Der palästinensische Romeo
Gedanken zum Film „Arnas Kinder“
Uri
Avnery, 13.3.04
Arna Mer war
eine temperamentvolle, aufregende Frau. Sie war die Tochter
eines (israelischen) Mediziners, der schon zu Lebzeiten eine
Legende war. Als junge Frau schloss sie sich den Palmachkämpfern
im Untergrund an, und seitdem wurde die von ihnen geschätzte
Keffiye * ihr persönliches Markenzeichen, das sie immer um den
Hals trug.
Nach dem Krieg
von 1948 schloss sie sich der damals in Israel am meisten
gehassten Gruppe – der kommunistischen Partei - an und heiratete
einen arabischen Parteifunktionär. Ihre beiden bekannten Söhne
Juliano und Spartak tragen die Namen von Revolutionären.
Zu Beginn der
1.Intifada adoptierte Arna das Jeniner Flüchtlingslager, ein
Meer von Elend und Armut, und schuf eine Insel des Lichtes: ein
Kindertheater. Mit Hilfe von Juliano, einem strebsamen
Schauspieler, scharte sie eine Gruppe von 9/10 jährigen Jungen
und Mädchen um sich und gab improvisierte Vorstellungen mit den
primitivsten Mitteln. Da sie fließend arabisch sprach und sich
vollständig mit dem Leiden der Palästinenser identifizierte,
ermunterte sie die Kinder, ihren Zorn, ihren Stolz und ihre
Opposition gegen die Besatzung auszudrücken. Für diese
hingebungsvolle Arbeit ( in ihrem Projekt „Care and Learning“)
wurde sie 1993 in Stockholm mit dem Alternativen Nobelpreis
ausgezeichnet. Am Vorabend ihres Todes besuchte sie - obwohl
schon sehr schwach und gebrechlich - noch einmal das Lager und
verabschiedete sich. **
Solch eine
Persönlichkeit hätte allein schon einen abendlangen Film füllen
können. Aber im Film „Arnas Kinder“, bei dem Juliano die Regie
führte, treten die Kinderstars Seite an Seite mit der „Mutter“
auf und machten so den Film zu einem einzigartigen Dokument –
ein unentbehrlicher Film für den, der die Intifada verstehen
will.
Vor einem Jahr
erhob sich in Israel nach Muhammad Bakris Film „Jenin, Jenin“
ein Sturm. Er erreichte sogar den Obersten Gerichthof (der die
Entscheidung, dass der Film nicht mehr gezeigt werden dürfe,
rückgängig machte). Beide Filme spielen sich mehr oder weniger
auf demselben Grund und Boden ab: die Jenin-Ereignisse vom April
2002, als die israelische Armee die Westbankstadt überfiel und
das Flüchtlingslager ein Teil der „Operation Schutzschild“
wurde. Beide zeigen eine tiefe Empathie für die palästinensische
Seite. Aber zwischen beiden gibt es einen großen Unterschied. In
Muhammad Bakris Film werden die Menschen von Jenin als Opfer
eines Massakers gezeigt. In Juliano Mers Version erscheinen sie
als Helden, die es mit der gewaltigen Macht der israelischen
Armee aufnehmen. Die palästinensischen Kämpfer im Film
bestreiten empört die Behauptung, dass es da ein Massaker
gegeben habe, eine Behauptung, die sie als demütigend und
beleidigend betrachten. Ihre Haltung erinnert einen irgendwie an
die Überlebenden des Aufstandes im Warschauer Ghetto.
Was diesen Film
zu einer unvergesslichen Erfahrung macht, ist die doppelte
Rolle seiner Helden. Juliano filmte sie zunächst, als sie Kinder
waren, Mitglieder von Arnas Theatergruppe. Es sind bezaubernde
Jungen und Mädchen, lebenslustig und voller Humor. Wir sehen sie
auf allen Vieren, bellend und einander angreifend in der Haltung
eines „Hundes“. Wir sehen Ashraf, den eindrucksvollsten Jungen,
der davon träumt, einmal der „palästinensische Romeo“ zu
werden. Wir hören diese Kinder, die unter unmenschlichen
Bedingungen leben, wie sie von einem Leben von Glück und Glanz
träumen.
Im Laufe des
Films begegnen wir ihnen noch einmal – diesmal sind es junge
Männer. Der lächelnde, faszinierende Ashraf, der
palästinensische Romeo, jagte sich bei einem Selbstmordattentat
in die Luft. Wie in solch einem Fall üblich, wurde kurz vor der
Aktion mit ihm eine Videoaufnahme gefilmt: ein bärtiger junger
Mann, ernst und entschlossen, erklärt, dass der Tod besser als
das Leben in der Hölle eines Flüchtlingslagers unter Besatzung
sei. Andere fielen – „fielen“, sie wurden nicht massakriert – in
der Schlacht von Jenin.
Die
Palästinenser haben Juliano gegenüber vollstes Vertrauen, obwohl
er ein „Yahudi“ ist
(tatsächlich ja
nur ein halber Jude, aber in ihren Augen ist er eben Jude). So
wurde ihm die Gelegenheit gegeben, die keinem anderen Israeli
zu teil wurde: ihm wurde erlaubt, sie bei Tag und bei Nacht zu
begleiten und zu photographieren und zwar bis zum Ende. So
wurde ein wirklich einzigartiges Dokument geschaffen. Es zeigt,
wie jene Männer, die in IDF-Pressemitteilungen als „bewaffnete
Männer“ beschrieben und als „Söhne des Todes“ ( d.h. um getötet
zu werden) definiert werden, leben und sterben.
Wir sehen, wie
sie sich, mit leichten Waffen ausgerüstet, in kleinen Gruppen
bewegen oder in ihren Kleidern schlafen, um jeden Augenblick zu
einer Aktion aufspringen zu können. Sie sitzen zusammen, rauchen
eine Zigarette nach der anderen, scherzen manchmal mit einander,
so wie es Kämpfer vor der Schlacht tun. Ein Geist der
Kameradschaft ist um sie. Es sind alles junge Menschen voller
Leben, die wissen, dass ihre Tage gezählt sind. Keiner von ihnen
ist ein religiöser Fanatiker.
Als
Beobachtungsposten sie mit dem Handy alarmieren, dass eine
israelische gepanzerte Einheit sich nähert, gehen sie nach
draußen und greifen sie an, Kalaschnikows und Pistolen gegen
schwere Panzer. Aber - so sagen sie selbst – sie werden sich
nicht ergeben, sie werden bis zuletzt kämpfen. ( im Sinne des
Samson in der Bibel: „Ich will mit den Philistern sterben“
(Richter 16,30)
Dies ist die
andere Seite der Meldung des routinierten Armeesprechers: „ Im
Verlauf einer Suchaktion nach gewünschten Terroristen betrat die
IDF das Flüchtlingslager ...während des folgenden Feuergefechtes
wurden fünf Palästinenser getötet .. auf unserer Seite gab es
keine Verluste...“
Es ist kein
Geheimnis, dass die Armee kürzlich angefangen hat,
Panzerkolonnen in die palästinensischen Städte zu schicken,
nicht um „gewünschte Terroristen zu verhaften“ auch nicht, um
„tickende Bomben zu entschärfen“, sondern um diese bewaffneten
Kämpfer aus ihren Verstecken zu locken und sie zum Angreifen der
Panzer zu verleiten – eine Aktion, die dem Selbstmord
gleichkommt.
Am Ende
erschienen fast alle Kinder von Arna – noch einmal Seite an
Seite – auf den Mauern auf den üblichen Postern zur Verewigung
der Märtyrer. Die Kinder, die zu Beginn des Filmes so fröhlich
und voller Possen waren, waren ernst und bedrohend geworden.
In den Augen der
meisten Israeli sind sie einfach Terroristen, Mörder und
Verbrecher, deren einziges Lebensziel es ist, „jüdisches Blut zu
vergießen“. Sie sehen nicht die Menschen dahinter und fragen
nicht, woher sie kamen und was sie veranlasste, das zu tun, was
sie tun. Deshalb verstehen sie auch nicht die Quelle ihrer
Stärke und Ausdauer.
In den Augen der
Palästinenser sind sie Nationalhelden, tapfere junge Menschen,
die bereit sind, ihr Leben für die Würde und die Zukunft ihres
Volkes zu geben.
Sie denken über
sie etwa so, wie wir über unsere Untergrundkämpfer dachten,
bevor Israel geschaffen wurde.
Ashraf, der
„palästinensische Romeo“, starb zusammen mit seinen Freunden
wie Romeo in Shakespeares Tragödie. Als wir den Film sahen, war
uns klar, dass für jeden einzelnen von ihnen inzwischen Dutzend
andere ihren Platz einnehmen.
Als wir nach der
Filmvorstellung den Saal verließen, ging mir eine Frage durch
den Kopf: werden am Ende, wenn die Palästinenser ihre
Unabhängigkeit erhalten werden, und diese Kämpfer ein Teil des
Nationalmythos geworden sind, diese in den dunkelsten Zeiten
gewachsenen Beziehungen zwischen diesen Kindern und Arna - und
ihr ähnlichen Leuten - eine Basis für Versöhnung schaffen?
Es ist immer
schwierig, die andere Seite einer Münze zu sehen – noch dazu
mitten im Kampf, wenn Leid, Zorn und Hass vorherrschen. Dieser
Film gibt uns eine seltene Gelegenheit, ein vollständigeres und
realistischeres Bild zu erhalten. Es ist ein sehr bewegender
Film, ein Film, der unsere Augen öffnet und erklärt, warum die
israelische Armee die Intifada nicht bezwingen kann – obwohl sie
„jeden Tag gewinnt“, wie der Kommandeur des Gazastreifens in
dieser Woche mit blindem Stolz verkündete.
* Keffiye :
das schwarz-weiße Palästinensertuch, die ursprüngliche, normale
Kopfbedeckung der arabischen Männer Palästinas
** ich
durfte die schwer krebskranke Arna Mer wenige Wochen vor ihrem
Tode (1994) in Haifa besuchen – obwohl sehr geschwächt, hatte
sie noch die Energie, gegen die Besatzungspolitik zu wettern.(ER)
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |