Entdecke den Unterschied!
Uri Avnery, 20.12.08
EIN MANN wurde nach seinen Söhnen gefragt. „Ich habe drei“, sagte
er, „aber einer von ihnen ist ein kompletter Idiot.“
„Welcher?“ fragten sie. „Such dir einen aus!“ antwortete er.
In 51 Tagen werden wir eine neue Knesset und eine neue Regierung
wählen.
Drei große Parteien konkurrieren um den Sieg: Kadima, Likud und
Labor.
Ab jetzt schau dir den Scherz an!
GIBT ES eine wirkliche Auswahl? Mit andern Worten, gibt es
irgendwelche realen Unterschiede zwischen den drei Parteien?
Wie bei dem Spiel: „Entdecke die Unterschiede!“ sind sie so winzig,
dass man wirklich gute Augen braucht, um sie zu entdecken.
Natürlich gibt es politische Unterschiede zwischen den dreien. Aber
was die drei Parteien und ihre drei führenden Verantwortlichen
gemeinsam haben, ist viel bedeutsamer, als was sie trennt.
Binyamin Netanyahu sagt, dies sei nicht die Zeit, um mit den
Palästinensern Frieden zu machen. Wir müssen warten, bis die Zeit
dafür reif ist. Nicht auf unserer Seite, sondern auf der
palästinensischen Seite. Und wer wird dies entscheiden, wann auf der
palästinensischen Seite die Zeit dafür reif ist? Netanyahu
natürlich. Er oder sein Nachfolger oder die Nachfolger seiner
Nachfolger.
Zipi Livni sagt – so scheint es wenigstens – genau das Gegenteil.
Wir müssen mit den Palästinensern reden. Worüber? Nicht über
Jerusalem, Gott bewahre. Und nicht über die Flüchtlinge. Worüber
dann? Vielleicht über das Wetter? Zipis Plan – so muss man daraus
schließen – ist der , dass man weiter redet und redet und redet und
kein konkretes Abkommen erreicht.
Ehud Barak hat seine schicksalhafte Ankündigung von vor acht Jahren
nicht zurückgezogen, als er von der (wegen seiner selbst)
fehlgeschlagenen Camp David Konferenz zurückkam: „Wir haben keinen
Partner für den Frieden.“
Keiner der drei ist aufgestanden und hat der Öffentlichkeit in
einfachen Worten gesagt: Ich werde im Laufe des nächsten Jahres
(2009) mit den Palästinensern Frieden schließen. Dieser Frieden
gründet sich auf der Errichtung eines palästinensischen Staates
entlang den Grenzen von vor 1967, mit geringen Grenzveränderungen
auf der Basis von 1:1, Jerusalem wird zur Hauptstadt von zwei
Staaten werden, mit einer gemeinsam vereinbarten vernünftigen
Lösung des Flüchtlingsproblems, einer Lösung, mit der Israel leben
kann.
Keiner der drei hat überhaupt irgend einen Friedensplan angeboten.
Nur hohle Worte. Nur PR/ Phantasien.
Wie z.B. die Alternative, die Netanyahu angeboten hat: die
Verbesserung der Lebensbedingungen der Palästinenser.
Lebensbedingungen unter Besatzung? Wenn 600 Straßensperren in der
Westbank die freie Bewegung behindern? Wenn jeder gewalttätige
Widerstandsakt zu kollektiver Bestrafung führt? Wenn
Todesschwadronen nachts unterwegs sind, um „Gesuchte“ zu
liquidieren? Nur ein Verrückter wird in solch einem Gebiet Geld
investieren.
ALLE DREI sind sich in der Ansicht einig, dass die Hamas
eliminiert werden muss. Keiner von ihnen erklärt öffentlich, dass
der Gazastreifen neu besetzt werden sollte – etwas, das von der
Öffentlichkeit genau wie vom Militär sehr ungern gesehen würde.
Aber alle drei unterstützen die strenge Blockade des Gazastreifens,
da sie glauben, wenn die Bevölkerung kein Brot mehr hat und die
Krankenhäuser keine Medikamente oder Kraftstoff, dann wird sich die
Bevölkerung des Gazastreifens erheben und das Hamas-Regime stürzen.
Bis jetzt geschah das Gegenteil. In der vergangenen Woche hat eine
Viertelmillion Menschen – etwa die Hälfte der erwachsenen
Bevölkerung des Gazastreifens – an einer Rallye teilgenommen, die
den Geburtstag von Hamas feierte.
Nicht einer der drei stand auf und sagte: Ich werde mit der Hamas
reden, um sie in den Friedensprozess einzubinden.
Und keiner der drei stand auf und sagte: Ich werde im Laufe des
nächsten Jahres Frieden mit den Syrern machen. Die Bedingungen sind
bekannt, ich akzeptiere sie, ich beabsichtige diese zu
unterzeichnen.
Vielleicht denken alle drei im Geheimen so. Aber jeder von ihnen
sagt sich: „Ich bin doch nicht verrückt? Ich werde mich doch nicht
mit den Golansiedlern und ihren Unterstützern anlegen?“ Jemand, der
nicht bereit ist - aus Angst vor den fanatischen Siedlern dort -
einen einzigen elenden Außenposten aus der Westbank zu entfernen,
wird auch auf den Golanhöhen kein Risiko auf sich nehmen .
ANDRERSEITS haben alle drei denselben Notausgang: die iranische
Bombe. Was würden wir ohne sie tun? „Die Hauptgefahr für die
Existenz Israels ist die iranische Bombe!“ erklärt Barak; erklärt
Zipi; und erklärt Netanyahu. Ein fein abgestimmter Chor.
Von Anfang an hat der Zionismus nach Auswegen gesucht, um vor dem
„palästinensischen Problem“ wegzulaufen. Warum? Wenn die
zionistische Bewegung zugegeben hätte, es gäbe ein
palästinensisches Volk, hätte sie für die aktuelle Situation und für
das moralische Problem eine Lösung finden müssen. Deshalb sind
jeweils Hunderte verschiedener Vorwände gefunden worden, um das
Dilemma ignorieren zu können.
Heute erfüllt die iranische Bombe diese Funktion. Hier besteht eine
klare und gegenwärtige Gefahr. Eine existentielle Gefahr. Belästige
mich nicht ständig mit dem palästinensischen Problem! Das eilt gar
nicht. Das kann noch ein paar Jahre (oder ein paar Generationen)
hinausgeschoben werden. Jetzt braucht die iranische Bombe unsere
ganze Aufmerksamkeit. Nachdem wir dieses Problem gelöst haben - wie,
ist allerdings nicht klar - werden wir freie Hand haben und uns mit
der palästinensischen Plage beschäftigen.
Die Logik sagt natürlich genau das Gegenteil. Wenn wir ein
Friedensabkommen mit dem ganzen palästinensischen Volk abschließen
und mit der Besatzung aufhören, wird der Perserteppich unter den
Füßen eines Ahmadinejad und seinesgleichen weggezogen. Wenn die
Palästinenser Israel anerkennen und Frieden machen, dann wird der
anti-israelische Kreuzzug (oder eher Halbmondzug) seinen Dampf
verlieren.
OK, IN den Angelegenheiten von Krieg und Frieden gibt es bei den
Dreien keinen Unterschied. Aber wie ist es mit den anderen
Problemen?
Die Wirtschaftskrise beherrscht die Schlagzeilen. Alle drei
Kandidaten schlagen vor, sich damit zu befassen. Um irgendwelche
Unterschiede zwischen ihren Ankündigungen dazu festzustellen,
braucht man schon ein Mikroskop.
Es
könnte angenommen werden, dass Netanyahu sich von den anderen
unterscheidet. Schließlich war er der Hohe Priester der
Privatisierung. Alles zu privatisieren, von den Stahlkabeln bis zu
den Schnürsenkeln. Dieses Dogma ist nun in den USA kollabiert – und
ist dabei, auch in Israel zu kollabieren. Stört dies Netanyahu?
Lässt ihn das bescheidener werden? Nicht im Geringsten. Nun verlangt
er – ohne mit der Wimper zu zucken – massive Staatsinterventionen.
Genau wie Zipi. Genau wie Barak.
Und wie ist es mit dem Staat und der Religion? Keiner von ihnen
verlangt eine Trennung. Keiner fordert zivile Trauung oder das
Zurücknehmen der religiösen Zwangsgesetze oder die Einberufung von
Tausenden von Yeshiva-Studenten zum Militär. Keiner verlangt, dass
Hauptfächer – wie Englisch und Mathematik – in das Curriculum der
staatlich finanzierten, religiösen Schulen mit aufgenommen wird.
Gott bewahre, Gott bewahre! Schließlich benötigen sie morgen
alle die Shas und/oder die orthodoxen Parteien.
Die arabischen Bürger? Alle Parteien hofieren sie eifrig. Aber
keiner von ihnen verspricht ihnen etwas Reales. Wirkliche
Gleichheit? Nur mit Worten. Kulturelle Autonomie? Natürlich nicht.
Die Ausführung von Empfehlungen der
Regierungsuntersuchungskommission, die nach den Oktober-2000-
Tötungen ernannt wurde? Keine Chance!
Und die Liste könnte noch lange fortgesetzt werden.
ALSO GIBT es keinen wirklichen Unterschied zwischen ihnen? Ist die
Stimme für den einen dasselbe, wie die Stimme für einen der beiden
anderen?
Ich würde nicht so weit gehen.
Da
gibt es kleine Differenzen – wenn es um schicksalsschwere Dinge
geht, ist auch ein kleiner Unterschied bedeutsam.
Netanyahu, zum Beispiel, bringt eine sehr rechte Mannschaft mit
sich. Diese schließt faschistische Elemente mit ein, die man nicht
ignorieren sollte. Es besteht die Gefahr, dass er eine Regierung
aufstellt, die „extrem-rechte ( d.h. geradezu faschistische)
Parteien, zusätzlich zur rechts-orthodoxen Shaspartei, mit
einschließen würde. Sein Sieg würde der ganzen Welt signalisieren,
dass Israel den Weg in den Abgrund gewählt hat. Damit wäre auch die
Möglichkeit gegeben – der Alptraum israelischer Politiker – mit den
USA, jetzt von Barack Obama geführt, zusammenzustoßen.
Die (und zwar zu Recht) lädierte Labour-Partei schließt wenigstens
ein sozial-demokratisches Element ein, das sie von den beiden
anderen unterscheidet. Dieses ist schwach, aber nicht ganz
unbedeutend.
Kadima, diese Kreuzung von linken Rechten und rechten Linken ist
trotz allem besser als der Likud, aus dem die meisten ihrer
Kandidaten herkommen. Netanyahu und Livni wuchsen auf demselben
Baum, aber auf verschiedenen Zweigen. Zipi könnte uns noch
Überraschungen zum Besseren bereiten. Ob Netanyahu uns plötzlich
noch mit Überraschungen konfrontieren wird? Es würde ein Wunder
sein.
Neben den drei großen Parteien gibt es natürlich mehrere kleinere
Ein-Thema-Parteien, jede in ihrer Nische, die sich jeweils mit
besonderen Problemen der Bevölkerung befassen. Sie haben wenigstens
eine klare und ehrliche Botschaft: die arabischen Parteien, Meretz,
die Orthodoxe Liste, Shas, die Liberman-Partei, die „Jüdisches
Heim“-Partei ( früher die national-religiöse Partei). Wahrscheinlich
wird es noch einige neue Wahllisten geben. Jede dieser Parteien hat
eine Geschichte für sich, aber keine von ihnen wird die nächste
Regierung stellen.
Die wirkliche Geschichte liegt bei den drei Großen – und dies ist
tatsächlich eine traurige Geschichte.
Die Wahl zwischen ihnen ist eine Wahl zwischen schlimm, schlimmer
und noch schlimmer. Zwischen Zahnschmerzen, Migräne und
Rückenschmerzen.
Diese Wahl wird nichts Erfreuliches mit sich bringen. Die Frage ist
nur, wie schlecht die Ergebnisse sein werden.
DIE SCHLUSSFOLGERUNG: dies darf nicht noch einmal geschehen.
Ziemlich wahrscheinlich wird auch die nächste Knesset nicht länger
als ein oder zwei Jahre halten. Dann würde es neue Wahlen geben, die
schicksalhaft sein werden.
Am
11. Februar 2009, am Tag nach den Wahlen müssen die, die einen
Wechsel wollen, anfangen, aufs Neue nachzudenken. Diejenigen, die
sich nach einem demokratischen, säkularen, progressiven Israel
sehnen, einem Israel, das im Frieden mit seinen Nachbarn lebt und
von sozialer Gerechtigkeit bestimmt ist, müssen sich entscheiden,
die Sache in die eigenen Hände zu nehmen.
Sie müssen mit einem neuen intellektuellen und organisatorischen
Versuch anfangen, um diese wichtigen Ziele zu erreichen. Sie
sollten nicht mehr damit zufrieden sein, das „kleinere Übel“ zu
wählen, sondern endlich für das größere Gute und - zusammen mit
Bevölkerungsteilen, die bis jetzt keine Partner waren – Lösungen zu
erarbeiten, die bis jetzt nicht versucht worden sind. Um ein
Obama-ähnliches Wunder zu vollbringen.
Anstelle der drei Söhne, die Taugenichtse sind, muss ein vierter
Sohn erscheinen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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