An der Verzweiflung
verzweifeln
Uri Avnery, 16.
September 2017
MEIN OPTIMISMUS
über die Zukunft Israels irritierte viele Leute. Wie kann ich
angesichts dessen, was hier jeden Tag geschieht, ein Optimist
sein?? Die praktische Annexion der besetzten Gebiete? Die
Misshandlung der Araber? Die Implantation der giftigen Siedlungen?
Doch Optimismus ist
ein Zustand der Seele. Sie wankt nicht gegenüber dem Bösen. Im
Gegenteil - das Böse muss bekämpft werden. Und man kann nicht
kämpfen, wenn man nicht glaubt, dass man siegen kann.
Einige meiner
Freunde glauben, dass der Kampf schon verloren ist. Dass Israel
nicht mehr länger „von innen“ verändert werden kann. Dass der
einzige Weg der ist, dass Druck von außen ausgeübt wird.
Zum Glück glauben
sie, es gäbe draußen eine Organisation, die bereit und in der Lage
sei, für uns diesen Job zu erledigen.
Sie wird BDS
genannt – kurz für „Boykott, Desinvestion, Sanktionen“.
EINE DIESER
Freunde ist Ruchama Marton.
Wenn jemand das
Recht hat zu kritisieren und zu verzweifeln, dann ist sie das. Ruchama
ist eine Psychaterin, die Gründerin der „Ärzte für Menschenrechte“,
eine ausgezeichnete israelische Gruppe.
Die Ärzte gehen
jede Woche in ein arabisches Dorf und geben allen, die es brauchen
umsonst medizinische Hilfe. Selbst die israelischen Behörden
akzeptieren dies und willigen oft auf ihr Verlangen ein, kranken
Leuten aus den besetzten Gebieten zu erlauben, nach Israel zur
Behandlung in ein Krankenhaus zu kommen.
Als wir letzte
Woche Ruchamas 80. Geburtstag feierten, wandte sie sich an mich und
warf mit vor mich, falsche Hoffnungen über die Chance zu wecken,
dass das heutige Israel jemals Frieden machen und sich von den
palästinensischen Gebieten zurückziehen wird. Nach ihr sei diese
Chance vorbei. Was übrig geblieben sei, sei die Pflicht, BDS zu
unterstützen.
BDS ist eine
weltweite Bewegung, die den totalen Boykott von allem Israelischen
propagiert. Sie wünscht, dass Korporationen, besonders Universitäten
sich davon überzeugen, sich von israelischen Investitionen zu
trennen und alle Arten von Sanktionen gegen Israel zu unterstützen.
In Israel wird BDS
wie der Teufel gehasst, vielleicht sogar noch mehr. Man braucht in
Israel wirklich eine Menge Mut, um sie öffentlich zu unterstützen,
wie es ein paar Leute tun.
Ich versprach
Ruchama, auf ihren Vorwurf eine Antwort zu geben.
Zunächst habe ich
einen ernsten moralischen Einwand gegenüber jedem Argument, das
behauptet, wir könnten nichts tun, um unsern eigenen Staat zu retten
und dass wir unser Vertrauen ins Ausland setzen müssen, dass dies
unsern Job tut.
Israel ist unser
Staat. Wir sind für ihn verantwortlich. Er gehört den wenigen
Tausenden, die ihn auf dem Schlachtfeld verteidigten, als er
entstanden ist. Nun ist es unsere Pflicht, für ihn zu kämpfen, dass
er der Staat wird, von dem wir dachten, wie er sein soll.
Selbst von einem
moralischen Standpunkt aus akzeptiere ich den Glauben nicht, die
Schlacht sei verloren. Keine Schlacht ist verloren, solange es Leute
gibt, die zu kämpfen bereit sind.
Doch wenden wir uns
vom Moralischen zum Politischen.
ICH GLAUBE
an Frieden. Frieden bedeutet ein Abkommen zwischen zwei (oder mehr)
Seiten, um in Frieden zu leben. Israelisch-palästinensischer
Frieden bedeutet, dass der Staat Israel und die palästinensische
National-Bewegung mit einander einig werden.
Frieden zwischen
Israel und Palästina setzen voraus, dass der Staat Israel existiert
und zwar Seite an Seite mit dem Staat Palästina. Ich bin mir nicht
ganz sicher, ob dies das Ziel der BDS-Bewegung ist. Vieles, was sie
tut und sagt, könnte zu dem Schluss führen, dass sie einen Frieden
ohne Israel wünscht.
Ich bin davon
überzeugt, dass es die Pflicht der BDS ist, diesen Punkt absolut
klar zu machen. Frieden mit Israel oder Frieden ohne Israel?
Einige Leute sind
davon überzeugt, dass Frieden ohne den Staat Israel möglich und
wünschenswert ist. Viele von ihnen unterschreiben etwas, das die
„Ein-Staat-Lösung“ genannt wird. Dies bedeutet, dass die Israelis
und die Palästinenser als gleiche Bürger gemeinsam in einem Staat
leben.
Das ist ein netter
Traum, aber leider spricht die historische Erfahrung dagegen. Die
Sowjet Union, Jugoslawien, Tschechoslowakei, Indochina und andere
sind aus einander gebrochen; Belgien, Kanada und die UK und viele
andere sind in der ernsten Gefahr, aus einander zu brechen. Gerade
jetzt wird unter der Schirmherrschaft einer
Friedensnobelpreisträgerin in Burma ein Völkermord ausgeführt.
Wollen zwei
erbittert nationalistische Völker, die dasselbe Heimatland
beanspruchen und seit fast 150 Jahren mit einander Krieg geführt
haben, jetzt in einem gemeinsamen Staat friedlich zusammen leben?
Unwahrscheinlich. In solch einem Staat würde das Leben die Hölle
sein.
( Ein israelischer
Scherz. „Kann der Wolf und das Schaf zusammen leben? Kein Problem.
Man muss nur täglich ein neues Schaf liefern.)
LEUTE, DIE BDS
unterstützen, weisen gewöhnlich als Grundlage ihrer Strategie auf
die Erfahrung von Süd-Afrika hin.
Die Geschichte
verlief folgendermaßen: die schwarze Mehrheit Süd-Afrikas war von
der weißen Minderheit unterdrückt worden. Sie wandte sich an die
aufgeklärte (weiße) Welt, die einen weltweiten Boykott auf das
Land proklamierte. Letzten Endes gaben die Weißen nach. Zwei
wunderbare Menschen, Nelson Mandela und Frederick Willem de Klark
fielen sich in die Arme. Ende der Vorstellung.
Dies ist die
Geschichte nach Meinung der Weißen. Sie reflektiert den typisch
auf sich selbst konzentrierten weißen Egotismus. Schwarze Augen
sehen eine etwas andere Geschichte.
Die Schwarzen, die
die große Mehrheit in Süd-Afrika darstellte, begann eine Kampagne
mit Streiks und Gewalt. Auch Mandela war ein Terrorist. Die
weltweite Boykott-Bewegung half sicherlich, es war aber der Kampf
der Eingeborenen, der entscheidend war.
(Die israelischen
Führer sagten ihren weißen südafrikanischen Freunden, sie sollen
das Land teilen. Aber keine der beiden Seiten wollten das annehmen
Die Umstände hier
sind völlig anders. Israel braucht keine arabischen Arbeiter. Es
kommt ohne sie aus. Es importiert Arbeiter aus aller Welt. Der
Lebensstandard der Israelis ist mehr als 20mal höher als der der
Palästinenser in den besetzten Gebieten. Auf beiden Seiten besteht
ein starker Nationalismus. Wegen des Holocaust geniest die jüdische
Seite die große Sympathie der Welt. Antisemitismus ist nicht die
Mode und die israelische Propaganda klagt die BDS an,
antisemitisch zu sein.
In einem Augenblick
ungewöhnlicher Weisheit verordneten die Vereinten Nationen die
Teilung Palästinas. Tatsächlich gibt es keine bessere Lösung.
IM PRINZIP
bin ich nicht gegen den Boykott. Schon 1977 war die Gush
Shalom-Bewegung, zu der ich gehöre, tatsächlich die erste, die einen
Boykott der Siedlungen proklamierte. Wir verteilten viele Tausende
von Listen der Geschäfte, die dort wirkten. Eine Folge davon war,
dass eine ganze Anzahl davon nach Israel umsiedelte. Ich kann mir
leicht einen viel größeren Boykott aller Unternehmen vorstellen, die
die Siedlungen unterstützen.
Doch nach meiner
Einschätzung wäre ein Boykott Israels selbst ein Fehler. Er würde
alle Israelis in die Arme der Siedler treiben, während es unser Job
ist, die Siedler zu isolieren und sie von den normalen Israelis zu
trennen.
Ist dies möglich?
Ist dies noch immer möglich? Ich bin davon überzeugt.
DIE GEGENWÄRTIGE
Situation macht deutlich, dass wir Fehler gemacht haben. Wir müssen
anhalten und noch einmal direkt von vorne an denken.
Die von Ruchama
Marton gegründete Organisation ist nicht die einzige für Frieden
und Menschenrechte aktive Gruppe. Es gibt Dutzende von ihnen, von
phantastischen Männern und Frauen gegründete, die jede in einer von
ihr gewählten Nische wirken. Wir müssen einen Weg finden, um ihre
Stärken mit einander zu verbinden, ohne ihre Unabhängigkeit und ihre
besondere Art zu schädigen. Wir müssen einen Weg finden, um die
politischen Parteien der Linken (Die Labor-Partei, Meretz und die
Arabische vereinigte Liste), die sich in einem Koma befinden, sie
ins Leben zurückzubringen oder oder eine neue Partei zu gründen.
Ich respektiere BDS
und alle ihre Aktivisten, die ernsthaft darum kämpfen, die
Palästinenser zu befreien und zwischen ihnen und uns Frieden zu
machen. Die Anstrengungen, die jetzt in den USA gemacht werden, um
ein Gesetz zu verabschieden, das ihre Aktivität verbietet, erscheint
mir lächerlich und anti-demokratisch.
Lassen wir sie dort
ihre Arbeit tun. Unser Job ist hier, unsere Anstrengung neu zu
gruppieren, neu zu organisieren und zu verdoppeln, um unsere
gegenwärtige Regierung und ihre Verbündeten zu stürzen und die
Friedenskräfte an die Macht zu bringen.
Ich bin der
Überzeugung, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis den Frieden
wünschen würde, wenn sie dächten, Frieden sei möglich. Sie sind
zerrissen zwischen einer energischen rechten Minderheit mit einem
faschistischen Rand, der behauptet, Frieden sei unmöglich und
unerwünscht, und einer schwachen, sanften linken Minderheit.
Dies ist keine
hoffnungslose Situation. Der Kämpf ist längst nicht vorbei. Wir
müssen unsern Job innerhalb Israels tun und die ausländischen
Kräfte ihren Job dort tun lassen.
Es gibt keinen
Grund, zu verzweifeln, außer an der Verzweiflung selbst.
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert.)