Syrien
durch das Zielrohr oder Ein
niedlicher, kleiner Krieg
Uri Avnery, 29.7.06
ES IST DIE alte Geschichte vom Glücksspieler, der
verliert: er hört mit dem Spielen nicht auf. Er macht
weiter, um das zu gewinnen, was er verloren hat. Er
verliert weiter und spielt weiter, bis er alles verloren
hat: seinen Hof, seine Frau und sein Hemd.
Das geschieht auch beim größten Glücksspiel: dem Krieg.
Die Heerführer, die einen Krieg beginnen und im Sumpf
stecken bleiben, sind gezwungen, immer tiefer in den
Sumpf zu geraten. Das ist ein Teil der eigentlichen
Essenz des Krieges: es ist unmöglich, nach einem
Fehlschlag aufzuhören. Die öffentliche Meinung verlangt
den versprochenen Sieg. Inkompetente Generäle müssen
ihren Fehlschlag verdecken. Militärkommentatoren und
andere Schreibtischstrategen verlangen eine massive
Offensive. Zynische Politiker reiten oben auf der
Welle. Die Regierung wird von der Flutwelle
hinweggetragen, die sie selbst auslösten.
Das war es, was in der letzten Woche nach der Schlacht
von Bint-Jbeil geschehen ist.(Die Araber begannen schon
damit, es stolz Nasrallahgrad zu nennen.) In ganz
Israel wird der Schrei laut: Geht hinein! Schneller!
Weiter! Tiefer!
Einen Tag nach der blutigen Schlacht entschied sich das
Kabinett für eine massive Mobilisierung der Reservisten.
Wozu? Die Minister wissen es nicht. Aber das hängt nun
nicht mehr von ihnen ab, auch nicht von den Generälen.
Die politische und militärische Führung wird nun von den
Wellen des Krieges hin und her geschleudert wie ein
Boot ohne Steuer.
Wie schon gesagt wurde, ist es viel leichter, einen
Krieg zu beginnen, als ihn zu beenden. Das Kabinett ist
davon überzeugt, dass es den Krieg kontrolliert – in
Wirklichkeit kontrolliert der Krieg sie. Sie haben
einen Tiger bestiegen, und nun sind sie unsicher, ob sie
wieder herunter kommen können, ohne dass er sie in
Stücke reißt.
Der Krieg hat seine eigenen Regeln. Es passieren
unerwartete Dinge, die die nächsten Schritte diktieren.
Und die nächsten Schritte gehen immer in eine Richtung:
Eskalation.
DAN HALUZ, der Vater dieses Krieges, dachte, er könne
die Hisbollah mit Hilfe der Luftwaffe eliminieren, mit
der raffiniertesten, wirkungsvollsten und der
aller-allerbesten Luftwaffe der Welt. Ein paar Tage
massiver Schläge, Tausende Tonnen von Bomben auf die
Wohngebiete, Straßen, Kraftwerke und Häfen – und das
wär’ es dann gewesen.
Doch, wie es sich herausstellt, war es damit nicht
getan. Die Hisbollah-Raketen landeten weiter im Norden
Israels, Hunderte pro Tag. Die Öffentlichkeit schrie
auf. Man kam nicht um eine Bodenoffensive herum.
Zunächst drangen nur kleine Eliteeinheiten hinein. Das
half nichts. Dann wurden Brigaden eingesetzt – und nun
werden ganze Divisionen angefordert.
Zuerst wollten sie die Hisbollah-Stellungen entlang der
Grenze vernichten. Als man sah, dass dies nicht genügt,
entschied man sich, die Hügel, die die Grenze
beherrschen, zu erobern. Dort warteten die
Hisbollahkämpfer und brachten ihnen große Verluste bei.
Und die Raketen flogen weiter über die Grenze.
Nun sind die Generäle davon überzeugt, dass es keine
Alternative gibt, als das ganze Gebiet bis zum
Litani-Fluss zu besetzen; das sind etwa 24 km von der
Grenze entfernt, um zu verhindern, dass Raketen von dort
abgeschossen werden. Dann werden sie herausfinden, dass
sie den Awali-Fluss, 40 km weiter drinnen, erreichen
müssen - die berühmten 40 km, von denen Menachem Begin
1982 geredet hatte.
Und dann? Die israelische Armee wird sich über ein
weites Gebiet verteilen und überall wird sie
Guerilla-Attacken ausgesetzt sein, in der Art, die die
Hisbollah auszeichnet. Die Raketen werden weiter im
Norden Israels landen.
Was nun? Man kann nicht anhalten. Die öffentliche
Meinung wird entschiedenere Schritte fordern. Politische
Demagogen werden schreien. Die Kommentatoren werden
murren. Die Leute in den Luftschutzkellern werden
heulen. Die Generäle werden den Zorn zu spüren bekommen.
Man kann nicht Zehntausende von Reservesoldaten
unbegrenzt mobilisieren. Es ist unmöglich, eine
Situation auszudehnen, in der ein Drittel des Landes
gelähmt ist.
Alle verlangen, vorwärts zu stürmen. Doch wohin? Nach
Beirut in den Norden? Oder nach Damaskus in den Osten?
DIE KABINETTSMINISTER rufen einstimmig: „Nein, niemals!
Wir werden Syrien nicht angreifen!“
Vielleicht beabsichtigen einige tatsächlich, dies nicht
zu tun. Sie träumen nicht von einem Krieg mit Syrien.
Absolut nicht. Aber die Minister machen sich etwas vor,
wenn sie glauben, dass sie den Krieg kontrollieren. Der
Krieg kontrolliert sie.
Wenn es klar wird, dass nichts hilft, dass Hisbollah
weiter kämpft und Raketen weiterhin nach Israel fliegen,
wird die politische und militärische Führung dem
Bankrott gegenüberstehen. Sie werden dann jemandem die
Schuld geben müssen. Aber wem? Nun, natürlich Assad.
Wie ist es nur möglich, dass eine kleine
„Terrororganisation“, mit zusammen nur ein paar tausend
Kämpfern weiterkämpfen kann? Woher erhalten sie die
Waffen? Der Finger zeigt nach Syrien.
Die Armeekommandeure bestehen darauf, dass die ganze
Zeit neue Raketen von Syrien zur Hisbollah fließen. Die
Straßen sind zwar ruiniert, die Brücken zerstört – doch
die Waffen kommen weiter an. Die israelische Regierung
fordert, dass eine internationale Truppe nicht nur
entlang der israelisch-libanesischen Grenze entlang
stationiert wird, sondern auch an der
libanesisch-syrischen. Da wird es sicher keine lange
Schlange von wartenden Freiwilligen geben.
Dann werden die Generäle verlangen, dass die Straßen und
Brücken in Syrien bombardiert werden. Dafür muss aber
die syrische Luftwaffe neutralisiert werden, kurz
gesagt: ein wirklicher Krieg, der Auswirkungen auf den
ganzen Nahen Osten haben würde.
EHUD OLMERT und Amir Peretz dachten nicht darüber nach,
als sie vor 17 Tagen in Eile und leichtfertig ohne
ernsthafte Debatte, ohne Prüfung anderer Optionen, ohne
die Risiken zu kalkulieren, entschieden, die Hisbollah
anzugreifen. Für Politiker, die keine Ahnung haben, was
Krieg ist, war es eine unwiderstehliche Versuchung: es
war eine klare Provokation durch die Hisbollah, und
internationale Unterstützung war sicher. Was für eine
wunderbare Gelegenheit! Sie taten, was nicht einmal
Sharon zu tun gewagt hätte.
Dan Haluz machte ein Angebot, das nicht abgelehnt werden
konnte. Ein niedlicher, kleiner Krieg. Die militärischen
Pläne waren fertig und eingeübt. Der Sieg war sicher.
Um so mehr, als die andere Seite kein richtiger Feind
war, sondern nur eine „Terrororganisation“.
Wie sehr der Wunsch in den Herzen von Olmert und Peretz
brannte, wird dadurch bestätigt, dass sie nicht einmal
an den Mangel von Schutzräumen für die Bevölkerung im
Norden gedacht hatten, geschweige denn an die
weitreichenden wirtschaftlichen und sozialen
Konsequenzen. Hauptsache war, schnell die Siegeskränze
zu erwerben.
Sie hatten keine Zeit, ernsthaft über das Kriegsziel
nachzudenken. Nun ähneln sie Bogenschützen, die ihre
Pfeile auf eine leere Tafel schießen und danach die
Ringe um den Pfeil ziehen. Das Kriegsziel ändert sich
täglich: die Hisbollah zerstören, sie entwaffnen, sie
aus dem Südlibanon vertreiben und vielleicht sie nur
schwächen. Hassan Nasrallah töten. Die gefangenen
Soldaten nach Hause bringen. Die Souveränität der
libanesischen Regierung über den ganzen Libanon
ausdehnen. Noch einmal eine neu-alte Sicherheitszone
errichten, die von Israel besetzt ist. Die libanesische
Armee und /oder eine internationale Truppe entlang der
Grenze aufstellen. Die Abschreckung wiederherstellen.
Ins Bewusstsein der Hisbollah einätzen. (Unsere
Generäle lieben den Ausdruck: ins Bewusstsein einätzen.
Das ist ein wunderbares, sicheres Ziel, weil es nicht
gemessen werden kann.)
JE LÄNGER der niedliche, kleine Krieg dauert, um so
klarer wird es, dass diese sich ändernden Ziele nicht
realisierbar sind. Die herrschende Gruppe des Libanons
vertritt nur eine kleine reiche und korrupte Elite. Die
libanesische Armee kann und will die Hisbollah nicht
bekämpfen. Die neue „Sicherheitszone“ wird den
Guerillaangriffen ausgesetzt sein, und die
internationale Truppe wird nicht ohne Abkommen mit der
Hisbollah in dieses Gebiet hineinkommen. Und diese
Guerillatruppe, die Hisbollah, kann von der israelischen
Armee nicht vernichtet werden.
Das ist keine Schande. Unsere Armee ist in guter – oder
besser – in schlechter Gesellschaft. Der Begriff
„Guerilla“ ( „kleiner Krieg“) wurde in Spanien während
der Besatzung des Landes durch Napoleon geprägt.
Irreguläre Banden spanischer Kämpfer griffen die
Besatzer an und schlugen sie. Dasselbe geschah den
Russen in Afghanistan, den Franzosen in Algerien, den
Briten in Palästina und in einem Dutzend anderer
Kolonien, dann den Amerikanern in Vietnam und nun
passiert es ihnen im Irak. Selbst wenn man annimmt, dass
Dan Halutz und Udi Adam bessere Feldherren als Napoleon
und seine Marschälle sind, werden sie dort keinen
Erfolg haben, wo jene fehl schlugen.
Als Napoleon nicht wusste, was er als nächstes tun
könnte, fiel er in Russland ein. Wenn wir die Operation
nicht abbrechen, wird sie uns in einen Krieg mit Syrien
führen.
Condoleezza Rice’s sturer Kampf gegen den Versuch, den
Krieg zu beenden, zeigt, dass dies wirklich das Ziel der
USA ist. Vom ersten Tag von George Bush’s
Präsidentschaft an riefen die Neo-Cons dazu auf, Syrien
zu eliminieren. Je weiter Bush in den irakischen Morast
sinkt, um so mehr benötigt er Ablenkungsmanöver durch
andere Abenteuer.
Übrigens: Einen Tag vor Kriegsausbruch nahm unser
Minister für Infrastrukturen Binjamin Ben-Eliezer an
einer Einweihungsfeier der großen Pipeline teil, die Öl
aus den großen Ölfeldern am Kaspischen Meer zum
türkischen Hafen Ceyhan, nahe der syrischen Grenze,
bringt. Die Baku-Tiflis-Ceyhan -Pipeline meidet Russland
und läuft durch Aserbeidjan und Georgien, zwei Länder,
die, wie die Türkei eng mit Israel verbunden sind. Es
gibt einen Plan, einen Teil des Öls von dort entlang der
syrischen und libanesischen Küste nach Aschkelon zu
bringen, wo eine dort bestehende Pipeline das Öl nach
Eilat bringt, um in den Fernen Osten verschifft zu
werden. Israel und die Türkei sollen dieses Gebiet für
die USA sichern.
MUSS DIESES Hineinschliddern in einen Krieg mit Syrien
passieren? Oder gibt es eine Alternative?
Natürlich gibt es die. Den Krieg sofort beenden!
Als Präsident Lyndon Johnson spürte, dass er im Morast
von Vietnam versinken würde, fragte er seine Freunde um
Rat. Einer von ihnen antwortete mit sechs Worten:
„Erkläre den Sieg und hau ab!“
Das können wir auch tun. Wir sollten aufhören, in ein
Verlustgeschäft zu investieren, zufrieden sein mit dem,
was wir jetzt erreichen können: Z.B. ein Abkommen mit
der Hisbollah erreichen, sich ein paar Kilometer von der
Grenze zurückziehen, eine internationale Truppe und/
oder die libanesische Armee dort aufstellen, die
Gefangenen austauschen.
Olmert kann dann sagen, er habe einen großen Sieg
errungen, behaupten, wir hätten bekommen, was wir
wollten, hätten den Arabern eine Lektion erteilt und
wir hätten nicht die Absicht gehabt, mehr zu erlangen.
Nasrallah wird erklären, er habe einen großen Sieg
errungen und habe dem zionistischen Feind eine Lektion
erteilt, die er nicht vergessen werde, und Hisbollah
stark und bewaffnet am Leben bleiben, und er habe die
libanesischen Gefangenen zurückgebracht.
Das wird zwar nicht viel sein. Aber das ist es, was
getan werden kann, um die Verluste zu begrenzen, wie man
in der Geschäftswelt sagt.
Das könnte geschehen. Wenn Olmert schlau genug ist, sich
aus der Falle herauszuziehen, bevor sie ganz zufällt.
(Eine alte Volksweisheit sagt: eine schlaue Person ist
die, die weiß, wie sie aus einer Falle wieder
herauskommt – ein Kluger gerät gar nicht erst hinein).
Und wenn Condoleezza den Befehl von ihrem Boss bekommt,
dies zu gestatten.
AM 17. TAG des Krieges sollten wir erkennen, dass wir
bald vor einer klaren Entscheidung stehen: entweder in
einen Krieg mit Syrien zu schliddern – absichtlich oder
unabsichtlich – oder ein Abkommen im Norden erreichen,
das notwendigerweise die Hisbollah und Syrien mit
einschließt. Im Zentrum eines solchen Abkommens, werden
auch die Golanhöhen stehen.
Olmert und Peretz dachten in jenen berauschenden
Momenten des 12. Juli nicht an so etwas, als sie die
Gelegenheit ergriffen, und einen niedlichen, kleinen
Krieg begonnen haben. Aber – haben sie denn überhaupt
nachgedacht?
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert ) |