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Im Süden nichts Neues
Uri Avnery, 17.März 2012
„WAS HAST du heute in der Schule gelernt, mein Sohn?!
„Heute war keine Schule. Es war eine Notlage!“
„Und was hast Du daraus gelernt, mein Sohn?“
TATSÄCHLICH eine Menge.
Die „Runde“ dieser Woche, wie die Armee dies gerne
nennt, folgte einem bekannten Muster, so förmlich wie ein religiöses
Ritual.
Es begann mit der Ermordung (oder „gezielter Tötung“)
eines bis jetzt unbekannten palästinensischen Widerstands- (Terroristen)-Führers
im Gazastreifen.
Die Palästinenser erwiderten mit einem Raketenregen,
der vier ganze Tage lang dauerte.
Mehr als eine Million Israelis rund um den
Gazastreifen hörten auf, zu arbeiten und blieben mit ihren Frauen
und Kindern in den Luftschutzkellern oder in „geschützten Gebieten“
(was nichts anderes bedeutet als relativ sichere Räume in ihrer
Wohnung). Eine Million Israelis entsprächen etwa 10 Millionen
Deutschen oder 40 Millionen Amerikanern – um die Proportionen der
Bevölkerungen zu markieren.
Ein Teil dieser Raketen wurde während ihres Fluges
von den drei Batterien der „Eisernen Kuppel“ („Iron Dome“) , der
Anti-Raketen-Verteidigung, abgefangen. Es wurden einige Israelis
verletzt, und es gab geringen Materialschaden, aber keinen
israelischen Toten.
Die israelische Luftwaffe – bemannt und unbemannt -
reagierte. Es gab 26 palästinensische Tote im Gazastreifen.
Nach vier Tagen und Nächten hatten beide genug und
ägyptische Vermittler erreichten mündlich eine Tadiyeh (arabisch für
„Ruhe“).
Alles wie gewöhnlich.
ABGESEHEN natürlich von den Details.
Alles begann mit der Tötung eines Palästinensers mit
Namen Zuhair al-Qaisi, des Generalsekretärs der „Volkskomitees“. Er
war erst seit wenigen Monaten in dieser Position.
Die „Volkskomitees“ sind eine kleine
Widerstands/Terroristengruppe, die drittgrößte im Gazastreifen. Sie
werden von der Hamas überschattet, die an dieser Runde nicht
teilnahm, und dem Islamischen Jihad, der die Sache der „Komitees“
übernahm und die Raketen abfeuerte.
Die große Anzahl der abgeschossenen Raketen war eine
Überraschung. Während der vier Tage wurden 200 Raketen abgeschossen
– im Durchschnitt etwa 50 Stück am Tag. 169 fielen auf israelisches
Gebiet. Es gab keine Anzeichen dafür, dass dem Jihad der Vorrat
ausging. Hamas ist natürlich eine viel größere Organisation und
besitzt ein größeres Arsenal. Man muss annehmen, dass es im
Gazastreifen jetzt eine Menge Raketen gibt, fast alle der
raffinierteren sind vom Iran geliefert worden. Wie sie die lange
Reise nach Gaza machten, kann man nur erraten.
Man muss auch annehmen, dass im von der Hisbollah
dominierten Süd-Libanon sogar noch weit größere Mengen an Raketen
liegen.
Auf der anderen Seite – also auf der unsrigen – hat
die „eiserne Kuppel“ einen großen Erfolg verbucht, eine Quelle
großen Stolzes für den Unternehmer und das ganze Land.
Es ist ein raffiniertes System „Made in Israel“, das
zunächst große Skepsis auslöste. Aus diesem Grund waren bis zu
diesem Moment nur drei Batterien in Aktion, jede schützte eine Stadt
( Askalon, Ashdod, Beer Sheva) . Eine vierte Batterie wird planmäßig
bald geliefert.
Das System fängt nicht jede Rakete ab; das würde
enorm teuer werden. Stattdessen kalkuliert das System selbst, ob
eine Rakete in unbewohnte Gebiete fällt und so ignoriert werden kann
oder in ein bevölkertes Gebiet (dann würde die Abfangrakete
abgeschossen) alles innerhalb von Sekunden. Von diesen wurden mehr
als 70% der Gazaraketen abgefangen und zerstört – ein großer
Erfolg.
Der Haken ist der, dass eine palästinensische Rakete
nur ein paar hundert Schekel kostet.
Eine einzige Abfangrakete der „Eisernen Kuppel“
kostet 315 Tausend Schekel. Während der vier Tage wurden von
israelischer Seite Raketen im Wert von 17,6 Millionen ausgegeben.
Dies abgesehen von dem sehr hohen Preis, den die Batterien allein
kosten.
Die Luftwaffeneinsätze über dem Gazastreifen kosten
weitere zig Millionen – eine Stunde Flug kostet etwa 100 Tausend
Schekel ( fast 20 Tausend Euro).
DIE ERSTE Frage, die deshalb gestellt werden sollte:
war die ganze Runde dies wert?
Israelis stellen selten selbst solche Fragen. Sie
sind davon überzeugt, dass die Verantwortlichen wissen, was sie tun.
Doch stimmt das ?
Alles hängt davon ab, ob al-Qaisi getötet werden
musste, sogar für jene, die glauben, dass solches Töten eine Lösung
von Problemen sei.
Al-Qaisi war in dieser seiner Position als Führer der
„Volkskomitees“ erst, nachdem sein Vorgänger unter ähnlichen
Umständen getötet worden war. Ein Ersatz wird leicht gefunden
werden. Er mag besser oder schlechter sein, aber es wird kaum einen
großen Unterschied machen.
Der Verteidigungsminister Ehud Barak gab eine seltsam
verschlungene Erklärung für die Tötung: „Al-Qaisi war einer der
Führer der Volkskomitees, der anscheinend damit beschäftigt
war, einen großen Angriff vorzubereiten. Ich kann noch nicht
sagen, ob dieser Angriff tatsächlich abgewendet wurde. Es sieht
so aus. Ich kann noch nichts sagen.“
Inoffiziell wurde gesagt, dass al-Qaisi mit dem
Auftrag einer Gruppe Militanter aus dem Gazastreifen in den
ägyptischen Sinai verwickelt war, um von dort israelisches Gebiet
anzugreifen. Letztes Jahr wurde solch ein Angriff in der Nähe von
Eilat durchgeführt mit mehreren israelischen Toten. Al-Qaisis
Vorgänger wurde deswegen beschuldigt und getötet, noch bevor eine
Untersuchung stattgefunden hatte.
War es also wert, so viele Menschen in Gefahr zu
bringen, eine Million Menschen in die Schutzkeller zu schicken und
zehn Millionen Schekel aus solchen Gründen auszugeben?
Meine Vermutung ist, dass al-Qaisi getötet wurde,
weil sich eine Gelegenheit bot, dies zu tun. Wenn es z.B. eine
Information über seine Bewegungen gab.
WER TRAF die Entscheidung?
Gezieltes Töten gründet sich auf Informationen des
Shabak (auch als Shin Bet bekannt).
In der Praxis ist es der Sicherheitsdienst, der die
Entscheidung trifft, Leute umzubringen – indem er gleichzeitig als
Informationssammler, als Begutachter, als Richter in einem handelt.
Keine unabhängige Analyse der Information, keine Überprüfung, kein
Gerichtsprozess irgendeiner Art. Am Shabak zu zweifeln, grenzt an
Verrat, kein Politiker und kein Journalist würde wagen, dies zu tun,
selbst wenn er oder sie danach Lust hätte, was nicht der Fall war.
Nachdem der Shabak entschieden hat, jemanden zu
töten, wird dies in eine kleine Gruppe von Männern gebracht: zum
Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister, zum Generalstabschef
und vielleicht zum befehlshabenden Offizier. Zu keinem mit
unabhängiger Einstellung.
Würde einer dieser Leute die relevanten Fragen
stellen? Ich bezweifle es.
Benjamin Netanjahu ist z.B. so stolz auf seinen
großen Erfolg in Amerika, tatsächlich in der ganzen Welt: es war ihm
gelungen, tiefe Besorgnis über die (noch nicht existierende)
iranische Bombe auszulösen. Das palästinensische Problem war völlig
von der Landkarte gewischt. Und hier setzt er eine Kampfrunde in
Bewegung, die die Menschen überall daran erinnert, dass das
palästinensische Problem noch sehr lebendig ist und dass es jeden
Moment explodieren könnte. Ist das sinnvoll selbst vom Standpunkt
eines Netanjahu oder eines Barak?
EIN ANDERER interessanter politischer Aspekt dieser
„Runde“ war die Rolle, die Hamas hier spielte oder eher nicht
spielte.
Hamas herrscht im Gazastreifen. Die israelische
Regierung erkennt offiziell diese Herrschaft nicht an, aber macht
doch Hamas für alles verantwortlich, was im Gazastreifen geschieht,
ob sie damit zu tun hatte oder nicht.
Bis jetzt beteiligte Hamas sich am Kampf, sobald
Israel Ziele im Gazastreifen angriff. Dieses Mal schaltete sie sich
nicht in den Kampf ein und betonte diese Tatsache sogar bei
Telefon-interviews im israelischen TV.
Warum? Die Hamas ist eng mit der Muslimbruderschaft
verbunden, die nun im ägyptischen Parlament dominiert. Sie steht
unter Druck, eine Einheitsregierung mit der Fatah in Palästina zu
gründen und sich der PLO anzuschließen. Wenn sie in diesem
Augenblick an dem bewaffneten Kampf gegen Israel teilnimmt, würde
sie diese Bemühungen schädigen. Um so mehr als der Islamische Jihad
eng mit dem Iran, dem Rivalen Ägyptens und Saudi Arabiens, verbunden
ist.
DIE ISRAELISCHEN TV-Korrespondenten haben die lästige
Angewohnheit, ihre Berichte mit einem banalen Satz zu beenden. Zum
Beispiel wird ein Bericht über einen tödlichen Autounfall fast
unverändert mit den Worten abgeschlossen „… und er oder sie
wünschten doch nur, sicher nach Hause zu kommen.“
In dieser Woche endeten fast alle Berichte über das
Schlamassel im Süden mit den Worten: „Es ist wieder Ruhe in den
Süden eingekehrt - bis zum nächsten Mal.“
Jeder nimmt an, dass wenn das „nächste Mal“ die
Raketen aus dem Gazastreifen kommen, sie eine größere Reichweite
haben und vielleicht den Rand Tel Avivs erreichen, und jeder in
Israel hofft, dass die Iron-Dome-Raketen noch raffinierter sein
werden.
Bis dahin: Im Süden nichts Neues.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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