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Die Zwerge
Uri Avnery, 12. März 2011
JERUSALEM IST voll brillanter neuer Ideen. Die besten Köpfe
unseres politischen Establishments schlagen sich mit dem Problem
herum, das die anhaltende arabische Revolution geschaffen hat, die
die Landschaft rund um uns neu gestaltet.
Hier ist die letzte Ernte unglaublich origineller Ideen.
Der Verteidigungsminister Ehud Barak hat angekündigt, dass er dabei
ist, von den US eine weitere Subvention von 20 Milliarden zu
erbitten für mehr Kampfflugzeuge, die technisch auf dem neuesten
Stand sind , Raketenboote, ein Unterseeboot, Truppentransporter und
anderes.
Ministerpräsident Binyamin Netanyahu ließ ein Photo machen, bei dem
er von Soldatinnen umgeben ist – wie Muammar Qaddafi in den guten
alten Zeiten – wie er über den Jordan blickt und verkündet, dass die
israelische Armee niemals das Jordantal verlassen würde. Nach ihm
ist dieser besetzte Streifen Land Israels vitale
„Sicherheitsgrenze“.
Dieser Slogan ist so alt wie die Besetzung selbst. Es war ein Teil
des berühmten Allon-Planes, der es darauf abgesehen hatte, die
Westbank mit israelischem Gebiet zu umgeben. Zufällig war der Vater
des Planes Yigal Allon auch ein Führer der Kibbuz-Bewegung, und das
Jordantal war für ihn ein ideales Gebiet für neue Kibuzzim – es ist
flach, gut bewässert und war gering besiedelt.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Als Allon legendärer Kommandeur
im Krieg von 1948 war, träumte er noch nicht einmal von Raketen.
Heute erreichen die von jenseits des Jordan abgefeuerten Raketen
leicht mein Haus in Tel Aviv. Wenn Netanyahu erklärt, dass wir das
Jordantal benötigen, um die Araber daran zu hindern, Raketen auf die
Westbank zu schmuggeln, scheint er, ein wenig hinter seiner Zeit
zurück geblieben zu sein.
Wenn die Politiker tapfer der neuen Welt entgegensehen, bleibt die
Armee nicht zurück. In der letzten Woche verkündeten mehrere
Divisionskommandeure, dass sie sich für einen gewaltfreien
Massenaufstand in der Westbank im Tahrir-Stil vorbereitet hätten.
Die Soldaten werden trainiert, Mittel zur Aufstandsbekämpfung sind
vorrätig. Unsere glorreiche Armee ist für noch einen kolonialen
Polizeijob vorbereitet.
Um
die geistige Kraft der Führung zu stärken, hat Netanyahu jetzt
einen Mann mit scharfem Intellekt mobilisiert: er ernannte General
Yaacov Amidror zum Chef des Nationalen Sicherheitsrats. Amidror, der
höchstrangige Kipa-tragende Offizier in der Armee, hat nie seine
ultra-ultra-nationalistischen Ansichten, einschließlich seiner
totalen Opposition gegen einen palästinensischen Staat und Frieden
im allgemeinen verheimlicht. Er ist übrigens der Offizier, der
kürzlich beifällig bemerkte, dass einige Armeen den Soldaten, die
sich nicht am Angriff beteiligen, „ eine Kugel in den Kopf jagen.“
Es
passt sehr gut, dass Netanyahu in dieser Woche die Nationale Front
Partei eingeladen hat, die offen faschistische Elemente
einschließt, sich seiner Regierung anzuschließen. Sie weigerte sich,
weil Netanyahu ihnen nicht extrem genug ist.
Mittlerweile versuchen ein Dutzend Spitzenpolitiker von Avigdor
Lieberman abwärts zum Scheitern verurteilte Pläne für
„Interimsabkommen“ neu zu beleben – alte Handelswaren, die in den
Regalen verstauben, da es keine Käufer für sie gibt.
Alles in allem politische Zwerge, die mit einer neuen revolutionären
Realität konfrontiert werden, die sie nicht verstehen und mit der
sie nicht fertig werden. ( Ich will damit keine Zwergwüchsigen
beleidigen, die natürlich so intelligent wie alle anderen sind.)
MIT DIESEM Haufen von Führern ist es fast utopisch, zu fragen, was
wir tun könnten oder tun sollten, um uns auf die neue geopolitische
Realität einzustellen.
Nehmen wir an, dass die arabische Welt oder große Teile von ihr auf
dem Weg zur Demokratie und zu sozialem Fortschritt sind - wie wird
sich dies auf unsere Zukunft auswirken?
Könnten wir zu solch progressiven Gesellschaften Brücken schlagen?
Könnten wir sie davon überzeugen, uns als legitimen Teil der Region
zu akzeptieren? Könnten wir an der politischen und wirtschaftlichen
Entstehung einer neuen geopolitischen Realität eines „neuen Nahen
Ostens“ teilnehmen?
Ich bin davon überzeugt, dass wir es können. Die absolute,
unveränderliche Voraussetzung jedoch ist, dass wir mit dem
palästinensischen Volk Frieden schließen.
Es
ist die unerschütterliche – und sich selbst erfüllende –
Verurteilung des ganzen israelischen Establishments, dass dies
unmöglich ist. Sie haben völlig Recht – solange sie im Amt sind, ist
es unmöglich. Mit einer anderen Führung aber, würden sich die Dinge
ändern?
Wenn beide Seiten – und dies hängt sehr von Israel der
unvergleichlich stärkeren Seite ab – wirklich Frieden wollen, ist
der Frieden in Reichweite? Alle Bedingungen liegen klar auf dem
Tisch. Sie sind endlos diskutiert worden. Die Kompromisse sind klar
bezeichnet worden. Es würde nicht länger als ein paar Wochen
dauern, um die Details auszuarbeiten. Die Grenzen, Jerusalem, die
Siedlungen, die Flüchtlinge, das Wasser, die Sicherheit – wir
kennen inzwischen die Lösungen. (Ich und andere habe sie schon
mehrere Male aufgezählt). Was nun allein noch fehlt, ist der
politische Wille.
Ein Friedensabkommen – von der PLO unterzeichnet, in einem
Referendum vom palästinensischen Volk ratifiziert, von der Hamas
angenommen – würde die Haltung der arabischen Völker gegenüber
Israel radikal verändern.
Dies ist keine formelle Angelegenheit – es ginge zum Kern des
nationalen Bewusstseins. Keine der anhaltenden Aufstände in
verschiedenen arabischen Ländern ist von Natur aus anti-israelisch.
Nirgendwo schreien die Massen nach einem Krieg. Die Idee eines
Krieges widerspräche wirklich ihren grundsätzlichen Hoffnungen:
sozialer Fortschritt, Freiheit, ein Standard, der ein Leben in Würde
erlaubt.
Doch, solange die Besatzung der palästinensischen Gebiete anhält,
weisen die arabischen Massen eine Versöhnung mit Israel ab. Egal
welche Gefühle jedes spezielle arabische Land gegenüber den
Palästinensern hat – alle Araber fühlen sich zu tiefst verpflichtet,
bei der Befreiung ihrer arabischen Landsleute mitzuhelfen. Wie ein
ägyptischer Führer einmal zu mir sagte: „Sie sind unsere armen
Verwandten und unsere Tradition erlaubt es nicht, einen armen
Verwandten im Stich zu lassen. Es ist eine Sache der Ehre.“
Deshalb wird Israel bei jeder freien Wahl in arabischen Ländern
eine Rolle spielen, und jede Partei wird sich verpflichtet fühlen,
Israel zu verurteilen.
EIN ARGUMENT gegen den Frieden ist, dass die Hamas ihn nie
akzeptieren wird – so wird es in unserer offiziellen Propaganda
endlos wiederholt. Das Schreckgespenst der islamistischen
Bewegungen, das in anderen Ländern demokratische Wahlen gewinnt –
wie die Hamas in Palästina – wird als tödliche Gefahr an die Wand
gemalt.
Man sollte sich daran erinnern, dass die Hamas tatsächlich von
Israel geschaffen wurde.
Während der ersten Jahrzehnte der Besatzung haben die
Militärgouverneure jede Art palästinensischer politischer Tätigkeit
verboten, selbst jene, die sich für Frieden mit Israel aussprach.
Aktivisten kamen ins Gefängnis. Es gab nur eine Ausnahme: die
Islamisten. Es war nicht nur unmöglich, sie daran zu hindern, sich
in der Moschee zu versammeln – dem einzigen öffentlichen Raum, der
offen gelassen wurde. Die militärischen Gouverneure wurden sogar
angewiesen, die islamischen Organisationen zu ermutigen – als
Gegenkraft gegen die PLO, die als Hauptfeind angesehen wurde. Die
PLO war und blieb nicht religiös – mit vielen Christen, die in ihr
eine bedeutende Rolle gespielt haben.
Das war natürlich eine dumme Idee, typisch für die politische
Kurzsichtigkeit unserer politischen und militärischen Führer,
soweit es arabische Angelegenheiten betraf. Beim Ausbruch der 1.
Intifada konstituierte sich auch die islamische Bewegung als
Hamas („Islamistische Widerstandbewegung“), die den Kampf aufnahm.
Das Auftauchen der Hisbollah war auch eine Folge israelischer
Aktionen. Als Israel 1982 in den Libanon einfiel, um den
PLO-Ministaat im Süden des Landes zu zerstören, schuf es dort ein
Vakuum, das bald mit der neu gegründeten schiitischen „Partei
Gottes“, der Hisbollah, aufgefüllt war.
Beide – die Hamas und die Hisbollah - streben in ihren Ländern nach
der Macht, das ist ihr Hauptziel. Für beide bedeutet der Kampf gegen
Israel mehr ein Mittel als ein Ziel. Wenn einmal Frieden erreicht
ist, werden sich ihre Energien auf den Kampf nach Macht in ihren
Ländern konzentrieren.
Wird die Hamas Frieden akzeptieren? Sie hat es indirekt so
erklärt: wenn die palästinensische Behörde Frieden machen und das
Friedensabkommen durch ein palästinensisches Referendum ratifiziert
würde, dann würde die Hamas es als Ausdruck des Volkswillen
akzeptieren. Dasselbe gilt für alle islamischen Bewegungen in den
verschiedenen arabischen Länden – mit Ausnahme von al-Qaida und
ähnlichen, die keine nationale politischen Parteien eines Landes
sind, sondern internationale verschwörerische Organisationen.
Mit einem von den Palästinensern frei akzeptierten Friedensvertrag
als die Erfüllung ihrer nationalen Bestrebungen würde jede
Intervention durch andere arabischen Länder überflüssig, wenn nicht
ausgesprochen lächerlich machen. Die Hisbollah, die
Muslimbruderschaft und ähnliche national religiöse Organisationen
werden ihre Bemühungen darauf konzentrieren, innerhalb neuer
demokratischer Strukturen Macht zu erlangen.
Wenn dieses Hindernis beseitigt ist, wird Israel von den arabischen
Massen als das beurteilt, was es in jener Zeit sein wird. Wir
werden die historische Chance haben, an der Neugestaltung der ganzen
Region teilzunehmen. Unsere Taten werden sprechen.
VOR MEHR als 50 Jahren machte der damalige Kronprinz von Marokko
Moulai Hassan, der spätere König Hassan II. einen historischen
Vorschlag: Man sollte Israel einladen, sich der Arabischen Liga
anzuschließen. Zur damaligen Zeit erschien die Idee absonderlich
und wurde bald wieder vergessen . (Abgesehen vom König selbst, der
mich daran erinnerte, als er mich 1981 im Geheimen empfing.)
Mit einer neuen arabischen Welt in Aussicht nimmt diese utopische
Idee heute plötzlich realistische Züge an. Ja, nach einem Frieden
mit dem freien und souveränen Staat Palästina, einem Vollmitglied
der UNO, einer reformierten regionalen Struktur, einschließlich
Israel, vielleicht mit der Türkei und zu gegebener Zeit auch mit
dem Iran, wird sie in den Bereich der Wirklichkeit rücken.
Eine Region mit offenen Grenzen mit blühender Handels- und
Wirtschaftskooperation von Marrakesch bis Mosul, von Haifa bis Aden
innerhalb von ein oder zwei Generationen – ja, das ist eine der
Möglichkeiten, die sich bei den augenblicklichen erdbebenartigen
Ereignissen auftun.
SOLCH EINE Entwicklung würde natürlich einen totalen Wandel bei
unsern grundlegenden Konzepten erforderlich machen, von denen einige
so alt sind wie der Zionismus selbst und vielleicht noch älter.
Es
wird nicht geschehen, so lange unser politisches und
intellektuelles Leben von Leuten wie Netanyahu, Lieberman, Barak,
Eli Yishai, Shimon Peres und ihresgleichen beherrscht wird. Die
politische Bühne muss von diesem ganzen Schwung von Zwergen
gereinigt werden.
Kann das geschehen? Wird dies geschehen? „Realisten“ werden den Kopf
schütteln, wie sie es taten, bevor die Deutschen ihre Mauer
einrissen, bevor Boris Yeltsin auf jenen Panzer kletterte, bevor
die Amerikaner einen afro-amerikanischen Präsidenten wählten,
dessen mittlerer Name Hussein ist.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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