Olmerts Wahrheit
Uri Avnery, 10.3.07
WENN GOTT will, kann sogar ein Besenstiel schießen. Das
ist ein altes jiddisches Sprichwort. Jetzt könnte man
Folgendes hinzufügen: Wenn Gott will, dann kann sogar
Olmert zuweilen die Wahrheit sagen.
Die vorgestern zu den Medien durchgesickerte Wahrheit
lautet nach der Zeugenaussage des Ministerpräsidenten
vor der von Richter Vinograd geleiteten
Untersuchungskommission, dass der Krieg keine spontane
Reaktion auf die Gefangennahme der Soldaten war, sondern
ein seit langem geplanter Krieg. Wir haben dies von
Anfang an gesagt.
Olmert sagte zur Kommission, dass er unmittelbar
nachdem er im Januar 2006 die Funktionen des
amtierenden Ministerpräsidenten übernommen hatte, die
Armeechefs über die Situation an der Nordgrenze
konsultiert habe. Bis dahin galt die herrschende Doktrin
Ariel Sharons - logisch aus dessen Perspektive – nicht
mit Gewalt auf Provokationen des Nordens zu reagieren,
damit sich die israelische Armee auf den Kampf mit den
Palästinensern konzentrieren könne. Aber dies
ermöglichte es der Hisbollah, einen großen Vorrat an
Raketen aller Art anzulegen. Olmert wollte diese Politik
ändern.
Die Armee bereitete einen zweiteiligen Plan vor: eine
Bodenoffensive, deren Ziel es sein sollte, die Hisbollah
zu vernichten, und eine Luftoffensive, die darauf
abzielte, die libanesische Infrastruktur zu zerstören,
um Druck auf die libanesische Öffentlichkeit auszuüben,
die dann wiederum Druck auf die Hisbollah ausüben
sollte. Der Generalstabschef Dan Halutz sagte zu Beginn
des Krieges: „Wir werden die Uhr des Libanon um 20 Jahre
zurückdrehen“ (ein ziemlich bescheidenes Ziel
verglichen mit dem berühmten Ausspruch eines
amerikanischen Kollegen: „Vietnam in die Steinzeit
zurückzubomben.“). Die Luftwaffe hatte auch den Auftrag
erhalten, das Raketenarsenal der Hisbollah zu zerstören.
Aber heute ist es nicht mehr angemessen, ein Land ohne
überzeugenden Grund anzugreifen. Schon vor dem ersten
Libanonkrieg verlangten die Amerikaner, dass Israel nur
nach einer klaren Provokation, die die
Weltöffentlichkeit überzeugen würde, angreifen solle.
Die notwendige Rechtfertigung lieferte Abu Nidals
Bande: sie hatte den israelischen Botschafter in London
zu ermorden versucht. Beim jetzigen Fall wurde im
voraus festgelegt, dass die Gefangennahme israelischer
Soldaten solch eine Provokation darstellen würde.
Ein Zyniker könnte behaupten, dass diese Entscheidung
israelische Soldaten zu Ködern gemacht habe. Es war
bekannt, dass die Hisbollah bemüht war, Soldaten
gefangen zu nehmen, um einen Gefangenenaustausch zu
erzwingen. Die regelmäßigen israelischen
Armeepatrouillen entlang des Grenzzauns waren in
gewisser Weise eine ständige Einladung an die Hisbollah,
diese üble Absicht auszuführen.
DIE GEFANGENNAHME des Soldaten Gilad Shalit durch
Palästinenser nahe am Gaza-Grenzzaun ließ in Israel ein
rotes Licht aufleuchten. Olmert sagte bei seiner
Zeugenaussage, von diesem Augenblick an sei er davon
überzeugt gewesen, dass die Hisbollah dabei sei, etwas
Ähnliches zu tun.
Wenn dem so war, hätte der Ministerpräsident der Armee
vielleicht den Befehl geben sollen, die Patrouillengänge
an der Nordgrenze auszusetzen oder sie so verstärken zu
lassen, dass die Hisbollah abgeschreckt werde. Das wurde
nicht getan. Die armen Mitglieder der verhängnisvollen
Patrouille zogen aus, als ob sie zu einem Picknick
gingen.
Derselbe Zyniker könnte behaupten, dass Olmert und die
Armeechefs an einem Vorwand interessiert waren, um ihre
Kriegspläne in die Tat umzusetzen. Sie waren sowieso
davon überzeugt, die Soldaten würden auf schnellstem
Wege nach Hause gebracht werden. Aber wie das Motto der
britischen Krone lautet: „Honi soit - qui mal y pense –
Schmach über den, der Arges dabei denkt“.
Auf jeden Fall griff die Hisbollah an, nahm zwei
Soldaten gefangen – und die geplante Operation hätte
zügig anrollen können. Aber genau das geschah nicht. Der
Krieg brach zwar wie geplant aus, aber ab diesem
Zeitpunkt lief alles anders als nach Plan. Die
Konsultationen waren hastig, die Entscheidungen
konfus, die Operationen unentschlossen. Es scheint
jetzt, dass der Plan nicht zu Ende ausgearbeitet und
bestätigt worden war.
Die Vinograd-Kommission wird wahrscheinlich Antworten
auf ein paar unangenehme Fragen finden müssen. Wenn der
Krieg solange im voraus geplant war, warum war die Armee
für den Krieg nicht vorbereitet? Wie kommt es, dass das
Armeebudget gekürzt worden war? Warum waren die
Notvorratsarsenale leer? Warum wurden die
Reservetruppen, die die Bodenoperationen ausführen
sollten, erst einberufen, als der Krieg schon auf
vollen Touren lief? Und warum erhielten sie so konfuse
und sich widersprechende Befehle, als sie endlich
eingesetzt wurden ? All dies zeigt, dass Olmert und die
Generäle äußerst inkompetent waren. Es fehlte ihnen auch
jedes Verständnis für das Geschehen auf internationalem
Parkett.
HASSAN NASRALLAH hat offen zugegeben, dass er einen
Fehler begangen hat..
Er hatte nicht mit bekommen, dass es in Israel einen
Wechsel gegeben hatte: anstelle von Sharon, einem alten
Haudegen, dem es nicht um Aktionen im Norden ging, war
ein anderer Mann ans Ruder gekommen, ein unerfahrener,
kriegslüsterner Politiker. Was Nasrallah im Kopf hatte,
war einfach eine weitere Runde des üblichen „Spiels“:
die Gefangennahme einiger Soldaten und darauf folgend
ein Gefangenenaustausch. Stattdessen brach ein voll
„ausgewachsener“ Krieg aus.
Aber Olmerts Fehler war sogar noch größer. Er war davon
überzeugt, dass die USA ihm ihren Segen auf den Weg
mitgeben und ihm erlauben würden, im Libanon nach Lust
und Laune zu agieren. Aber auch Amerikas Interessen
hatten sich verändert.
Im Libanon war es der Fuad Siniora-Regierung gelungen,
alle pro-amerikanischen Kräfte zu bündeln. Sie hatten
loyal alle Befehle Washingtons ausgeführt, die Syrer
vertrieben und die Untersuchung des Mordes an Rafiq
Hariri unterstützt, der den Amerikanern den Vorwand
für einen massiven Schlag gegen Syrien liefern solle.
Nach den Informationen, die Olmert hatte durchsickern
lassen, habe Condoleezza Rice ihn direkt nach
Kriegsbeginn angerufen und ihm die aktuellste
amerikanische Order übermittelt: tatsächlich war
erwünscht, dass Israel einen tödlichen Schlag gegen die
Hisbollah, die Feinde Sinioras, ausführen solle, dass
ihm aber absolut verboten sei, irgend etwas zu tun, das
Siniora schaden könnte - wie zum Beispiel die
Bombardierung der Infrastruktur außerhalb der
Hisbollah-Region.
Das verwässerte den Plan des Generalstabs. Sein
Leitgedanke war: wenn die zivile Zivilbevölkerung des
Libanon genügend geschädigt wird, dann wird sie Druck
auf die Regierung ausüben, damit diese entschlossen
gegen die Hisbollah vorgeht, und zwar so entschlossen,
dass die Organisation ausgelöscht oder wenigstens
entwaffnet wird. Es ist zweifelhaft, ob diese Strategie
zum Ziel geführt hätte, wenn sie ausgeführt worden wäre,
aber wegen der Intervention der Amerikaner wurde sie
nicht durchgeführt.
Anstelle des massiven Bombardements, das die
grundlegenden Industriestandorte und sonstige Anlagen
zerstört hätte, musste sich Halutz damit begnügen, die
Straßen und Brücken zu bombardieren, die der Hisbollah
und der schiitischen Bevölkerung dienten
(einschließlich der Nachschubwege für syrische Waffen
ins Hisbollah-Land). Der Schaden war ungeheuerlich,
zwang den Libanon aber nicht auf die Knie, falls so
etwas überhaupt möglich ist. Abgesehen davon, gelang es
der Luftwaffe zwar einen Teil der Langstreckenraketen zu
zerstören, aber nicht die Kurzstreckenraketen. Sie waren
es, die das Chaos unter der Bevölkerung im nördlichen
Israel verursachten.
Die Bodenoperation war eine noch größere Katastrophe.
Erst während der letzten 48 Stunden des Krieges – als es
schon klar war, dass die Feuerpause in Kraft treten
würde, wurde eine größere Offensive gestartet, die 33
israelischen Soldaten das Leben kostete. Wozu? Bei
seiner Zeugenaussage erklärte Olmert, dass sie nötig
gewesen sei, um einige Punkte der UN-Resolution zu
Gunsten Israels zu ändern. Wir wissen heute – wie wir es
von Anfang an gesagt haben – dass diese Veränderungen
wertlos waren und sie nur auf dem Papier stehen.
DIE INTERVENTION seitens Condoleezza Rice während des
Krieges ist auch noch aus einem anderen Grund
interessant. Sie wirft Licht auf eine Frage, mit der
sich Experten vor einiger Zeit befassten: es handelt
sich um die Beziehungen zwischen den USA und Israel:
Haben die US-Interessen den Vorrang oder umgekehrt?
Diese Diskussion hatte sich zugespitzt, als zwei
amerikanische Professoren, Stephen Walt und John
Mearsheimer, ihre Untersuchung veröffentlichten, nach
der Israel den USA eine Politik aufzwinge, die im
Gegensatz zu den nationalen amerikanischen Interessen
stehe. Die Schlussfolgerung regte viele auf, die
glaubten, dass das Gegenteil der Fall sei, nämlich dass
Israel nur ein kleines Rädchen im Getriebe des
amerikanischen Weltreiches sei. ( Ich erlaubte mir zu
behaupten, dass beide Versionen richtig seien: der
amerikanische Hund wackelt mit dem israelischen Schwanz
– und der israelische Schwanz wackelt mit dem
amerikanischen Hund.)
Als Condoleeza Rice Israel zu einem Feldzug ermutigte,
zugleich aber gegen einen wichtigen Teil des
Kriegsplanes ihr Veto einlegte, hatte es den Anschein,
als widerlege sie damit die Thesen der beiden
Professoren. Olmert erhielt zwar die amerikanische
Genehmigung für diesen Krieg, der amerikanischen
Interessen diente (die Zerstörung der Hisbollah, die
gegen die pro-amerikanische Siniora-Regierung ist,
obwohl sie dieser offiziell angehört), aber dies nur mit
wichtigen Einschränkungen (um die Siniora-Regierung
nicht zu schädigen).
DASSELBE Prinzip gilt nun für die syrische Front.
Bashar al-Assad bietet Israel Friedensverhandlungen ohne
Vorbedingungen an. Auf diese Weise hofft er, einen
amerikanischen Angriff auf sein Land abzuwenden. Wie die
beiden Professoren glaubt er, dass die israelische Lobby
Washington beherrscht.
Fast alle bedeutenden Experten in Israel stimmen darin
überein, dass das syrische Angebot ernst gemeint ist.
Selbst in „Sicherheitskreisen“ bedrängen einige Olmert,
die günstige Gelegenheit zu ergreifen, um im Norden
Frieden zu machen.
Aber die Amerikaner haben sich absolut dagegen
ausgesprochen - und Olmert hat nachgegeben. Vitale
israelische Interessen sind auf dem amerikanischen Altar
geopfert worden. Selbst jetzt, wo Bush schon in eine
Art Dialog mit Syrien eingetreten ist, verbieten uns die
Amerikaner, dasselbe zu tun.
Warum? Sehr einfach. Die Amerikaner instrumentalisieren
uns als Drohung gegen Damaskus. Sie halten uns an der
Leine wie einen Kampfhund und sagen Assad: wenn du
nicht das tust, was wir wünschen, lassen wir den Hund
von der Leine.
Falls die Amerikaner mit den Syrern ein Abkommen
erreichen, während sie u.a. diese Drohung anwenden, sind
sie es, die den politischen Bonus von jeder
Übereinkunft, die wir mit den Syrern am Ende erreichen,
einstreichen.
Das erinnert mich an die Ereignisse von 1973. Nach dem
Oktoberkrieg begannen die Verhandlungen beim
Kilometerstand 101 ( 101 km von Kairo entfernt ). In
einem bestimmten Stadium übernahm General Israel Tal die
Leitung der israelischen Delegation. Viel später
erzählte er mir folgende Geschichte:
„Eines Tages kam General Gamassy, der ägyptische
Vertreter, auf mich zu und sagte mir, dass Ägypten jetzt
bereit sei, ein Abkommen mit uns zu unterzeichnen.
Voller Freude nahm ich ein Flugzeug und eilte zu
(Ministerpräsidentin) Golda Meir, um ihr die gute
Nachricht zu übermitteln. Aber Golda sagte zu mir:
„Alles sofort stoppen! Ich habe Henry Kissinger
versprochen, dass wir, sobald wir ein Abkommen
erreichen, diese ganze Sache ihm überlassen – er wolle
die Sache dann abschließen.“
Und genau das geschah natürlich. Die Verhandlungen bei
Kilometer 101 wurden gestoppt. Kissinger übernahm die
Kontrolle des Geschehens. Er war es dann, der das
Abkommen erreichte, und die USA nahmen die Lorbeeren
für sich in Anspruch. Die Ägypter wurden loyale
Anhänger der USA. Das israelisch-ägyptische Abkommen
wurde um fünf Jahre verschoben. Mit Anwar Sadat wurde
es erreicht, der seinen historischen Flug nach Jerusalem
hinter dem Rücken der Amerikaner plante.
Nun kann dasselbe an der syrischen Front geschehen. Im
besten Fall. Im schlimmsten Fall erreichen die
Amerikaner kein Abkommen mit den Syrern, hindern uns
aber daran, ein Abkommen um unsretwillen abzuschließen –
und Tausende von Israelis, Syrern und Libanesen werden
im nächsten Krieg den Preis bezahlen.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert
) |