Guten Morgen,
Hamas
Uri Avnery, 1.3.08
Wir leben in einer Welt von
Gespenstern und Dämonen. Wir führen nicht Krieg gegen
lebendige Menschen und wirkliche Organisationen, sondern
gegen Dämonen und Teufel, die nur unsere Vernichtung im
Sinne haben. Es ist der Krieg der Söhne des Lichts gegen die
Söhne der Dunkelheit, der absoluten Gerechtigkeit gegen das
absolute Böse. So sieht es bei uns aus, so sieht es auch auf
der anderen Seite aus.
Lasst uns versuchen, diesen
Krieg aus den Gefilden der Halluzinationen auf den Boden der
Tatsachen zu holen. Es kann keine vernünftige Politik geben,
auch keine vernünftige Diskussion, wenn wir nicht die
Atmosphäre der Albträume und Schreckensszenarien verlassen.
Nach dem Sieg der Hamas in den
palästinensischen Wahlen haben wir zu Gesprächen mit ihr
aufgerufen. Hier einige der Fragen, die von allen Seiten auf
mich herab regneten:
- Mögen Sie Hamas?
Überhaupt nicht. Ich bin ein
säkularer Mensch. Ich bin gegen jede Ideologie, die Politik
und Religion vermengt – sei sie jüdisch, islamisch oder
christlich, in der arabischen Welt wie in Amerika.
Das hat mich aber nicht
gehindert, mit Hamas-Leuten zu sprechen, wie ich auch mit
anderen Leuten gesprochen habe, mit deren Meinung ich nicht
übereinstimme. Es hat mich nicht gehindert, in ihrem Hause
zu Gast zu sein, Meinungen auszutauschen, zu versuchen, sie
zu verstehen. Einige haben mir gut gefallen, andere nicht.
- Stimmt es, dass Israel Hamas
geschaffen hat?
Israel hat Hamas nicht
geschaffen, hat aber viel zu ihrer Entstehung beigetragen.
In den ersten zwanzig Jahren
der Besatzung sah die israelische Regierung in der PLO ihren
Haupt-Feind. Deshalb unterstützte sie palästinensische
Organisationen, die die PLO unterminieren konnten. Man
erinnere sich an den lächerlichen Versuch Ariel Sharons,
"die Dorfgesellschaften“ zu bilden, die als Agenten der
Besatzung fungieren sollten.
Die Gemeinde der israelischen
Geheimdienste, die sich in den letzten sechzig Jahren bei
fast allen Vorhersagen bezüglich der arabischen Welt geirrt
hat, lag auch diesmal daneben. Sie glaubte, die Gründung
einer islamischen Körperschaft würde die säkulare PLO
schwächen. Zu einer Zeit, als die Militär-Administration in
den besetzten Gebieten jeden Palästinenser ins Gefängnis
warf, der sich irgendwie politisch betätigte – auch wenn er
sich für den Frieden einsetzte - rührte sie religiöse
Aktivisten nicht an. Die Moscheen waren die einzigen Orte,
an denen sich Muslime versammeln und politisch organisieren
konnten.
Diese Auffassung basierte
natürlich auf komplettem Unverständnis für den Islam und die
palästinensische Wirklichkeit.
Hamas wurde offiziell Ende 1987
gegründet, kurz nach Ausbruch der ersten Intifada. Selbst
damals noch tolerierte der israelische Geheimdienst (bekannt
als Shin-Bet oder Shabak) die Organisation großzügig. Nur
ein Jahr später verhaftete er ihren Gründer Sheikh Ahmad
Yassin.
Die Ironie des Schicksals
brachte es mit sich, dass die israelische Führung jetzt die
PLO unterstützt, um Hamas zu untergraben. Es gibt wohl kein
deutlicheres Zeichen für die Dummheit unserer „Fachmänner“
in allen arabischen Angelegenheiten, eine Dummheit, die
ihren Ursprung hat in Überheblichkeit und Verachtung. Hamas
ist gefährlicher für Israel als die PLO es jemals war.
- Weist der Wahlsieg der Hamas
auf eine Stärkung des Islam bei den Palästinensern hin?
Nicht unbedingt. Das
palästinensische Volk ist nicht über Nacht religiöser
geworden.
Tatsächlich gibt es in der
Region einen langsamen Prozess der Stärkung des Islam, von
der Türkei bis zum Jemen, von Marokko bis zum Irak. Es ist
die Antwort der neuen Generation auf das Versagen des
arabischen säkularen Nationalismus beim Lösen nationaler und
gesellschaftlicher Probleme. Das hat aber nicht zum
Erdbeben in der palästinensischen Gesellschaft geführt.
- Wenn das so ist, warum hat
die Hamas dann die Wahlen gewonnen?
Dafür gibt es mehrere Gründe.
Meiner Ansicht nach war der wichtigste die wachsende
Überzeugung bei den Palästinensern, dass sie auf gewaltlosem
Wege bei den Israelis nie etwas erreichen würden. Nachdem
Yasser Arafat ermordet worden war, glaubten viele
Palästinenser, wenn sie Machmud Abbas (Abu-Mazen) wählten,
könne er bei Israel und den USA Dinge erreichen, die diese
Arafat zu gewähren nicht bereit waren. Sie mussten
herausfinden, dass genau das Gegenteil geschah: Keine
Verhandlungen, und die Siedlungen werden täglich größer.
Sie sagten sich: Wenn es mit
friedlichen Mitteln nicht geht, haben wir keine Wahl, es
muss auf kriegerischem Wege gehen. Und wenn es Krieg sein
soll, gibt es keine besseren Kämpfer als die Hamas.
Außerdem: Die Korruption, die
sich in den Führungskreisen der Fatah breit gemacht hatte,
erreichte Dimensionen, die die Mehrheit der Palästinenser
empörte. Solange Arafat am Leben war, wurde die Korruption
noch irgendwie toleriert, da man wusste, dass Arafat selbst
ehrenhaft war, und seine Bedeutung für den palästinensischen
Kampf überdeckte die Fehler seiner Regierung. Nach Arafat
wurde für viele die Korruption unerträglich. Hamas dagegen
galt als sauber, ihre Führer wurden als nicht korrupt
eingeschätzt. Ihre Wohltätigkeits- und
Bildungsinstitutionen, zum Großteil von Saudi-Arabien
subventioniert, hatten sich einen guten Ruf erworben.
Auch die Spaltungen innerhalb
der Fatah halfen den Kandidaten der Hamas.
Hamas hatte natürlich nicht an
den vorhergehenden Wahlen teilgenommen. Aber allgemein wurde
angenommen – auch von Hamas selbst – dass sie 25 Prozent der
Öffentlichkeit vertritt.
- Kann man vernünftigerweise
erwarten, dass die Palästinenser selbst die Hamas stürzen?
Solange die Besatzung andauert,
gibt es dafür nicht die mindeste Chance. Ein hoher
israelischer Offizier behauptete vor einigen Tagen, wenn die
israelische Armee nicht mehr in der Westbank operierte,
würde auch die Westbank in die Hände der Hamas fallen.
Die Regierung Abu-Mazen steht
auf tönernen Füßen, denen Amerikas und Israels. Wenn die
Palästinenser endgültig das letzte bisschen Vertrauen in
Abu-Mazens Fähigkeit, Frieden zu erreichen verlieren,
kollabiert seine Macht.
- Aber wie kann man mit einer
Organisation, die verkündet, sie würde Israel nie
anerkennen, deren Charta zur Zerstörung des jüdischen Staats
aufruft, eine Übereinkunft erzielen?
Die Sache mit der Anerkennung
ist Unsinn, ein Vorwand, um Gespräche zu vermeiden. Wir
brauchen von niemandem "anerkannt" werden. Als die USA
Verhandlungen mit Vietnam begannen, forderten sie nicht, als
angelsächsischer, christlicher, kapitalistischer Staat
anerkannt zu werden.
Wenn A mit B einen Vertrag
unterschreibt, heißt das, A erkennt B an. Alles andere ist
Firlefanz.
Zum selben Thema: Die Charta
der Hamas erinnert an die Charta der PLO zu seiner Zeit. Ein
ziemlich unwichtiges Dokument, das von unseren
Repräsentanten jahrelang dazu benützt wurde, Gespräche mit
der PLO zu verweigern. Himmel und Erde wurden bewegt, um die
PLO dazu zu bringen, die Charta zu annullieren. Wer
erinnert sich heute noch daran? Wichtig sind die Taten von
heute und morgen, nicht Papiere von gestern.
- Worüber sollen wir mit der
Hamas sprechen?
Zu allererst über eine
Feuerpause. Wenn eine Wunde blutet, muss zuerst die Blutung
gestoppt werden, bevor man die Wunde versorgt.
Hamas hat viele Male eine
Feuerpause angeboten, die im Arabischen "Tahdiyeh"
(Beruhigung) heißt. Sie bedeutet: Beide Seiten verpflichten
sich, jede feindliche Handlung einzustellen: Qassam-Raketen,
Grad-Raketen, Mörsergranaten von Seiten der Hamas und den
anderen Organisationen, "gezielte Liquidationen",
militärische Einfälle und Aushungern von Seiten Israels.
Die Verhandlungen sollten mit
Hilfe der Ägypter geführt werden, umso mehr, als sie die
Grenze zwischen dem Gazastreifen und dem Sinai öffnen
müssten. Gaza muss die Freiheit wieder erhalten, zu Lande,
zu Wasser und in der Luft mit der Welt zu kommunizieren.
Wenn Hamas die Ausweitung der
Feuerpause auch auf die Westbank fordert, sollte auch das
besprochen werden. Das würde natürlich die Notwendigkeit
eines Trialogs Hamas-Fatah-Israel bedeuten.
- Wird Hamas die Feuerpause
nicht zur Bewaffnung ausnützen?
Natürlich. Genauso wird es
Israel machen. Vielleicht wird es uns endlich gelingen,
einen Schutz vor den Raketen auszubauen.
- Wenn die Feuerpause
durchgesetzt wird, was wird der nächste Schritt?
Ein Waffenstillstand, im
Arabischen "Hudnah".
Hamas tut sich schwer, mit
Israel einen formalen Friedensvertrag zu unterschreiben, da
für sie Palästina "Wakf" ist – ein Ort, der Gott gehört.
(Seinerzeit hatte das politische Gründe: Als der Kalif Omar
Palästina eroberte, befürchtete er, seine Generäle könnten
das Land unter sich aufteilen, wie sie es mit Syrien getan
hatten. Deshalb erklärte er es zum Gottes-Besitz. Hier zeigt
sich einige Ähnlichkeit zur Auffassung unserer eigenen
Religiösen, die behaupten, es wäre eine Sünde, auch nur auf
einen Teil des Landes zu verzichten, da Gott es uns
versprochen habe.)
Hudnah ist eine Alternative zum
Frieden. Sie ist ein tief in der islamischen Tradition
verwurzelter Akt. Der Prophet Mohammed selbst schloss eine
Hudnah mit den Herrschern Mekkas, die er nach seiner Flucht
von Mekka nach Medina bekämpft hatte. (Übrigens traten vor
Ende des für die Hudnah festgesetzten Zeitraums die Bewohner
Mekkas zum Islam über, und der Prophet kehrte friedlich in
die Stadt zurück.) Da die Hudnah eine religiöse Sanktion
hat, kann sie von gläubigen Muslimen nicht gebrochen werden.
Eine Hudnah kann Jahrzehnte
andauern und uneingeschränkt verlängert werden. Eine lange
Hudnah bedeutet in der Praxis Friede, wenn die Beziehungen
zwischen beiden Seiten die Wirklichkeit des Friedens
schaffen.
- Also ist ein formeller Friede
unmöglich?
Auch dafür gibt es eine Lösung.
Hamas hat in der Vergangenheit erklärt, sie habe gegen von
Mahmoud Abbas geführte Friedensverhandlungen nichts
einzuwenden, unter der Bedingung, dass über einen von ihm
erreichter Friedensvertrag durch Volksentscheid abgestimmt
würde. Wenn das palästinensische Volk ihn annimmt, wird
Hamas diesen Beschluss respektieren.
- Weshalb wird Hamas dem
zustimmen?
Wie jede politische Kraft will
Hamas an die Macht im palästinensischen Staat, der in den
Grenzen von 1967 entstehen wird. Dazu muss sie das Vertrauen
der Mehrheit genießen. Es gibt nicht den geringsten Zweifel,
dass die entscheidende Mehrheit des palästinensischen Volkes
einen palästinensischen Staat und Frieden will. Hamas weiß
das gut. Sie wird nichts tun, was sie der Mehrheit
entfremdet.
- Und wo ist bei all dem Platz
für Abbas?
Man muss ihn unter Druck
setzen, damit er eine Vereinbarung mit Hamas trifft, im
Sinne der Vereinbarung, die damals in Mekka getroffen wurde.
Israel hat ein klares Interesse an Verhandlungen mit einer
palästinensischen Regierung, in der die beiden großen
Bewegungen vertreten sind, so dass die erreichte
Vereinbarung von fast allen Teilen des palästinensischen
Volkes akzeptiert wird.
- Arbeitet die Zeit zu unseren
Gunsten?
Jahre lang haben wir der
israelischen Öffentlichkeit erklärt: Lasst uns Frieden
schließen mit der säkularen Führung Yasser Arafats, sonst
wird der nationale Konflikt sich zu einem religiösen
wandeln. Unglücklicherweise hat sich auch diese Voraussage
bewahrheitet.
Wer die PLO nicht wollte, hat
Hamas bekommen. Wenn wir uns nicht mit Hamas einigen, werden
wir extremere islamische Organisationen bekommen, wie zum
Beispiel die Taliban in Afghanistan.
(dt. Gudrun Weichenhan, vom
Verfasser autorisiert)
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