Das
große Wettspiel
Uri Avnery, 21.2.09
„IACTA
ALEA EST“ – der Würfel ist gefallen - sagte Julius Caesar und
überquerte den Fluss Rubicon, um Rom zu erobern. Dies war das Ende
der römischen Demokratie.
Wir haben keinen Julius Caesar. Aber wir haben einen Avigdor
Liberman. Als er neulich verkündete, dass er die Bildung einer von
Binyamin Netanyahu angeführten Regierung unterstützen werde, so war
dies die Überquerung seines Rubicon.
Ich hoffe, dass dies nicht der Anfang vom Ende der israelischen
Demokratie ist.
BIS ZUM letzten Augenblick hielt Liberman die israelische
Öffentlichkeit in Spannung. Wird er sich Netanyahu anschließen? Wird
er sich Zipi Livni anschließen?
Diejenigen, die an diesem Ratespiel teilnahmen, waren geteilter
Meinung über Liberman .
Einige von ihnen sagten: Liberman ist tatsächlich der, den er zu
sein vorgibt: ein extremer nationalistischer Rassist. Sein Ziel ist
es, Israel wirklich in einen jüdischen Staat zu verwandeln, der
„araberrein“ ist – wie man im Deutschen sagen würde. Für die
Demokratie hat er nur Verachtung übrig, was sein Land als auch seine
eigene Partei angeht, die aus Ja-Sagern und Ja-Sagerinnen besteht,
die keine eigene Persönlichkeit haben. Wie ähnliche Parteien in der
Vergangenheit, gründet sie sich auf (seinen) Personenkult, die
Anbetung brutaler Gewalt, Verachtung der Demokratie und des
Rechtsystems. In andern Ländern wird dies Faschismus genannt.
Andere sagen, das sei alles Fassade. Liberman sei kein israelischer
Führer, weil er nichts anderes als ein Gauner und Zyniker
sei. Die polizeilichen Untersuchungen gegen ihn und seinen
Geschäftsumgang mit Palästinensern offenbarten ihn als korrupten
Opportunisten. Er ist ein Freund von Zipi. Er pflegt ein
faschistisches Bild von sich selbst nur, um sich den Weg zur Macht
zu bahnen. Er wird all seine Slogans für ein Stück Regierung
verkaufen.
Der erste Liberman würde die Aufstellung einer extrem rechten
Regierung von Netanyahu unterstützen. Der zweite Liberman hingegen
müsste eine Livni-Regierung unterstützen. Eine ganze Woche lang
spielte er mit den Bällen. Jetzt hat er sich entschieden. Er ist
tatsächlich ein extrem nationaler Rassist. Die Amerikaner sagen:
wenn er watschelt wie eine Ente und schnattert wie eine Ente, dann
ist es ein Ente.
Um
den Schein zu wahren, sagte er dem Präsidenten, dass sein Vorschlag,
Netanyahu mit dem Aufstellen einer Regierung zu betrauen, nur für
eine breite Koalition gelte, die Likud, Kadima und seine eigene
Partei umfasse. Aber auch das war nur ein Taschenspielertrick:
wahrscheinlich wird solch eine Regierung nicht zustande kommen und
die nächste Regierung wird eine Koalition von Likud, Liberman, den
Anhängern von Meir Kahane und den religiösen Parteien sein.
EINIGE DER Linken sagen: ausgezeichnet! Die Wähler werden genau die
Regierung bekommen, die sie verdienen. Schließlich und endlich gibt
es eine exklusiv rechte Regierung.
Einer der Befürworter dieser Haltung ist Gideon Levy ( Journalist
bei Haaretz), ein konsequenter Verfechter des Friedens, der
Demokratie und der bürgerrechtlichen Gleichheit.
Er
und andere, die wie er denken, sagen: Israel muss diese Phase
einfach durchmachen, bevor es wieder zu sich selbst kommt. Die
Rechte muss unbegrenzte Macht erhalten, um ihr Programm realisieren
zu können, ohne den Vorwand, von Linken oder Mitgliedern des
Zentrums in der Koalition daran gehindert zu werden. Lasst sie vor
den Augen der Welt versuchen, eine Politik des Krieges zu führen,
die Hamas im Gazastreifen zu stürzen, jegliche Friedensverhandlung
ad acta zu legen, ungehindert Siedlungen auszubauen, ins Gesicht der
Weltmeinung zu spucken und mit den USA auf Kollisionskurs zu gehen.
Nach dieser Ansicht kann solch eine Regierung nicht lange dauern.
Die neue amerikanische Regierung von Barack Obama wird dies nicht
zulassen. Die Welt wird sie boykottieren. Die amerikanischen Juden
werden geschockt sein. Und wenn Netanyahu vom schmalen Weg der
Rechten abkommt – und sei es auch nur geringfügig – dann wird
seine Regierung auseinanderfallen. Die Kahane-Anhänger, die in einer
solchen Koalition vollwertige Partner wären, würden sich von ihm auf
der Stelle trennen. Die letzte Netanyahu-Regierung wurde schließlich
vor zehn Jahren von der extremen Rechten gestürzt, nachdem er sich
mit Yasser Arafat zusammengesetzt hatte und ein Abkommen
unterzeichnete, das der Palästinensischen Behörde ( pro forma) einen
Teil Hebrons überlassen hatte.
Nach dem Sturz der Regierung wird die Öffentlichkeit – entsprechend
dieser Prognose – begreifen, dass es keine rechtsorientierte Option
gibt, dass die Slogans der Rechten nichts als Unsinn sind. Nur so
werden sie zu der Schlussfolgerung kommen, dass es keine Alternative
auf dem Weg zum Frieden geben wird. Die Wähler werden für eine
Regierung stimmen, die die Besatzung beenden, den Weg für einen
unabhängigen palästinensischen Staat mit seiner Hauptstadt
Ost-Jerusalem frei machen und sich auf die Grenze der Grünen Linie
(mit miteinander abgestimmten Korrekturen) zurückziehen wird.
Damit die Öffentlichkeit dies akzeptiert, ist ein Schock nötig. Der
Sturz einer extremen Rechts-Regierung kann solch einen Schock
auslösen. Nach einem – scheinbar fälschlicherweise Lenin
untergeschobenen – Wort: Je schlimmer, desto besser. Oder anders
gesagt: es muss erst schlimmer werden, bevor es irgendwie besser
werden kann..
DAS IST eine verführerische Theorie. Aber sie ist auch sehr
beängstigend.
Können wir denn sicher sein, dass die Obama-Regierung tatsächlich
unwiderstehlichen Druck auf Netanyahu ausüben wird? Es ist möglich.
Hoffen wir, dass es geschieht. Aber es ist keineswegs sicher.
Obama hat noch keinen wirklichen Test über irgendeinem der
relevanten Problemfelder bestanden. Klar ist schon, dass es einen
Unterschied gibt zwischen dem, was er während der Wahlkampagne
versprach und dem, was er in die Praxis umsetzt. Auf verschiedenen
Gebieten setzt er mit leichten Veränderungen die Politik von George
Bush fort. Das wurde natürlich erwartet. Aber wie er unter
wirklichem Druck reagieren würde, das hat Obama noch nicht gezeigt.
Wenn Netanyahu die volle Macht der Pro-Israel-Lobby mobilisieren
wird, wird Obama dann aufgeben wie alle vorausgegangenen
Präsidenten?
Und die öffentliche Meinung in aller Welt – wie weit ist sie geeint?
Wie viel Druck kann von ihr ausgehen? Wenn Netanyahu alle Kritik
seiner Regierung zu „Antisemitismus“ erklären wird und jeden
Boykott als ein Echo des Nazi-Slogan „Kauft nicht beim Juden!“ – wie
viele Kritiker werden dann noch aufstehen, und dem Druck
widerstehen? Wie viel Mut werden Merkel, Sarkozy, Berlusconi und
andere aufbringen? Und auf der andern Seite: wird ein weltweiter
Boykott nicht die Paranoia in Israel verstärken und die ganze
israelische Öffentlichkeit in die Arme der extremen Rechten stoßen –
mit dem abgedroschenen Slogan „Die ganze Welt ist gegen uns“.
UNTER DEN besten Umständen – wenn sich maximaler Druck entfaltet
und dieser maximal wirksam wird, wie lange wird es dauern? Was für
eine Katastrophe kann solch eine Regierung auslösen, bevor der
Druck beginnt und Wirkung zeigt? Wie viele Menschen werden in
Angriffen und bei Racheakten auf beiden Seiten getötet und
verletzt? Solch eine Regierung wird von Siedlern beherrscht sein.
Wie viele neue Siedlungen werden gebaut werden? Wie viele
bestehenden Siedlungen werden mit hektischer Geschwindigkeit
erweitert werden? Und inzwischen werden die Siedler ihre Schikanen
gegenüber der palästinensischen Bevölkerung intensivieren mit dem
Ziel der ethnischen Säuberung.
Die Mitglieder der rechts orientierten Koalition haben schon
erklärt, dass sie keiner Feuerpause im Gazastreifen zustimmen
werden, weil dies die Herrschaft der Hamas dort festigen würde.
Sie würden den Gazakrieg wieder aufnehmen – unter einer noch
brutaleren Führung - den Streifens wieder erobern und die Siedler
nach dorthin zurückkehren lassen.
Netanyahus Slogan von einem „wirtschaftlichen Frieden“ ist völliger
Blödsinn, weil sich keine Wirtschaft unter einem Besatzungsregime
und mit Hunderten von Straßensperren entwickeln kann. Jeder
Friedensprozess – real oder virtuell – wird zum Erliegen kommen. Die
Folge: Die palästinensische Behörde wird zusammenbrechen. Aus
Verzweiflung wird sich die Bevölkerung der Westbank erst recht der
Hamas zuwenden oder die Fatah-Bewegung wird zu einer zweiten Hamas.
Innerhalb Israels wird sich die Regierung einer verstärkten
Wirtschaftskrise und vielleicht einem wirtschaftlichen Chaos
gegenüber sehen. Alle Teile der Regierung sind sich einig im Hass
gegen den Obersten Gerichtshof, und die wahnsinnigen Manipulationen
des Justizministers Daniel Friedmanns werden noch wahnsinnigeren
Platz machen. Unter dem eingängigen Slogan vom „Regime-Wechsel“
wird es gezielte Angriffe auf das demokratische System geben.
All dies ist möglich. Ein oder zwei Jahre einer
Bibi-Liberman-Kahane-Regierung können irreparablen Schaden an
Israels Stellung in der Welt anrichten, an den
israelisch-amerikanischen Beziehungen, am Rechtssystem, an der
israelischen Demokratie, der nationalen Moral und der nationalen
Vernunft.
DIE POSITIVE Seite der Situation ist, dass in der Knesset wiederum
eine große Opposition entstehen wird. Vielleicht wird es sogar eine
effektive Opposition sein.
Kadima entstand als Regierungspartei. Es wird für sie nicht leicht
sein, die Rolle einer Oppositionspartei einzunehmen. Dies wird
eine emotionale und intellektuelle Umwandlung benötigen. Ich habe
zehn Jahre lang einen kompromisslosen oppositionellen Kampf in der
Knesset geführt und weiß, wie schwierig das ist. Aber wenn Kadima
solch eine Umwandlung gelingt - was zweifelhaft ist – dann könnte
sie eine effektive Opposition werden. Die Notwendigkeit, eine klare
Alternative zur rechts radikalen Regierung darzustellen, könnte in
ihr ungeahnte Kräfte frei setzen. Zipi Livnis diplomatische Spiele
mit den Palästinensern könnten sich in ein ernst zu nehmendes
Programm für eine Zwei-Staatenlösung wandeln, ein Programm, dass
durch den täglichen parlamentarischen Kampf gegenüber der Regierung
mit einem gegensätzlichen Programm gestärkt und vertieft werden
wird.
Auch die Laborpartei wird eine tiefgreifende Umwandlung durchmachen
müssen. Ehud Barak ist sicher nicht die Person, einen
oppositionellen Kampf durchzufechten – besonders da er nicht der
„Führer der Opposition“ sein wird, ein Titel, der dem nach dem
Gesetz zusteht, der der Führer der größten Oppositionsfraktion ist.
Er wird sogar in der Opposition auch nur die zweite Geige spielen.
Labor wird konkurrieren müssen und vielleicht, vielleicht wird dies
zu ihrer Erholung beitragen. Die Bibel erzählt uns von dem Wunder
der trockenen Knochen (Hesekiel 37).
Dies trifft vor allem für die Meretz-Partei zu. Sie muss mit Kadima
und Labor konkurrieren und ihren Platz im Kampf um Frieden und die
sozial staatliche Reformen rechtfertigen.
Ein wirklicher Optimist kann sogar hoffen, dass die Kluft zwischen
der „jüdischen Linken“ und den „arabischen Parteien“ geringer wird.
Bis jetzt hat die Linke sie boykottiert und außerhalb der
Koalitionsberechnungen gelassen. Der gemeinsame Kampf und die
gemeinsamen Abstimmungen in der Knesset könnten auch hier eine
positive Entwicklung bringen.
Und außerhalb der parlamentarischen Arena mag die Regierung der
extremen Rechten die Atmosphäre im Lande ändern und viele
wohlmeinende Leute dahin bringen, die Sicherheit ihres
Elfenbeinturmes zu verlassen und mit einem Prozess intellektueller
Verjüngung in den Zirkeln zu beginnen, aus denen eine neue, offene
und andere Linke sich erheben müsste.
ALL DIES sind theoretische Möglichkeiten. Was wird in Wirklichkeit
geschehen? Was werden die Konsequenzen einer extrem rechten
Regierung sein, wenn Zipi Livni an ihrer Entscheidung festhält, sich
nicht der Netanyahu –Regierung anzuschließen? Wird Israel einen
selbstmörderischen Weg gehen, von dem es keine Rückkehr mehr gibt
oder wird dies eine vorübergehende Phase sein, bevor der Weckruf
erschallt?
Es
ist ein großes Wettspiel und wie jedes Wettspiel sowohl mit Furcht
als auch mit Hoffnung verbunden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert.)
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