Nein, ich kann nicht!
Uri
Avnery, 7.6.08
NACH MONATEN eines zähen und bitteren Wettrennens und gnadenlosen
Kampfes hat Barak Obama seine beeindruckende Rivalin Hillary
Clinton besiegt. Er hat ein unglaubliches Wunder vollbracht : Das
erste Mal in der Geschichte wurde ein Schwarzer ein glaubwürdiger
Kandidat für die Präsidentschaft des mächtigsten Landes der Welt.
Und was tat er als erstes nach diesem erstaunlichen Sieg? Er rannte
zur Konferenz der Israel-Lobby, zu AIPAC, und hielt dort eine Rede,
die alle Rekorde der Unterwürfigkeit und Liebedienerei brach.
Dies ist schockierend. Noch schockierender ist die Tatsache, dass
niemand schockiert war.
ES
WAR eine triumphale Konferenz. Sogar diese mächtige Organisation
hatte noch nie so etwas erlebt. 7000 jüdische Funktionäre aus allen
US-Staaten waren zusammengekommen, um die Unterwerfung der ganzen
Washington Elite, die zum Kowtow erschienen war, zu akzeptieren.
Alle drei hoffnungsvollen Präsidentenanwärter hielten Reden und
versuchten, einander mit Schmeicheleien zu übertreffen.
Dreihundert Senatoren und Mitglieder des Kongresses bevölkerten die
Korridore. Jeder, der gewählt und wieder gewählt werden wollte,
jeder, der überhaupt irgendwelche politische Ambitionen hatte,
kam, um zu sehen und gesehen zu werden.
Das Washington von AIPAC gleicht dem Konstantinopel der
byzantinischen Herrscher auf dem Höhepunkt ihrer Macht.
Die Welt sah zu und wunderte sich. Die israelischen Medien waren
begeistert. In den Hauptstädten der Welt wurden die Ereignisse
aufmerksam zur Kenntnis genommen und Schlussfolgerungen gezogen.
Alle arabischen Medien berichteten ausführlich darüber. Aljazeera
widmete diesem Phänomen eine Diskussion von einer Stunde.
Die extremsten Schlussfolgerungen der Professoren John Mearsheimer
und Stephen Walt wurden in ihrer Gänze bestätigt. Am Vorabend ihres
Besuches nach Israel – am kommenden Donnerstag – stand die
Israel-Lobby im Zentrum des politischen Lebens der USA und der
ganzen Welt .
WARUM EIGENTLICH? Warum glauben die Kandidaten der amerikanischen
Präsidentschaft, dass die Israel-Lobby so absolut wichtig für ihre
Wahl ist?
Die jüdischen Stimmen sind natürlich wichtig, besonders in
mehreren wichtigen Staaten die das Ergebnis entscheiden werden.
Aber die afrikanisch-amerikanische Wählerschaft ist größer und die
spanische Gemeinde auch. Obama hat Millionen junger Wähler auf die
politische Bühne gebracht. Zahlenmäßig ist die arabisch-muslimische
Gemeinschaft in den USA auch kein unbedeutender Faktor.
Einige sagen, dass es das jüdische Geld sei, das ausschlaggebend
sei. Die Juden sind reich. Vielleicht geben sie mehr als andere
für Politisches . Aber der Mythos über das mächtige jüdische Geld
hat einen antisemitischen Klang. Schließlich haben auch andere
Lobbys und vor allem die großen multinationalen Unternehmen
erhebliche Geldsummen an Obama (und seine Gegner) gegeben. Und
Obama verkündete stolz, dass er hunderttausend gewöhnliche Bürger
dahin gebracht habe, ihm kleine Summen zu spenden, die sich auf
Dutzende von Millionen beliefen.
Stimmt, es ist bewiesen worden, dass die jüdische Lobby fast immer
die Wahl eines Senators oder eines Kongressmitgliedes blockieren
kann, der nicht eifrig nach der israelischen Flöte tanzt. Bei
einigen exemplarischen Fällen, (die wirklich als exemplarisch
geplant worden waren) hat die Lobby populäre Politiker besiegt,
indem sie ihre politische und finanzielle Macht für die Wahl
eines praktisch unbekannten Rivalen eingesetzt hat.
Aber bei der Wahl eines Präsidenten?
DIE OFFENSICHTLICHE Kriecherei Obamas gegenüber der Israel-Lobby
überragt ähnliche Bemühungen anderer Kandidaten.
Warum? Weil er seinen schwindelerregenden Erfolg bei den Vorwahlen
seinem Versprechen verdankt, die Politik zu verändern, der
verkommenen Praxis Washingtons ein Ende zu setzen und die alten
Zyniker mit einer jungen, tapferen Person zu ersetzen, die mit
ihren Prinzipien keine Kompromisse eingeht.
Und siehe da – das erste, was er macht, nachdem er seine Nominierung
seiner Partei abgesichert hat: er kompromittiert seine Prinzipien.
Und wie!
Das was ihn von Hillary Clinton und auch von John McCain haushoch
unterscheidet, ist seine kompromisslose Haltung gegenüber dem
Irakkrieg vom ersten Augenblick an . Das war mutig. Das war
unpopulär. Das war völlig gegen die Israel-Lobby, die insgesamt
George Bush dahin antrieb, den Krieg zu beginnen, um Israel von
einem feindlichen Regime zu befreien.
Und jetzt kommt Obama und kriecht im Staub zu Füßen der AIPAC und
nimmt einen völlig anderen Weg auf, um eine Politik zu
rechtfertigen, die völlig gegen die eigenen Ideen geht.
Nun gut,er versprach, Israels Sicherheit mit allen Mitteln zu
schützen. Das ist üblich. Nun gut, er sprach dunkle Drohungen gegen
den Iran aus, obwohl er versprochen hat, sich mit dessen Führer zu
treffen und alle Probleme friedlich zu lösen. Nun gut, er
versprach, unsere drei gefangenen Soldaten zurückzubringen
(irrtümlicherweise glaubt er, dass alle drei Gefangene der Hisbollah
seien – ein Irrtum, der nebenbei zeigt, dass er sehr oberflächliche
Kenntnisse unserer Angelegenheiten hat.)
Aber seine Erklärung über Jerusalem sprengt alle Grenzen. Es ist
keine Übertreibung, dies skandalös zu nennen.
KEIN PALÄSTINENSER, kein Araber, kein Muslim wird mit Israel Frieden
machen, wenn der Haram-al-Sharif (auch Tempelberg genannt), einer
der drei heiligsten Stätten des Islam und das herausragende Symbol
des palästinensischen Nationalismus, nicht unter palästinensische
Herrschaft kommen wird. Es ist eines der Kernprobleme des
Konfliktes.
Genau deswegen wurde die Camp-David-Konferenz abgebrochen, obgleich
der damalige Ministerpräsident Ehud Barak bereit war, Jerusalem in
irgend einer Weise zu teilen.
Nun kommt Obama und holt vom Müllplatz den abgedroschenen Slogan vom
„ungeteilten Jerusalem, die Hauptstadt Israels in alle Ewigkeit“
zurück. Seit Camp-David haben alle israelischen Regierungen
verstanden, dass dieses Mantra ein unüberwindliches Hindernis für
irgend einen Friedensprozess ist. Deshalb ist es aus dem Arsenal
offizieller Slogans verschwunden - ganz still, fast geheim. Nur die
israelische (und amerikanisch-jüdische) Rechte hält daran fest, und
aus demselben Grund, um schon von Anfang an jede Chance für einen
Frieden zu ersticken, der einen Abbau der Siedlungen nötig machen
würde.
Bei früheren US-Präsidentschafts-Vorwahlen dachten die in Frage
kommenden Kandidaten, es genüge zu versprechen, dass die
US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem umziehen solle. Nach der
Wahl hat niemals einer der Kandidaten sein Versprechen erfüllt. Alle
waren vom Außenministerium überzeugt worden, dass dies die
grundsätzlichen Interessen der US verletze.
Obama ging viel weiter. Es ist möglich, dass es nur ein
Lippenbekenntnis ist und dass er sich sagte: Nun gut, ich muss dies
sagen, um gewählt zu werden – danach, Gott wird schon helfen.
Aber selbst so kann die Tatsache nicht ignoriert werden: die Angst
der AIPAC ist so schrecklich, dass selbst dieser Kandidat, der alles
zu verändern verspricht, es nicht wagt. Bei dieser Sache akzeptiert
er die Washington-Routine alten Stils. Er ist bereit, die
grundsätzlichsten amerikanischen Interessen zu opfern. Schließlich
hat die USA vitale Interessen, einen israelisch-palästinensischen
Frieden zu erreichen, der es erlaubt, Wege zu den Herzen der
arabischen Massen vom Irak bis nach Marokko zu finden. Obama hat
sein Image in der islamischen Welt beschädigt und seine Zukunft
schwer belastet – falls er zum Präsidenten gewählt werden würde.
VOR 65 JAHREN standen die amerikanischen Juden hilflos da, während
Nazi-Deutschland
ihre Brüder und Schwestern in Europa auslöschten. Sie waren nicht
in der Lage, Präsident Franklin Roosevelt zu überzeugen, etwas
Wesentliches zu tun, um den Holocaust zu stoppen. (gleichzeitig
wagten Afro-Amerikaner nicht, zu nahe an die Wahllokale zu kommen,
weil sie Angst vor den Hunden hatten, die man auf sie ansetzte).
Was hat dem amerikanisch-jüdischen Establishment den
schwindelerregenden Zugang zur Macht verholfen? Organisatorisches
Talent? Geld? Aufstieg auf der sozialen Leiter? Die Scham, dass sie
während des Holocausts versagten?
Je
mehr ich über dieses eigenartige Phänomen nachdenke, um so mehr
komme ich zu der Überzeugung (über die ich auch schon in der
Vergangenheit schrieb), das, was wirklich entscheidend ist, sind
die Ähnlichkeiten zwischen dem amerikanischen und dem zionistischen
Unternehmen : beides, auf dem spirituellen wie auch auf praktischem
Gebiet. Israel ist ein kleines Amerika und die USA ein großes
Israel.
Die Passagiere der Mayflower flohen wie die Zionisten der ersten und
zweiten Aliya (Auswanderungswelle) aus Europa und nahmen eine
messianische Vision mit sich : entweder eine religiöse oder eine
utopische.( Die frühen Zionisten waren zwar meistens Atheisten,
aber religiöse Traditionen hatten einen mächtigen Einfluss auf ihre
Vision) Die Gründer der amerikanischen Gesellschaft waren „Pilger“,
die zionistischen Immigranten nannten sich selbst „olim“ – eine
Abkürzung für olim beregel, „Pilger.“ Beide segelten zu einem
„verheißenen Land“ und glaubten, sie seien Gottes auserwähltes Volk
.
Beide litten sehr in ihrem neuen Land. Beide sahen sich als
„Pioniere“, die die Wüste zum Blühen bringt, ein „Volk ohne Land für
ein Land ohne Volk“. Beide ignorierten völlig die Rechte der
einheimischen Bevölkerung, die sie als Untermenschen und Wilde und
Mörder betrachteten . Beide sahen den natürlichen Widerstand der
lokalen Bevölkerung als einen Beweis für ihren eingeborenen
mörderischen Charakter an, der sogar die schlimmsten Grausamkeiten
rechtfertigte. Beide trieben die Eingeborenen hinaus und nahmen ihr
Land ein, als ob es das Normalste wäre, mit der einen Hand am Pflug
und mit der Bibel in der anderen Hand auf jedem Hügel und unter
jedem Baum zu siedeln.
Israel tat zwar nichts, das einem Genozid gegen die eingeborenen
Amerikaner gleichkommt oder etwas wie die Sklaverei, die viele
Generationen lang in den USA bestand. Aber da die Amerikaner diese
Brutalitäten aus ihrem Bewusstsein verdrängt haben, hindert sie das
nicht, sich selbst mit den Israelis zu vergleichen. Es scheint so,
dass es im Unterbewussten beider Nationen ein Ferment unterdrückter
Schuldgefühle gibt, das sich in der Leugnung vergangener Taten , in
Aggressivität und Anbetung der Macht äußert.
WIE KOMMT es, dass ein Mann wie Obama, der Sohn eines afrikanischen
Vaters, sich so vollständig mit den Taten der früheren Generationen
der weißen Amerikaner identifiziert?
Es
zeigt wieder einmal, wie mächtig sich im Bewusstsein einer Person
Mythen verwurzeln können, dass sie sich hundertprozentig mit dem
eingebildeten nationalen Narrativ identifizieren. Dem könnte noch
das unbewusste Bedürfnis hinzugefügt werden, zu den Siegern zu
gehören – wenn möglich.
Deshalb akzeptiere ich die Spekulation mit Vorbehalt: „Nun gut,er
muss so reden, um gewählt zu werden. Einmal im Weißen Haus, dann
wird er zu sich selbst zurückkommen.
Ich bin darüber nicht so sicher. Es könnte sich herausstellen, dass
diese Ideen wirklich seine geistige Welt so beherrschen.
Eines ist für mich sicher: Obamas Erklärungen bei der
AIPAC-Konferenz sind sehr, sehr schlecht für den Frieden. Und was
für den Frieden schlecht ist, ist auch schlecht für Israel und
schlecht für das palästinensische Volk.
Wenn er, einmal gewählt, daran festhält, wird er - was den Frieden
zwischen den beiden Völkern in diesem Land betrifft – gezwungen
sein, zu sagen: „No, I can’t“ –nein, ich kann nicht!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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