Bitterer Reis (2)
Oder: Der Marsch der Torheit
Uri Avnery, 10.4. 04
Der folgende Abschnitt mag bekannt
erscheinen:
„Am vierten Tag des israelischen
Angriffes auf den Libanon 1982 überquerte ich die Grenze an einer einsamen
Stelle in der Nähe von Metulla und suchte die Front, die schon die
Außenbezirke von Sidon erreicht hatte. Ich fuhr – begleitet von einer
Fotografin - mit meinem privaten Wagen. Wir fuhren durch ein Dutzend
schiitischer Dörfer und wurden überall mit großer Freude empfangen. Wir
entzogen uns nur mit Mühe den Hunderten von Dörflern, die alle darauf
bestanden, dass wir bei ihnen zu Hause Kaffee trinken sollten. An den
vorausgegangenen Tagen hatten sie die israelischen Soldaten mit Reis
überschüttet.
Ein paar Monate später schloss ich
mich einem Armeekonvoi an, der in die entgegen gesetzte Richtung, von
Sidon nach Metulla, fuhr. Die Soldaten trugen nun schusssichere Westen und
Helme, viele waren am Rand der Panik.
Was war geschehen? Die Schiiten
hatten die israelischen Soldaten als Befreier empfangen. Als es ihnen klar
wurde, dass sie als Besatzer bleiben wollen, begannen sie, sie zu töten.
Als die israelischen Truppen in
den Libanon einmarschierten, waren sie eine unterdrückte, von allen
anderen verachtete, ohnmächtige Gemeinschaft. Nach einem Jahr des Kampfes
gegen die Besatzer wurden sie eine politische und militärische Macht. Die
schiitische Hisbollah ist die einzige militärische Macht der arabischen
Welt, die die mächtige israelische Armee geschlagen hat.“ Ende des
Zitates.
Dies schrieb ich in einem Artikel,
den ich „Bitterer Reis“ nannte und der am 22. März 2003, am Vorabend der
Invasion in den Irak, erschien. Er begann mit den Worten: „Man hüte sich
vor den Schiiten! Die Probleme der Besatzung werden beginnen, wenn der
Kampf vorbei ist....“
Barbara Tuchman starb zu früh.
Sonst hätte sie jetzt ihrem Buch „Der Marsch der Torheit“ noch ein Kapitel
hinzufügen können.
Man sollte daran erinnern, dass
Tuchman mit der Auswahl ihrer Beispiele sehr penibel war. Es genügte
nicht, dass eine Regierung töricht handelte. Um einen Platz in ihrem Buch
zu bekommen, mussten noch zwei Bedingungen erfüllt werden: dass die
Ergebnisse der Torheiten vorausgesehen werden konnten und dass es
tatsächlich jemanden gab, der im voraus genau vor diesen Folgen warnte.
( z.B.: Der britische König George
III. verlor wegen einiger törichter Handlungen Amerika. Dies war
vorauszusehen, und der britische Politiker und Autor Edmund Burke warnte
ihn tatsächlich beizeiten davor).
Was nun im Irak geschieht, war
absolut vorauszusehen. Es wiederholt sich genau das, was uns im Libanon
widerfahren ist. Otto von Bismarck bemerkte einmal: „Ein Dummkopf lernt
von seinen Erfahrungen. Ein Weiser lernt von den Erfahrungen anderer.“
Wenn es so ist, wie sollte man Präsident Bush bezeichnen, der nicht fähig
war, aus seinen eigenen Erfahrungen zu lernen?
Da ich mich schon zitiert habe,
werde ich es noch einmal tun. Am 8. Februar 2003 schrieb ich in einem
Artikel mit dem Titel „Der Geruch des Krieges“: „dies ist kein Krieg gegen
Terrorismus. Es ist auch kein Krieg gegen Massenvernichtungswaffen. Es
geht auch nicht um Demokratie im Irak. Das ist ein Krieg wegen etwas ganz
anderem ... ein starker Ölgeruch liegt in der Luft.“
Damals klang dies wie
Diffamierung. Schon heute ist zweifellos klar, dass die amerikanische
Invasion weder etwas mit dem „Krieg gegen den Terrorismus“ zu tun hat,
noch mit den Massenvernichtungswaffen oder mit den Verbrechen des Saddam
Hussein und auch nicht mit Demokratie. Dies ist stichhaltig bewiesen und
dokumentiert worden und kürzlich noch einmal durch das Zeugnis von Richard
Clarke, dem Mann, der von Bush mit dem „Krieg gegen den Terrorismus“
beauftragt worden war. Von dem Augenblick an, an dem Bush das Weiße Haus
betrat, verfolgten er und seine ihn lenkenden Hintermänner im Nahen Osten
nur ein Ziel: die Besetzung des Irak.
Die Bushleute sind Ölmänner. Unter
den Leuten des Big-Money, die halfen, dass beide Bushs - sen. und jun. -
ins Weiße Haus kamen, spielten die Ölmänner eine führende Rolle. Sie haben
entschieden, dass das amerikanische Imperium seine Hände auf die großen
Ölreserven des Irak legen und eine dauerhafte militärische Basis inmitten
der Ölregion errichten muss, und zwar zwischen dem Öl des Kaspischen
Meeres und dem Öl des Persisch-Arabischen Golfes.
Die fanatischen Neo-Kons, die
meisten von ihnen erklärte Zionisten des rechten Flügels, fügten dem noch
ein anderes Ziel hinzu: die irakische Bedrohung gegen Israel muss
eliminiert werden, bevor Israel auch von der syrischen und iranischen
Bedrohung befreit wird. Dies war aber ein sekundäres Ziel. Es hätte
keinen Erfolg gehabt, die amerikanische Politik zu beherrschen, ohne den
entscheidenden Einfluss von Dick Cheney und der anderen - die Bush an der
Leine halten – und die über den größten Teil des Erdölvorkommens der Erde
die amerikanische Kontrolle errichten wollten.
Dies Ziel ist erreicht worden. Der
Irak wurde erobert. 135 000 US-Soldaten halten das Besatzungsregime
aufrecht – mit ihnen die Truppen der Satellitenstaaten, wie Polen, die
Ukraine, Britannien, El Salvador, Italien und Spanien .
Ein kleiner ( und nicht sehr
intelligenter) Beamter, der sich großartig „L. Paul Bremer III.“ nennt,
ist Gouverneur der neuen Kolonie geworden, und er beabsichtigt, die
Herrschaft an die von ihm selbst ernannte irakische Regierung, abzugeben.
Das heißt, die Herrschaft über die
Müllabfuhr und die Krankenhäuser, aber bestimmt nicht über die wirklich
wichtigen Funktionen, die alle von amerikanischen „Beratern“ kontrolliert
werden. Zu diesem Zweck wird in Bagdad die größte US-Botschaft der Welt
errichtet, für mehr als 3000 Angestellte, die jeden Aspekt der Regierung
im Lande kontrollieren werden.
Das erinnert einen an das
Vichy-Regime des Marschall Pétain in Frankreich (1940-44). Die Irakis
selbst wird es an die britisch- kolonialen Machtstrukturen in ihrem Lande
erinnern, die sich eines arabischen „Königs“ bedienten.
Soweit es die Amerikaner betrifft,
sollte dies eine Dauereinrichtung sein. Nicht für ein Jahr, nicht für zwei
Jahre, sondern für Jahrzehnte, so wie die israelische Besatzung in den
besetzten palästinensischen Gebieten. Aber im Gegensatz zu den Israelis
nennen sie das „Nation Building“ und „Errichtung der ersten Demokratie in
der arabischen Welt“. George Orwell hätte sich darüber gefreut!
Ein kleiner Faktor wurde
übersehen: das irakische Volk. Man kann doch wirklich nicht an alles
denken, oder ?
Als der bewaffnete Widerstand
begann, beruhigten sich die Amerikaner mit der Vorstellung, dass dies nur
„Überbleibsel des Saddam-Regimes“ wären oder „Terroristen“ oder
ausländische Agenten von Osama bin Laden. Für kein anderes Kolonialregime
ist es so schwierig wie für die Amerikaner, die einfachste Tatsache der
Welt zuzugeben: dass ein besetztes Volk gegen seinen Besatzer aufsteht.
Und wirklich, worüber sollen sich die Irakis beschweren, nachdem die
idealistischen Amerikaner sie allein aus der Güte ihres Herzens von dem
üblen Saddam befreit hatten?
Jetzt denken die Amerikaner
darüber nach, ob mehr Truppen ins Land geholt werden sollen. Die Politiker
fragen die Generäle: wie viele Soldaten sind nötig, um den Irak zu
kontrollieren? Und die Generäle denken in allem Ernst nach: 10 000 mehr?
20 000 mehr? Wenn es eine ernsthafte Person unter ihnen geben würde, so
hätte die geantwortet: „Auch 500 000 sind nicht genug. Wenn sich ein
ganzes Volk erhebt, sind ausländische Soldaten hilflos.“
Die Amerikaner hatten sich darauf
eingestellt, dass die Sunniten nicht zufrieden sein würden. Sie hatten den
irakischen Staat seit seiner Gründung durch die Briten nach dem 1.
Weltkrieg beherrscht und verlieren nun ihre Vorherrschaft. Aber die
Schiiten? Immerhin sind die Schiiten in der von den Amerikanern
aufzubauenden „Demokratie“ dabei, den größten Anteil der Macht zu
bekommen. Aber die Schiiten wollen keine „Macht“ in einem Land erhalten,
das besetzt bleibt.
Es war noch vor dem Krieg, als wir
warnten ( oh nein, ich werde mich nicht noch ein 3. Mal zitieren!), dass
es beinahe unmöglich sei, drei einander feindlich gesinnte Völker in einem
Staat zu halten: die Sunniten, die Schiiten und die Kurden. Das stimmt bis
heute. Aber vielleicht geschieht jetzt ein Wunder: die Schiiten und die
Sunniten schließen sich gegen die Besatzung zusammen. Wer weiß, vielleicht
wird der allgemeine Kampf zum ersten Mal eine irakische Nation
zusammenschweißen und einen blutigen Bürgerkrieg auf der ganzen Linie
verhindern. Hoffentlich!
Nun sind die Amerikaner in der
Falle ihres eigenen Handelns gefangen. Sogar, wenn sie den Irak verlassen
wollten, ( und sie wollen es sicher nicht), könnten sie es gar nicht. Wie
ein hebräisches Sprichwort sagt: „Sie können es weder herunterschlucken
noch ausspucken.“
Da gibt es wirklich nichts, was
sie tun könnten. Sie werden immer mehr in den Sumpf geraten, töten und
getötet werden, zerstören und zerstört werden – mit immer größerer
Brutalität, eine Art neues in der Wüste gelegenes Vietnam. In den
stündlichen Nachrichten von Al Jazeera ist es schwierig, zwischen unseren
Soldaten in Ramallah und den amerikanischen in Falluja zu unterscheiden.
Was uns widerfährt – wird ihnen widerfahren, nur in einem noch größeren
Ausmaß.
Welche Wirkung wird diese
Ähnlichkeit auf Bush und sein Volk haben? Sie könnten sagen: ein Sumpf
ist genug. Lasst uns aus dem einen herausgehen! Lasst uns Sharon zwingen,
zu guter letzt mit den Palästinensern ein Abkommen zu vereinbaren, statt
über eine „einseitige Trennung“ zu quasseln, die wahrscheinlich nie
geschehen wird.
Aber Bush und die Bushmänner
könnten auch sagen: wenn wir uns so ähnlich sind, lasst uns Sharon noch
mehr umarmen. Solch eine Reaktion würde seinen wohl verdienten Platz im
„Marsch der Torheit Nr.2“ finden.
Dies könnte sogar gut sein: die
beiden Herren hätten dann das Vergnügen, die Bühne gemeinsam zu verlassen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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