In der ersten Reihe
winkend
Uri Avnery, 10.1.2015
DIE DREI islamischen
Terroristen hätten stolz auf sich sein können, wenn sie es erlebt
und gesehen hätten.
Indem sie zwei
Angriffe (nach israelischem Standard ganz gewöhnliche Angriffe)
begangen hatten, verursachten sie in ganz Frankreich Panik, ja,
schickten Millionen von Menschen auf die Straße, versammelten mehr
als 40 Staatsoberhäupter in Paris. Sie veränderten die Landschaft
der französischen Hauptstadt und anderer französischer Städte,
während Tausende von Soldaten und Polizisten mobilisiert wurden, um
jüdische und andere mögliche Ziele zu schützen. Mehrere Tage
beherrschten sie die Nachrichten in aller Welt.
Drei Terroristen, die
wahrscheinlich allein handelten. Drei !!!
FÜR ANDERE
potentielle islamische Terroristen in Europa und Amerika muss dies
wie ein riesiger Erfolg aussehen. Es ist eine Einladung für
Individuen und winzige Gruppen, dasselbe überall zu tun.
Terrorismus heißt
Angst schüren. Den drei in Paris gelang dies gewiss. Sie
terrorisierten die französische Bevölkerung. Und wenn drei
Jugendliche ohne jede Qualifikation dies tun können, dann stelle man
sich vor, was 30 oder gar 300 machen können!
Offen gesagt, liebe
ich diese riesige Demonstration nicht. Ich habe in meinem Leben an
vielen Demonstrationen teilgenommen, vielleicht an mehr als 500,
aber immer gegen die gerade Mächtigen. Ich habe nie an einer
Demonstration teilgenommen, zu der die Regierung aufrief, selbst
wenn sie für einen guten Zweck war. Sie erinnert mich zu sehr an die
frühere Sowjetunion, an das faschistische Italien und Schlimmeres.
Nein, danke, nicht für mich.
Aber diese besondere
Demonstration war auch kontraproduktiv. Sie bewies nicht nur, dass
Terrorismus wirksam ist, sie lud auch Trittbrettfahrer zu Angriffen
ein. Sie berührt auch den wirklichen Kampf gegen Fanatiker nicht.
Um einen wirksamen
Kampf zu führen, muss man zunächst selbst in die Schuhe der
Fanatiker schlüpfen und versuchen, die Beweggründe zu verstehen, die
junge vor Ort geborene Muslime dahin bringt, solche Taten zu tun.
Wer sind sie? Was denken sie? Was fühlen sie? Unter welchen
Umständen sind sie aufgewachsen? Was kann getan werden, um sie zu
verändern?
Nach Jahrzehnten von
Vernachlässigung ist dies harte Arbeit. Es braucht Zeit und Mühe und
bringt unsichere Ergebnisse. Viel einfacher ist es für Politiker,
vor Kameras auf die Straße zu gehen.
UND WER marschierte
in der ersten Reihe, freudestrahlend wie ein Sieger?
Unser eigener und
einziger Bibi.
Wie kam er dahin? Die
Tatsachen kamen innerhalb Rekordzeit ans Licht. Es scheint, als
wäre er gar nicht eingeladen gewesen. Im Gegenteil. Präsident
Hollande flehte ihn an, bitte, bitte nicht kommen. Die Demo würde
sonst zu einer Solidaritäts-Schau mit den Juden, anstelle eines
öffentlichen Aufschreis für die Pressefreiheit und andere
„republikanische Werte“. Netanjahu kam trotzdem mit zwei andern
extrem rechten Ministern im Schlepptau.
In der zweiten Reihe
platziert, tat er, was Israelis tun: er schob einen
schwarz-afrikanischen Präsidenten vor ihm zur Seite und platzierte
sich in die vorderste Reihe.
Als er dort war,
winkte er den Leuten auf den Balkonen der Straße entlang zu. Er
strahlte wie ein römischer General bei einer triumphalen Parade. Man
kann die Gefühle von Hollande und den andern Staatoberhäuptern nur
erraten, die - bei dieser Darstellung von Chutzpeh - entsprechend
feierlich und trauernd auszusehen versuchten.
Netanjahu ging als
Teil seiner Wahl-Kampagne nach Paris. Als Veteran solcher Kampagnen
wusste er, dass drei Tage in Paris mit Synagogen-Besuchen und stolze
jüdische Reden haltend, mehr wert waren, als drei Wochen zu Hause
schmutzige Wahlpropaganda führen.
DAS BLUT der vier
ermordeten Juden im koscheren Supermarkt war noch nicht trocken, als
israelische Führer die Juden Frankreichs aufriefen, die Koffer zu
packen und nach Israel zu kommen. Israel ist ja – wie jeder weiß -
der sicherste Platz auf der Erde.
Dies war fast eine
automatisch zionistische Reaktion. Juden sind überall in Gefahr. Ihr
einziger sicherer Hafen ist Israel. Sputet euch und kommt! Am
nächsten Tag berichteten israelische Zeitungen voller Freude, dass
2015 mehr als 10 000 französische Juden dabei seien, hierher zu
kommen, um hier zu leben, vom zunehmenden Antisemitismus getrieben.
Anscheinend gibt es
in Frankreich und andern europäischen Ländern eine Menge
Antisemitismus, wenn auch wahrscheinlich weit weniger als
Islamophobie. Aber der Kampf zwischen Juden und Arabern auf
französischem Boden hat wenig mit Antisemitismus zu tun. Es ist ein
aus Nordafrika importierter Kampf.
Als 1954 der
algerische Befreiungskrieg ausbrach, mussten die Juden die Seiten
wählen. Fast alle entschieden sich, die Kolonialmacht zu
unterstützen, Frankreich gegen das algerische Volk.
Das hat einen
historischen Hintergrund. 1870 verlieh der französische
Justizminister Adolphe Cremieux, zufällig ein Jude, allen
algerischen Juden die französische Staatsbürgerschaft und trennte
sie so von ihren muslimischen Nachbarn.
Die algerische
Befreiungsfront (FLN) versuchte sehr, die lokalen Juden auf ihre
Seite zu ziehen. Ich weiß es, weil ich irgendwie darin mit
verwickelt war. Ihre Untergrundorganisation in Frankreich bat mich,
eine israelische Unterstützungsgruppe zu bilden, um unsere
algerischen Glaubensgenossen zu überzeugen. Ich gründete das
„Israelische Komitee für ein freies Algerien“ und veröffentlichte
Material, das von FLN bei ihren Bemühungen, die Juden zu gewinnen,
benutzt wurde.
Vergeblich. Die
lokalen Juden, stolz auf ihre französische Staatsbürgerschaft,
unterstützten überzeugt die Kolonialherren. Am Ende waren die Juden
prominent in der OAS, dem extremen französischen Untergrund, der
einen blutigen Kampf gegen die Freiheitskämpfer ausführte. Das
Ergebnis war, dass praktisch alle Juden mit 1Million Franzosen aus
Algerien flohen, als der Tag der Abrechnung kam. Sie gingen nicht
nach Israel. Fast alle gingen nach Frankreich (nicht wie die
marokkanischen und tunesischen Juden, von denen viele nach Israel
kamen. Im Allgemeinen wählten die ärmeren und weniger gebildeten
Israel, während die französisch-gebildete Elite nach Frankreich und
Kanada ging.)
Was wir jetzt sehen,
ist die Fortsetzung dieses Krieges zwischen algerischen Muslimen und
Juden auf französischem Boden. Alle vier „französischen“ Juden, die
bei dem Angriff getötet wurden, hatten nordafrikanische Namen und
wurden in Israel beerdigt.
Nicht ohne Probleme.
Die israelische Regierung setzte die vier Familien unter großen
Druck, ihre Söhne hier zu begraben. Siewollten sie in Frankreich, in
ihrer Nähe beerdigen. Nach einigem Hin und Her über den Preis der
Gräber stimmten die Familien zu.
Man sagt, dass
Israelis die Einwanderung lieben, aber nicht die Einwanderer. Das
gilt sicher auch für die neuen „französischen“ Immigranten. Während
der letzten Jahre sind „französische“ Touristen in großen Scharen
hierhergekommen. Sie waren oft nicht beliebt. Besonders wenn sie
anfingen, Wohnungen an Tel Avivs Küstenstraße zu kaufen und diese
als eine Art Versicherung leer stehen ließen, während junge lokale
Leute weder eine Wohnung im Gebiet der Großstadt finden noch sie
sich leisten können. Praktisch sind all diese „französischen“
Touristen und Immigranten nordafrikanischen Ursprungs.
WENN SIE gefragt
werden, was sie nach Israel treibt, ist ihre einmütige Antwort:
Antisemitismus. Das ist kein neues Phänomen. Die Tatsache ist, dass
die Mehrheit der Israelis, sie, ihre Eltern oder Großeltern durch
Antisemitismus hierher getrieben wurden.
Die beiden Termini –
Antisemitismus und Zionismus – entstanden fast zur selben Zeit,
gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Theodor Herzl, der Gründer der
zionistischen Bewegung, hatte seine Idee, als er in Frankreich als
ausländischer Korrespondent einer Wiener Zeitung während der
Dreyfus-Affäre arbeitete und bösartiger Antisemitismus in Frankreich
neue Höhen erreichte. Antisemitismus ist natürlich ein falscher
Begriff. Araber sind auch Semiten) Aber der Terminus wird allgemein
gebraucht, und meint nur Judenhasser.)
Später drängte Herzl
ausgesprochen antisemitische Führer in Russland und anderswo mit der
Bitte um ihre Hilfe und versprach ihnen, sie von den Juden zu
befreien. Dies taten auch seine Nachfolger. 1939 plante der Irgun,
eine bewaffnete Invasion Palästinas – mit Hilfe der hochgradig
antisemitischen Generäle der polnischen Armee. Man mag sich fragen,
ob der Staat Israel 1948 entstanden wäre, wenn es nicht den
Holocaust gegeben hätte. Vor kurzer Zeit waren anderthalb Millionen
russische Juden vom Antisemitismus nach Israel getrieben worden.
ZIONISMUS ENTSTAND
Ende des 19. Jahrhunderts als direkte Antwort auf die
Herausforderung des Antisemitismus‘. Nach der Französischen
Revolution nahmen alle europäischen Völker die neue nationale Idee
auf, ob sie nun groß oder klein waren - und alle nationalen
Bewegungen waren mehr oder weniger antisemitisch.
Der grundlegende
Glaube des Zionismus ist der, dass Juden nirgendwo außer im
jüdischen Staat leben können, weil der Sieg des Antisemitismus‘
überall unvermeidlich ist. Lassen wir die Juden in Amerika sich
ihrer Freiheit und ihres Wohlstandes erfreuen - früher oder später
wird dies zu einem Ende kommen. Sie sind zum Scheitern verurteilt
wie Juden überall außerhalb Israels.
Die neue
antisemitische Gräueltat in Paris bestätigt nur diesen
grundsätzlichen Glauben. Es gab sehr wenig wirkliches Mitgefühl in
Israel. Eher ein unterdrücktes Gefühl von Sieg. Die Reaktion
gewöhnlicher Israelis ist: „Wir sagten es euch ja!“ und „Kommt
schnell, bevor es zu spät ist!“
ICH HABE meinen
arabischen Freunden oft zu erklären versucht: die Antisemiten seien
die größten Feinde des palästinensischen Volkes. Die Antisemiten
haben die Juden immer nach Palästina getrieben und jetzt tun sie es
wieder. Und einige der neuen Immigranten werden sicherlich jenseits
der Grünen Linie in den besetzten palästinensischen Gebieten auf
gestohlenem Land siedeln.
Die Tatsache, dass
Israel von der Pariser Attacke profitiert, hat einige arabische
Medien dahin gebracht, dass sie glauben, die ganze Affäre sei
wirklich eine Operation unter „falscher Flagge“. Ergo, in diesem
Fall wären die arabischen Täter wirklich vom israelischen Mossad
manipuliert worden.
Nach einem Verbrechen
fragt man: „Cui bono?“ (Wem nützt es?) Offensichtlich ist der
einzige Gewinner dieser Gräueltat Israel. Nun aber den Schluss
daraus zu ziehen, dass sich Israel hinter den Jihadisten verbirgt,
ist blanker Quatsch.
Die einfache Tatsache
ist, dass der ganze islamische Jihadismus auf europäischem Boden nur
die Muslime verletzt. Fanatiker aller Richtungen helfen allgemein
ihren schlimmsten Feinden. Die drei muslimischen Männer, die in
Paris die Gräueltat begingen, haben sicherlich Benjamin Netanjahu
einen großen Gefallen getan.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)