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Der Ruf der Nation
Uri Avnery,
10.Dezember 2016
EINE DUNKLE Woge
überschwemmt Demokratien in der ganzen westlichen Welt.
Es begann in
Großbritannien, einem Land, das wir immer als die Mutter der
Demokratie ansahen, die Heimat eines besonders sensiblen Volkes. Es
stimmte in einer Volksabstimmung dafür, die Europäische Union zu
verlassen, ein Markstein menschlichen Fortschritts, der sich aus den
Ruinen des schrecklichen 2. Weltkriegs erhob.
Warum? Kein
besonderer Grund. Eine Laune.
Dann kamen die
US-Wahlen. Das Unglaubliche geschah. Ein Niemand kam von
nirgendwoher und wurde gewählt. Eine Person ohne irgendwelche
politische Erfahrung, ein brutaler Kerl, ein Gewohnheitslügner, ein
Schauspieler. Jetzt ist er der mächtigste Staatsmann auf dem
Planeten, der „Führer der freien Welt“,
Und nun geschieht
es in ganz Europa. Die Ultra-Rechte gewinnt fast überall und droht,
mit Abstimmung, an die Macht zu kommen. Moderate Präsidenten und
Ministerpräsidenten geben ihr Amt auf oder werden rausgeschmissen.
Mit der bemerkenswerten Ausnahme von Deutschland und Österreich, die
anscheinend ihre Lektion gelernt haben, gewinnt der Faschismus und
Populismus überall an Boden.
Warum , um Gottes
Willen?
DIE LÄNDER
unterscheiden sich von einander. Jede lokale politische Szene ist
einzigartig. So ist es leicht, die lokalen Gründe für die
Ergebnisse jeder Wahl und Volksabstimmung zu finden.
Aber wenn
dieselbe Sache überall geschieht, in vielen Ländern und fast
gleichzeitig, ist man gezwungen, nach einem gemeinsamen Nenner zu
suchen, nach einem Grund, der bei all diesen verschiedenen
Phänomenen gilt.
Es ist der
Nationalismus.
Worin wir gerade
Zeugen werden, ist eine Rebellion von Nationalismus gegen den
Trend einer post-nationalistischen, regionalen und globalen Welt.
Dieser Trend hat
praktische Gründe. In den meisten Gebieten menschlicher Bemühung
werden immer größere Einheiten gefordert.
Industrien und
Finanzinstitutionen fordern große Einheiten. Je größer die Einheit,
umso rationaler die Wirtschaft. Ein Land mit einem Markt von zehn
Millionen kann nicht mit einem Markt von einer Milliarde Menschen
konkurrieren. Vor Jahrhunderten hat dieser Trend kleine Provinzen
wie Bayern oder Katalonien gezwungen, sich Nationalstaaten wie
Deutschland oder Spanien anzuschließen.
Heutzutage ist
das wirtschaftliche Leben von Milliarden von anonymer,
superstaatlicher Körperschaften bestimmt, die nirgendwo und überall
sitzen, weit entfernt von der Verständnis gewöhnlicher Leute.
Gleichzeitig hat
die Informations-Revolution immer größere Wissens-Gemeinschaften
geschaffen. Vor fünfhundert Jahren war es selten, dass ein Bauer in
Europa sich weiter als bis zum nächsten Dorf bewegte. Das Reisen
war teuer, nur Aristokraten hatten Pferde, eine Wagenfahrt zur
nächsten Großstadt kam für die meisten Leute nicht in Frage. Aus
demselben Grund war es unmöglich, Waren über große Entfernungen zu
transportieren. Die Leute aßen, was in ihrer Nähe wuchs..
Nachrichten reisten langsam, wenn überhaupt.
Heutzutage hört
man egal, wo man lebt, über die österreichischen Wahlergebnisse
oder über eine Revolution in Malawi innerhalb von Minuten. Die
Welt ist ein Dorf geworden.
Fast jeder hat
einen Internet-Anschluss. Er oder sie können sich mit fast jedem auf
dem Globus unterhalten, während Wissenschaftler an vielen Orten
tief in das Universum tauchen.
In dieser neuen
Welt ist der Nationional-Staat eine leere Schale geworden, eine
Flagge, eine Nationalhymne, ein Fußballteam, eine Briefmarke, die
immer weniger gebraucht wird.
DOCH DAS
Ende der Nützlichkeit eines nationalen Staates hat noch nicht das
Ende des Nationalismus‘ erreicht. Weit entfernt davon.
Der menschliche
Verstand verändert sich viel langsamer als materielle Umstände. Er
hinkt mindestens drei oder vier Generationen hinterher, er hängt an
überholten Ideen und Idealen, während politische, wirtschaftliche
und militärische Realitäten davonrasen.
Moderner
Nationalismus kam erst vor zwei oder drei Jahrhunderten auf. Es ist
eine vergleichsweise neue Erfindung. Einige glauben, dass er von
der französischen Revolution geschaffen wurde. Ein angesehener
Historiker behauptet, dass er von spanischen Siedlern in Südamerika
geschaffen wurde, die den spanischen Imperialismus los sein wollten
und für sich selbst eine unabhängige Nation begründen wollten.
Wie dem auch sei,
der Nationalismus wurde schnell die herrschende Kraft in der Welt.
Am Ende des 1.Weltkrieges brachen die alten Reiche zusammen und
schufen ein Dutzend Nationalstaaten. Der 2. Weltkrieg beendete den
Job.
Der Nationalstaat
stand auf zwei Beinen: dem materiellen und dem spirituellen. Der
materielle musste größere Märkte schaffen und sie gegen andere
große Märkte verteidigen. Der geistige Aspekt ist, das Bedürfnis zu
einer Menschengruppe zu gehören,
Tatsächlich ist
dieses Bedürfnis so alt wie die menschliche Rasse. Menschen mussten
zusammenstehen, um sich selbst gegen andere zu verteidigen, sie
mussten zusammen arbeiten, beim Jagen und Pflanzen. Sie lebten in
großen Familien, dann in Stämmen, in Königreichen und Republiken.
Soziale Gruppierungen bildeten sich und änderten sich während der
Jahrhunderte bis die modernen Nationen alle andern Gruppierungen
ablösten.
Für die meisten
ist die Notwendigkeit, zu einer Nation zu gehören, eine tiefe
psychologische Angelegenheit. Die Menschen schaffen eine nationale
Kultur, oft sprechen sie eine nationale Sprache. Menschen sterben
für ihre Nation.
Große moderne
Bewegungen versuchen den Nationalismus zu Gunsten anderer
Ideologien zu überwinden. Der Kommunismus war ein prominentes
Beispiel. Das Proletariat hat kein Vaterland. Doch in seiner Stunde
der größten Gefahr, unter dem Ansturm des super-nationalen
Faschismus‘ gab die Sowjet Union die „Internationale“ auf und
übernahm eine Nationalhymne, und Stalin proklamierte den Großen
Patriotischen Krieg. Später brach die internationalistische Sowjet
Union zusammen und Russland fiel in den reinen Nationalismus,
personifiziert von Vladimir Putin.
Ich glaube, dass
das, wovon wir jetzt Zeugen sind, eine weltweite Reaktion gegen den
Post-Nationalismus und den Globalismus ist. Die Menschen wollen
keine Bürger der Welt sein, auch keine Europäer oder Nordamerikaner.
Ein paar mögen vorausmarschieren, aber die gewöhnlichen Leute hängen
an ihrer Nation. Sie wollen Franzosen, Polen oder Ungarn sein.
Dies ist ein
Bedürfnis, das von unten kommt. Die „Eliten“, die Hoch- Gebildeten
und die Reichen mögen weiterschauen und sich den neuen Realitäten
anschließen, aber die „untere Klasse“ der herrschenden Nation ist
leidenschaftlich nationalistisch und selbst faschistisch. Der
höfliche Terminus dafür ist „Populismus“.
FOLGT ISRAEL
demselben Trend? Und ob.
In der Tat können
Israelis darüber stolz sein, dass es hier sogar vor dem Brexit und
Trump geschehen ist.
Israel ist jetzt
fest im Griff einer Ultra-Rechten, fremdenfeindlichen, antifrieden-,
annexionistische Regierung, die kaum verkappte Faschisten
einschließt. Benjamin Netanjahu scheint zuweilen fast moderat zu
sein, verglichen mit einigen seiner Verbündeten und Anhänger.
Israel wurde vom
Zionismus geschaffen, einer revolutionären Bewegung, die viele
andere Revolutionen des 20. Jahrhunderts überlebte. Der Zionismus
war eine nationalistische Bewegung ohne eine Nation. Ihre Gründer
mussten eine Nation erfinden, die vorher nicht existierte. Sie
musste eine zerstreute, ethnisch-religiöse Gemeinschaft, die
Tausende von Jahren in einer sich veränderten Welt überlebt hatte,
in eine moderne Nation verwandeln. Die Gründer des Zionismus sahen
dies als einzige Antwort auf den Antisemitismus, der die illegale
Tochter des modernen europäischen Nationalismus war.
Selbst der Name
dieser Nation ist umstritten. Ist sie eine jüdische Nation? Eine
hebräische Nation, wie einige von uns sie lieber nennen würde? Eine
israelische Nation? Und wo lässt sie die Millionen von Juden, die
nicht einmal davon träumen würden, nach Israel einzuwandern oder die
20% israelischer Bürger, die behaupten zur palästinensischen Nation
zu gehören, die (bis jetzt) keinen Staat hat?
Dieser
schwankende ideologische Boden hat einen
jüdisch-hebräisch-israelischen Nationalismus geschaffen, der stärker
und leidenschaftlicher ist als die meisten.
WEDER IN
Israel noch anderswo hat eine progressive, friedenliebende Bewegung
eine Chance für Erfolg, wenn sie als antagonistisch zum
Nationalismus begriffen wird.
Ich hatte dies in
meinem ganzen Leben geglaubt. Ich definierte mich immer als
Nationalist. Ich bin überzeugt, dass es keinen grundlegenden
Widerspruch zwischen Nationalismus und Internationalismus gibt. In
der Tat bedeutet Inter-Nationalismus buchstäblich Zusammenarbeit
zwischen den Nationen.
Als israelischer
Nationalist glaube ich an die Rechte anderer Völker, die sich an
ihre eigenen nationalen Werte halten. Dies bedeutet zunächst alle
Achtung für das palästinensische Volk und ihr Recht auf einen
eigenen nationalen Staat, Seite an Seite mit Israel zu haben.
Die israelische
Friedensbewegung muss zunächst ihrem nationalen Charakter Geltung
verschaffen. Wir sind die wahren Nationalisten. Wir wollen, dass
Israel in Frieden und Sicherheit blüht, während die
Pseudo-Nationalisten, die an der Macht sind, uns jetzt in eine
Katastrophe führen. Erlauben wir den Faschisten nicht, uns den
Nationalismus wegzunehmen.
Einige ziehen
vor, sich eher „Patrioten“ zu nennen anstelle von Nationalisten.
Aber Patria bedeutet Vaterland. Es bedeutet dasselbe
Als israelische
Nationalisten müssen wir für die Solidarität aller Nationen in
unserer Region kämpfen und uns dem Marsch zu einer Weltordnung
anschließen, wo alle Nationen blühen können.
Ich würde all
unseren Schwester-Bewegungen in der ganzen Welt raten, dasselbe zu
tun und die dunkle Welle zurückweisen, die uns alle zu verschlingen
droht.
(dt. Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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