stritt er mit seinen neuen Kollegen fast
unmittelbar nach der Aufstellung des Likud. Er verließ ihn und schuf
eine neue, eigene Partei, Shlomzion („Friede für Zion“, auch der
Name einer hasmonäischen Königin) Als er bei den Wahlen 1977
jämmerlich durchfiel, zog er die Folgerung und schloss sich mit
Lichtgeschwindigkeit dem Likud wieder an. Menachim Begin weigerte
sich aber, ihn zum Verteidigungsminister zu ernennen. Er gab ihm nur
den Posten des Landwirtschaftsministers. „ Wenn ihm die Gelegenheit
gegeben würde, würde er seine Panzer schicken, um die Knesset zu
belagern,“ sagte Begin halb im Spaß und ernannte Ezer Weizmann zum
Verteidigungsminister.
Nachdem Weizmann nach nur vier Jahren verärgert aufgegeben hatte,
wurde. Sharon schließlich doch Verteidigungsminister. Die übrige
Geschichte ist wohl bekannt: die Invasion des Libanon, das Sabra-
und Shatila-Massaker, die Kahan-Kommission, Sharons Entlassung aus
dem Verteidigungsministerium, Begins Dahinschwinden, Sharons Streit
mit Ministerpräsident Yitzhak Shamir, Sharons Streit mit
Ministerpräsident Binyamin Netanyahu, Netanyahus Wahlschlappe, die
den Likud mit nur jämmerlichen 19 Sitzen ließ. Sharon sammelte die
Trümmer zusammen und wurde Ministerpräsident. Bei den letzten
Wahlen, 2003, erreichte er einen bemerkenswerten Sieg: 38 Sitze,
(denen Natan Sharanski seine zwei noch hinzufügte) gegen die nur 19
Sitze von Labor. Sharon wurde der unangefochtene Führer des Likud
und des Staates.
Und zweieinhalb Jahre später ist er in einer Situation, in der der
Likud - seine Schöpfung - ihn aus seiner Machtstellung zu vertreiben
droht und an seine Stelle einen betrügerischen und gescheiterten
Politiker setzen will? Was ist geschehen?
Der
unmittelbare Grund liegt natürlich in der Auflösung der Siedlungen
im Gazastreifen und in der nördlichen Westbank. Oberflächlich
betrachtet, widerspricht dies allem, für das Sharon bis jetzt stand.
Er war schließlich derjenige, der sie errichtete und erklärte: „Was
für Tel Aviv gilt, gilt auch für Netzarim“. Jetzt hat er Bulldozer
geschickt, um Netzarim zu zerstören, ein Haus ums andere vor
laufender Kamera. „Er verrät die Likud-Prinzipien“, „er erfüllt den
Plan der Linken “, „er reißt das Volk auseinander“.
Dies ist nur zum Teil wahr. Sharon schaffte tatsächlich einen
historischen Präzedenzfall, indem er die jüdischen Siedlungen im
historischen Land Israel auflöste Er hat die Vision des rechten
Flügels von „Ganz-Eretz-Israel“ zurückgenommen und die Teilung des
Landes in ein Fait accompli gewandelt. Aber hinter der linken
Fassade verbirgt sich ein Plan des rechten Flügels: Gaza zu opfern,
um einen großen Teil der viel wichtigeren Westbank zu annektieren
und zu verhindern, dass ein lebensfähiger palästinensischer Staat
entsteht. Auch nach dem Auflösen der Siedlungen erweitert er die
Westbanksiedlungen und baut den „Trennungszaun“ weiter, dessen
wirklicher Zweck es ist, einseitig die Grenzen des vergrößerten
Israel festzulegen.
Eines von Sharons großen Problemen liegt in seinem Charakter.
Nachdem er seinen großen Wahlsieg errungen hatte, bemühte er sich
nicht darum, seine hochmütige Haltung vor der Partei und vor der
Öffentlichkeit im ganzen zu verbergen. Die 3300 Mitglieder des
mächtigen Likudzentralkomitees – die meisten von ihnen kleine
Politiker mit großem Appetit - fühlen (zu recht), dass er sie (
auch zu recht) verachtet.
Sharon machte sich nie die Mühe, seine Motive für den Abzug der
Siedlungen zu erklären. Man konnte nur raten. Die militärischen
Vorbereitungen waren peinlich genau, die propagandistischen gleich
null. Trotzdem unterstützte die Öffentlichkeit diesen Plan, entweder
aus Loyalität um der demokratischen Ordnung willen oder um der
Hoffnung willen auf Frieden – oder beides. Aber selbst dieses
bewirkte keine allgemeine Bewegung, um diesen Rückzug zu
unterstützen.
Nun
ist der Likud in einem Zustand der Rebellion. Die Situation grenzt
ans Absurde. Die Regierungspartei droht damit, ihren eigenen
Ministerpräsidenten abzusetzen, sogar mit dem Risiko, selbst die
Macht zu verlieren. Die Knessetmitglieder, die ihre hohe Position
nur Sharon verdanken, drohen damit, die Knesset aufzulösen, wohl
wissend, dass viele keine Chance haben, wiedergewählt zu werden. Das
ganze politische System befindet sich in einem Zustand der Anarchie.
Die
allgemeinen Meinungsumfragen zeigen ein konfuses Bild: im
Likudzentralkomitee, der entscheidenden Institution, ist die große
Mehrheit gegen Sharon und für Netanyahu. Unter den Likudmitgliedern
ist die Mehrheit auch gegen Sharon. Aber unter den Likudwählern hat
Sharon eine Mehrheit und unter der wählenden Öffentlichkeit hat
Sharon eine führende Rolle gegenüber Netanyahu.
Welche Möglichkeiten gibt es in dieser Situation?
Option 1: Sharon wird triumphieren. Das Likudzentralkomitee
wird tatsächlich zusammengerufen und entscheidet, die
Partei-Vorwahlen zu halten. Aber im letzten Augenblick schrecken
die Mitglieder davor zurück, Sharon hinauszuwerfen, aus Angst, die
Macht zu verlieren. Die Tausenden von Partei-Mietlingen, deren fette
Jobs von ihrer Parteizugehörigkeit abhängen, werden die Macht mit
dem verhassten Sharon vorziehen, als mit Netanyahu in Opposition zu
gehen. Sharon wird als Ministerpräsident bis zu den regulären Wahlen
im November 2006 weitermachen – mit der guten Chance für 4 Jahre
wiedergewählt zu werden ( bis er 81 wird).
Option 2: Sharon wird hinausgeworfen. Das
Zentral-Komitee wird sich zu frühen Primaries entscheiden, Netanyahu
wird als Likudführer gewählt werden. Er wird eine neue
nationalistisch-religiöse Koalition in der gegenwärtigen Knesset
zusammenstellen. Oder die Knesset wird aufgelöst und neue Wahlen
finden statt. Netanyahu führt den vereinigten Likud. Sharon wird zu
seiner Farm zurückkehren. Dies wird ein schallender Sieg für die
Siedler sein, was beweist, dass jeder, der Siedlungen auflöst,
politischen Selbstmord begeht.
Option 3: der kleine Knall. Sharon wird die Likud-Primaries
verlieren. Der Likud wird sich teilen. Sharon wird etwa zwei Drittel
der Likud-Knesset-Fraktion mitnehmen. Er wird mit dem linken Flügel
und den orthodoxen Parteien eine neue Koalition bilden und
weiterregieren. Wenn er die Wahlen im November 2006 gewinnt, wird er
als Führer von Likud B weiterregieren.
Option 4 : der „Große Knall“. Der Likud wird sich spalten (
s.oben), aber Sharon wird eine neue Partei mit Mitgliedern der Labor
und der Shinui gründen. Die Knesset wird sich auflösen, und die neue
von Sharon geführte Partei wird - wie Meinungsumfragen jetzt
ergeben - durch einen Erdrutsch gewinnen. Dies wird jetzt „der
Große Knall“ genannt.
Präsident Bush tut alles in seiner Macht Mögliche, um die erste
Option zu erfüllen. Er bemüht sich sehr darum, damit Sharon
spektakulären politischen Erfolg erlangt wie z.B. den Präsidenten
von Pakistan zu treffen, den König von Jordanien in Jerusalem zu
begrüßen. Aber es ist zweifelhaft, ob dies Sharon im
Likud-Zentral-Komitee wirklich hilft.
Was
den Friedensprozess betrifft, wäre es besser, es würden so bald wie
möglich neue Wahlen stattfinden, um eine lange Übergangszeit zu
vermeiden, in der alles eingefroren bleibt, die Siedlungsaktivitäten
gehen weiter, und eine 3. Intifada bricht aus. Man kann sich nicht
auf die Amerikaner verlassen, dass die solch ein Einfrieren
verhindern.
Das
Hauptinteresse des Friedenslagers ist jedoch das Neuordnen des
ganzen politischen Systems. Seit Jahren befindet sich die Situation
in Israel nahe am Grotesken: es besteht kaum eine Verbindung
zwischen der Ausbreitung von Meinungen in der Öffentlichkeit, wie
Meinungsumfragen es dauernd bestätigen, und der Machtteilung in der
Knesset. Die Labor-Partei ist wie eine wandelnde Leiche ohne
Weltanschauung und politischen Plan und ohne Führung, die es wert
ist, genannt zu werden. Die Meretz-Partei ist blass und ineffektiv.
Die vielen Wähler, die sich nach Frieden sehnen, haben keine
richtige Vertretung im Parlament.
Das
Land braucht ein politisches Erdbeben, das aus Tälern Berge macht
und neue Täler in Berglandschaften. Wenn die augenblickliche Krise
eine vollständige Veränderung der politischen Landschaft mit sich
brächte, dann wäre das ein Segen.
T.S.
Elliott prophezeite: „So wird die Welt enden: sang und klanglos“ .
Das Schicksal des Likud könnte genau umgekehrt sein - ein Ende mit
großem Knall.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert )
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