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Im Osten nichts Neues
Uri Avnery, 31.7.10
LEUTE MIT politisch sensiblen Ohren wurden in dieser Woche von einem
Wort aufgeschreckt, das anscheinend versehentlich von Binyamin
Netanyahu ausgesprochen wurde: die „Ostfront“.
Es
war einmal eine Zeit, in der dieses Wort Teil des
Besatzungsvokabulars war. In den letzten Jahren war es vom Staub des
politischen Schrottplatzes zugedeckt worden.
DAS WORT „Ostfront“ wurde nach dem Sechs-Tage-Krieg geschaffen. Es
half, die strategische Doktrin aufzustellen, dass der Jordan Israels
„Sicherheitsgrenze“ sei.
Die Theorie: für drei Armeen gibt es die Möglichkeit, sich östlich
des Jordans zu formieren: die irakische, die syrische und die
jordanische; dort den Fluss zu überqueren und die Existenz Israels
zu gefährden. Wir müssen sie stoppen, bevor sie das Land betreten.
Deshalb muss das Jordantal als ständige Basis der israelischen Armee
dienen, unsere Soldaten müssen dort bleiben.
Dies war von Beginn an eine zweifelhafte Theorie. Um an solch einer
Offensive teilzunehmen, müsste sich die irakische Armee sammeln,
die Wüste durchqueren und sich in Jordanien aufstellen – eine lange
und komplizierte logistische Operation, die der israelischen Armee
reichlich Zeit geben würde, die Iraker zu schlagen, bevor sie an
das Jordanufer kämen. Was die Syrer betrifft, würde es für
sie viel leichter sein, Israel auf den Golanhöhen anzugreifen als
ihre Armee nach Süden zu lenken, um vom Osten her anzugreifen. Und
Jordanien ist immer ein geheimer – aber loyaler – Partner Israels
gewesen (abgesehen von der kurzen Episode im Sechs-Tage-Krieg.)
In
den vergangenen Jahren ist diese Theorie eindeutig lächerlich
geworden. Die Amerikaner haben den Irak überfallen und Saddam
Husseins glorreiche Armee besiegt und aufgelöst, die sich als
Papiertiger entpuppte. Das Königreich Jordanien hat einen
offiziellen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet. Syrien benützt
jede Gelegenheit, um sein Verlangen nach Frieden zu demonstrieren,
wenn Israel nur die Golanhöhen zurückgeben würde. Kurz gesagt,
Israel hat von seinen östlichen Nachbarn nichts zu befürchten.
Nun, die Situationen können sich ändern. Regime ändern sich,
Allianzen ändern sich. Aber es ist unmöglich, sich eine Situation
vorzustellen, in der drei Schrecken einjagende Armeen den Jordan
nach Kanaan überqueren würden, wie einst die Kinder Israels in der
biblischen Geschichte.
Außerdem gehört die Idee einer Bodenoffensive wie der
Nazi-Blitzkrieg im 2. Weltkrieg der Geschichte an. In einem
zukünftigen Krieg werden Raketen mit großer Reichweite eine
dominante Rolle spielen. Man könnte sich deshalb israelische
Soldaten im Jordantal auf Liegestühlen liegend vorstellen, wie sie
die Raketen in beiden Richtungen über ihre Köpfe fliegen sehen.
Wie erwachte nun diese blöde Idee zu neuem Leben?
ES
KÖNNTE sinnvoll sein, 43 Jahre zurückzugehen, um zu verstehen, wie
dieses Schreckgespenst geboren wurde.
Nur sechs Wochen nach dem Sechs-Tage-Krieg wurde der „Allon-Plan“
herausgebracht. Yigal Allon – damals Arbeitsminister – legte ihn der
Regierung vor. Er wurde nicht offiziell adoptiert, aber er übte
einen großen Einfluss auf die israelische Führung aus.
Keine autorisierte Karte wurde von diesem Plan je veröffentlicht,
aber die Hauptpunkte wurden bekannt. Allon schlug vor, das Jordantal
und die Westküste des Toten Meeres Israel anzuschließen. Was von der
Westbank übrig blieb, würden von israelischem Territorium umgebene
Enklaven werden, außer einem schmalen Korridor nahe Jericho, der die
Westbank mit Jordanien verbinden würde. Allon schlug auch vor,
gewisse Gebiete der Westbank Israel anzuschließen, den Norden des
Sinai ( die „Rafah-Öffnung“ ) und den Süden des Gazastreifens (den „Kativblock“).
Es
war ihm egal, ob die Westbank Jordanien zurückgegeben würde oder
eine separate palästinensische Entität würde. Einmal griff ich ihn
vom Knesset-Rednerpult an und klagte ihn an, er würde die Errichtung
eines palästinensischen Staates blockieren, die ich befürwortete.
Als ich auf meinen Platz zurückging, sandte er mir eine Notiz: „ Ich
bin für einen palästinensischen Staat in der Westbank. Wieso bin
ich also weniger eine Friedens- Taube als Du?“
Der Plan wurde als militärischer Imperativ vorgebracht, aber seine
Motive waren ganz andere.
In
jenen Tagen traf ich mich ziemlich regelmäßig mit Allon. So hatte
ich die Möglichkeit, seinen Gedanken zu folgen. Er war einer der
hervorragendsten Kommandeure des 1948er Krieges und wurde als
Militärexperte angesehen, aber vor allem war er ein führendes
Mitglied der Kibbuz-Bewegung, die damals einen großen Einfluss im
Lande ausübte.
Unmittelbar nach der Eroberung der Westbank sandte die
Kibbutzbewegung ihre Leute in die besetzten Gebiete und schaute nach
Land, das für intensive, moderne Landwirtschaft geeignet sein würde.
Natürlich war sie vom Jordantal angezogen. Von ihrem Standpunkt aus
war es ein idealer Platz für neue Kibbutzim. Es gab dort viel
Wasser, das Gebiet war eben und für moderne Landwirtschaftsmaschinen
außerordentlich geeignet. Und besonders wichtig: es war nur dünn
besiedelt. Alle diese Vorteile fehlten in andern Westbankregionen:
eine zu dichte Bevölkerung, die Topographie gebirgig und das Wasser
rar.
Meiner Meinung nach war der Allon-Plan eine Frucht
landwirtschaftlicher Gier, und die militärische Theorie war nichts
anderes als ein zweckdienlicher Sicherheitsvorwand. Und tatsächlich
war die unmittelbare Folge die Gründung einer großen Anzahl von
Kibbutzim und Moschavim ( Kooperativdörfer) in dem Tal.
Jahre vergingen, bevor die Grenzen des Allon-Planes aus einander
brachen und Siedlungen überall auf der Westbank errichtet wurden.
DER ALLON-PLAN ließ das Schreckgespenst der „Ostfront“ hochkommen,
und seitdem terrorisiert es jene, die Frieden suchen. Wie ein
Gespenst kommt und geht es, materialisiert sich und verschwindet
wieder, einmal in der einen, ein andermal in anderer Form.
Ariel Sharon verlangte die Annexion des „erweiterten Tales“. Das
Tal selbst ist ein Teil des großen Syrisch-Afrikanischen Grabens,
ist 120 km lang ( vom See Genezareth bis zum Toten Meer) aber nur 15
km breit. Sharon verlangte deshalb fast zwanghaft, ihm den „Rücken
des Gebirges“ hinzuzufügen und meinte damit die östlichen Hänge des
zentralen Westbankgebirges. So würde das Jordantal erweitert
werden.
Als Sharon das Projekt der Trennungsmauer übernahm, war es dafür
gedacht, nicht nur die Westbank vom eigentlichen Israel zu trennen,
sondern auch vom Jordantal. Das würde zu dem passen, was „Allon-Plan-Plus“
genannt wurde. Die Mauer würde dann die ganze Westbank umgeben ,
ohne einen Jerichokorridor. Dieser Plan ist nicht erfüllt worden,
zum einen wegen der internationalen Opposition und aus Mangel an
Finanzen.
Seit dem Oslo-Abkommen haben fast alle auf einander folgenden
israelischen Regierungen darauf bestanden, das Jordantal müsse bei
jedem zukünftigen Friedensabkommen in israelischen Händen bleiben.
Diese Forderung erschien in vielen Gestalten: manchmal waren es
die Worte „Sicherheitsgrenze“, manchmal „Warnstationen“, manchmal
„militärische Einrichtungen“ und manchmal „langfristige Pacht“ je
nach den kreativen Talenten der auf einander folgenden
Ministerpräsidenten. Der gemeinsame Nenner : das Tal sollte unter
israelischer Kontrolle bleiben.
NUN KOMMT Netanyahu und erweckt verbal die „Ostfront“ zu neuem
Leben.
Welche „Ostfront“? Was für eine Bedrohung kommt von den östlichen
Nachbarn? Wo ist Saddam Hussein? Wo ist Hafez al-Assad? Wird Mahmoud
Ahmadinejad die Panzer- Kolonnen der Revolutionsgarden zu den
Jordanübergängen schicken?
Nun gut, es geht folgendermaßen vor sich : die Amerikaner werden
eines Tages den Irak verlassen. Dann wird ein neuer Saddam Hussein
kommen, dieses Mal ein Schiite, der sich mit den Schiiten des Iran
und mit den verräterischen Türken verbündet. Und wie weit kann man
sich auf den jordanischen König verlassen, der Netanyahu
verabscheut? Schreckliche Dinge mögen geschehen, wenn wir keine
Wacht am Jordan haben.
Das ist eindeutig grotesk. Was ist also das wirkliche Ziel?
Die ganze Welt ist mit der amerikanischen Forderung beschäftigt, mit
„direkten Gesprächen“ zwischen Israel und der palästinensischen
Behörde zu beginnen. Man mag versucht sein, zu denken, der
Weltfrieden hänge davon ab, dass die „indirekten Gespräche“ („proximity
talks“) zu „direkten Gesprächen“ werden. Noch nie sind so viele
Worte frömmlerischer Heuchelei über solch eine triviale Sache vertan
worden.
Die „proximity talks“ sind jetzt seit mehreren Monaten geführt
worden. Es stimmt nicht, dass ihre Ergebnisse fast bei Null sind.
Sie sind Null, absolut Null. Was wird also geschehen, wenn die
beiden Parteien in einem Raum zusammensitzen ? Man kann mit
absoluter Sicherheit vorhersagen: noch mal Null. Ohne amerikanische
Entschlossenheit, eine Lösung zu erzwingen, wird es keine Lösung
geben.
Warum besteht Obama darauf? Es gibt eine Erklärung: im ganzen Nahen
Osten hat seine Politik versagt. Er braucht dringend einen
eindrucksvollen Erfolg. Er versprach, den Irak zu verlassen - die
Situation aber macht es unmöglich. Der Krieg in Afghanistan wird
schlimmer. Der eine General geht, ein anderer kommt, und der Sieg
ist weiter entfernt denn je. Man kann sich schon vorstellen, wie
der letzte Amerikaner vom Dach der amerikanischen Botschaft in Kabul
in den letzten Hubschrauber klettert.
Also bleibt nur noch der israelisch-palästinensische Konflikt. Auch
hier sieht sich Obama einem Misserfolg gegenüber. Er hoffte, viel zu
erreichen, ohne irgendetwas zu investieren und wurde leicht von der
Israel-Lobby besiegt. Um die Schande zu verbergen, benötigt er
etwas, das der ignoranten Öffentlichkeit als großer amerikanischer
Sieg hingestellt werden kann. Die Wiederaufnahme der „direkten
Gespräche“ sollen solch ein Sieg sein.
Netanyahu seinerseits ist ganz zufrieden mit der Situation, wie sie
ist. Israel ruft nach direkten Gesprächen, die Palästinenser weigern
sich. Israel streckt seine Hand zum Frieden aus, die Palästinenser
wenden sich ab. Mahmoud Abbas verlangt, dass Israel das Einfrieren
des Siedlungsbaus verlängert und im voraus erklärt, dass die
Verhandlungen sich auf die Grenzen von 1967 gründen müssten .
Aber die Amerikaner üben enormen Druck auf Abbas aus und Netanyahu
fürchtet, dass er nachgeben wird. Deshalb erklärt er, er könne den
Siedlungsbaustop nicht verlängern, weil sonst - um Gottes willen -
seine Koalition zerbrechen würde. Und als ob dies nicht genügen
würde, kommt jetzt die „Ostfront“ ins Gespräch. Die israelische
Regierung hat den Palästinensern zu verstehen gegeben, dass es das
Jordantal nicht aufgeben wird.
Um
diesen Punkt zu betonen, hat Netanyahu damit begonnen, die
verbliebene palästinensische Bevölkerung des Tales – ein paar
Tausend – zu entfernen. Ganze Dörfer werden vernichtet. Das begann
in dieser Woche mit Farasiya, wo alle Häuser und die
Wasserinstallationen zerstört wurden. Dies ist pure und simple
ethnische Säuberung, wie die ähnlichen Operationen, die jetzt gegen
die Beduinen im Negev durchgeführt werden.
Was Netanyahu jetzt zu verstehen gibt: Abbas sollte zweimal denken,
bevor er in „direkte Gespräche“ einwilligt.
DAS JORDANTAL geht bis zum niedrigsten Punkt der Erdoberfläche,
zum Toten Meer, 400 m unter dem Meeresspiegel.
Das Wiederbeleben der „Ostfront“ mag den niedrigsten Punkt von
Netanyahus Politik anzeigen – mit der Absicht, jeder verbleibenden
Friedenschance ein für alle Mal den Todesstoß zu versetzen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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