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Abu Mazens Glücksspiel
Uri Avnery, 24.September 2011
EINE WUNDERBARE REDE. Eine schöne Rede.
Die Sprache geschliffen und elegant. Die
Argumente klar und überzeugend. Der Vortrag tadellos.
Ein Kunstwerk. Die Kunst der Heuchelei.
Fast jedes Statement in der Passage, in der die
israelisch-palästinensischen Probleme angesprochen wurden, war eine
Lüge. Eine offensichtliche Lüge, weil der Redner wusste, dass es
eine Lüge war – und auch die Zuhörer wussten dies.
Es war Obama in seine besten Form. Obama
in seiner schlechtesten Form.
Als moralische Person müsste er den Drang
empfunden haben, sich zu übergeben. Als pragmatische Person wusste
er, dass er es tun musste, wenn er wieder gewählt werden wollte.
Im Wesentlichen verkaufte er die
fundamentalen nationalen Interessen der USA für die Chance einer
zweiten Amtsdauer.
Gar nicht schön – aber das ist Politik,
OK?
ES MAG überflüssig sein – für den Leser
beinahe beleidigend – auf die verlogene Natur dieses rhetorischen
Gefüges hinzuweisen.
Obama behandelt die beiden Seiten, als
wären sie gleich an Stärke und Macht – die Israelis und die
Palästinenser, die Palästinenser und die Israelis.
Aber von den beiden sind es die Israelis
– und nur sie – die leiden und gelitten haben. Verfolgung. Exil.
Holocaust. Ein israelisches Kind von Raketen bedroht. Umgeben vom
Hass der arabischen Kinder. Traurig.
Keine Besatzung. Keine Siedlungen. Keine
Grenzen vom Juni 1967. Keine Nakba. Keine getöteten oder
angsterfüllten palästinensischen Kinder. Es ist die gerade
israelische Propagandalinie des rechten Flügels, sauber und einfach
– die Terminologie, das historische Bild, die Argumentation. Die
Musik.
Die Palästinenser sollten natürlich einen
eigenen Staat haben. Ganz sicher. Aber sie dürfen nicht penetrant
sein. Sie dürfen die USA nicht in Verlegenheit bringen. Sie dürfen
nicht zur UN kommen. Sie müssen sich mit den Israelis zusammensetzen
– wie vernünftige Leute – und ihr Problem mit ihnen ausarbeiten. Das
vernünftige Schaf muss sich mit dem vernünftigen Wolf zusammensetzen
und entscheiden, was sie zum Mittagessen haben werden. Fremde sollen
sich da nicht einmischen.
Obama machte vollen Dienst. Eine Frau,
die solche Art Dienst liefert, wird gewöhnlich im voraus bezahlt.
Obama wurde direkt danach bezahlt, innerhalb einer Stunde. Netanjahu
setzte sich mit ihm vor den Kameras zusammen und gab ihm genügend
brauchbare zitierbare Liebeserklärungen und der Dankbarkeit, die für
mehrere Wahlkampagnen reichen.
DER TRAGISCHE Held dieser Affäre ist
Mahmoud Abbas. Ein tragischer Held, aber dennoch ein Held.
Viele Leute mögen von diesem plötzlichen
Auftauchen Abbas’ als waghalsigem Spieler mit hohem Einsatz
überrascht sein, der es wagt der mächtigen USA gegenüber zu treten.
Wenn Ariel Sharon einen Moment lang aus
seinem jahrelangen Koma aufwachen würde, würde er vor Verwunderung
schwach werden. Er war es, der Mahmoud Abbas ein „gerupftes
Hühnchen“ nannte.
Doch während der letzen paar Tage, war
Abbas das Zentrum globaler Aufmerksamkeit. Weltführer berieten mit
einander, wie man mit ihm umgehen solle, ranghohe Diplomaten waren
eifrig darum bemüht, ihn von diesem oder jenem Verhandlungskurs zu
überzeugen. Kommentatoren überlegten, was er wohl als Nächstes tun
würde. Seine Rede vor der UN-Vollversammlung wurde wie ein wichtiges
Ereignis erwartet.
Nicht schlecht für ein Hühnchen, selbst
für eines mit allen Federn.
Sein Auftauchen als ein Führer auf der
Weltbühne erinnert irgendwie an Anwar Sadat.
Als Gamal Abd-al-Nassar unerwartet im
Alter von 52 Jahren 1970 starb und sein offizieller Vertreter Sadat
seinen Mantel übernahm, haben alle politischen Experten mit den
Schultern gezuckt.
Sadat? Wer – zum Teufel – ist das? Er
wurde als unbedeutende Figur angesehen, eine ewige Nummer zwei,
eines der am wenigsten bedeutenden Mitglieder der Gruppe „freier
Offiziere“, die Ägypten regierte.
In Ägypten, einem Land
voller Witze und Witzbolde, gab es in Fülle geistreiche Bemerkungen
über ihn. Im einen ging es um den braunen Fleck auf seiner Stirn.
Die offizielle Version war, dass es die Folge vom vielen Beten sei,
da er mit der Stirn den Boden berühre. Aber der wahre Grund war – so
wurde erzählt – dass bei den Konferenzen, nachdem jeder andere
gesprochen hatte, Sadat aufstand und etwas zu sagen versuchte. Da
tippte Nasser gutmütig mit seinem Finger auf seine Stirn und
drückte ihn sanft nach unten und sagte: „Setz dich Anwar!“
Zur äußersten Verwunderung der Experten –
und besonders der israelischen – ging dieses Nichts ein sehr großes
Risiko ein, als er 1973 den Oktoberkrieg begann und weiter ging, um
etwas in der Geschichte Einmaliges zu tun: er ging in die Hauptstadt
eines feindlichen Landes, während noch Krieg herrschte, und machte
Frieden.
Abbas’ Status unter Yasser Arafat war dem
von Sadats Status unter Nasser ähnlich. Doch Arafat hat nie einen
Vertreter bestimmt. Abbas gehörte zu einer Gruppe von vier oder fünf
möglichen Nachfolgern. Der Erbe würde sicher Abu-Jihad gewesen sein,
wäre er nicht vorher von einem israelischen Kommando vor seiner Frau
und den Kindern getötet worden. Ein anderer wahrscheinlicher
Kandidat, Abu-Ijad, wurde von palästinensischen Terroristen getötet.
Abu-Mazen (Abbas) war dann eine Art 2. Wahl.
Solche Politiker, die so plötzlich aus
dem Schatten eines großen Führers treten, gehören im allgemeinen in
zwei Kategorien: die ewig frustrierte Nummer zwei und der
überraschende neue Führer.
Die Bibel gibt uns
Beispiele beider Arten. Der erste war Rehabeam, der Sohn und Erbe
des großen Salomo, der seinem Volk sagte: „Mein Vater strafte euch
mit der Peitsche, ich will euch mit Skorpionen strafen.“ Die andere
Art wurde von Josua, dem Nachfolger von Moses dargestellt. er war
kein zweiter Moses, aber ein großer Eroberer.
Die moderne Geschichte erzählt die
traurige Story von Anthony Eden, die lang leidende Nummer zwei von
Winston Churchill, die wenig Respekt abnötigte. (Mussolini nannte
ihn nach ihrem ersten Treffen einen „gut geschneiderten Idioten“).
Nachdem er an die Macht gekommen war, versuchte er verzweifelt,
Churchill gleich zu sein und führte Britannien 1956 bald in die
Suez-Katastrophe. Zur zweiten Kategorie gehörte Harry Truman, der
Nobody, der dem großen Franklin Delano Roosevelt folgte und
jeden als resoluten Führer überraschte.
Abbas sah so aus, als würde er zur ersten
Kategorie gehören. Jetzt plötzlich zeigt er sich, als ob er zur
zweiten gehöre. Die Welt behandelt ihn mit neuem Respekt. Fast am
Ende seiner Karriere nimmt er am großen Glücksspiel teil.
ABER WAR es weise? Mutig, ja . Wagemutig,
ja. Aber weise?
Meine Antwort ist: ja, es war weise.
Abbas hat die Sache der palästinensischen
Freiheit direkt auf den internationalen Tisch gelegt.
Länger als eine Woche ist Palästina im
Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit gestanden. Viele
internationale Staatsmänner und -frauen, einschließlich des Führers
der einzigen Supermacht der Welt, sind mit Palästina beschäftigt
gewesen.
Für eine nationale Bewegung ist dies von größter
Bedeutung. Zyniker mögen fragen: „Was haben sie davon gehabt? Doch
Zyniker sind Toren. Eine Befreiungsbewegung gewinnt allein durch die
Tatsache, dass die Welt aufmerksam wird, dass sich die Medien mit
dem Problem herumschlagen, die Menschen mit Gewissen in aller Welt
aufstehen. Es stärkt zu Hause die Moral und bringt den Kampf einen
Schritt näher am Ziel.
Unterdrückung scheut das Rampenlicht.
Besatzung, Siedlungen, ethnische Säuberungen gedeihen am besten im
Schatten. Es sind die Unterdrückten, die das Tageslicht brauchen.
Abbas’ Schritt lieferte es wenigstens für den Augenblick.
BARACK OBAMAs miserables Auftreten war
ein Nagel für den Sarg von Amerikas Status als Supermacht. Es war
ein Verbrechen gegen die USA.
Der arabische Frühling mag die letzte
Chance für die USA gewesen sein, ihre Position im Nahen Osten wieder
zu gewinnen. Nach einigem Zögern wurde dies Obama auch klar. Er rief
Mubarak dazu auf, zu gehen, half den Libyern gegen ihren Tyrannen,
machte einigen Lärm um Bashar al-Assad. Er weiß, dass er den Respekt
der arabischen Massen wieder gewinnen muss, wenn er sein Format in
der Region wieder finden will.
Nun hat er dies verraten, vielleicht für
immer. Kein sich selbst achtender Araber wird ihm vergeben, dass er
den hilflosen Palästinensern den Dolch in den Rücken stieß. Alle
Glaubwürdigkeit, die die USA in den letzten Monaten in der
arabischen und weiteren muslimischen Welt zu gewinnen versuchte, ist
mit einem Windzug weggeblasen worden.
All dies für die Wiederwahl.
ES WAR auch ein Verbrechen gegen Israel.
Israel benötigt Frieden. Israel muss
Seite an Seite mit dem palästinensischen Volk innerhalb der
arabischen Welt leben. Israel kann sich nicht auf Dauer auf die
bedingungslose Unterstützung der niedergehenden USA verlassen.
Obama weiß das sehr genau. Er weiß, was
für Israel gut ist, selbst wenn Netanjahu es nicht weiß. Doch hat er
dem betrunkenen Fahrer die Autoschlüssel ausgehändigt.
Der palästinensische Staat wird
entstehen. In dieser Woche war es schon klar, dass dies
unvermeidlich ist.. Obama wird vergessen werden wie auch Netanjahu,
Lieberman und der ganze Haufen.
Mahmoud Abbas – Abu Mazen, wie ihn die
Palästinenser nennen – wird in Erinnerung bleiben. Das „gerupfte
Hühnchen“, das plötzlich in den Himmel auffliegt.
(Aus dem Englischen
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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