1948
Uri
Avnery, 10.5.08
ICH
HOFFE, dass wir eines Tages „eine Wahrheits- und
Versöhnungskommission“ nach südafrikanischem Vorbild haben werden.
Sie sollte aus israelischen, palästinensischen und internationalen
Historikern zusammengesetzt sein, deren Aufgabe es wäre,
herauszufinden, was sich 1948 in diesem Lande tatsächlich
zugetragen hat.
In
den 60 Jahren, die seitdem vergangen sind, sind die Ereignisse
dieses Krieges unter vielen Schichten israelischer, jüdischer und
arabischer Propaganda begraben worden. Eine quasi-archäologische
Ausgrabung ist notwendig, um die untersten Schichten wieder zutage
zu fördern. Selbst die noch lebenden Augenzeugen, haben Probleme,
zwischen dem, was sie tatsächlich sahen und den Mythen zu
unterscheiden, die die Ereignisse von damals so verdreht und
verfälscht haben, dass sie kaum noch zu erkennen sind.
Ich
bin einer der Augenzeugen. Im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag
haben mich Dutzende von Radio- und Fernsehinterviewern in den
letzten paar Tagen darum gebeten, das zu beschreiben, was wirklich
geschehen ist. Hier sind einige dieser Fragen und meine Antworten
dazu. ( Sollte ich Dinge wiederholen, die ich schon früher
beschrieben habe, dann bitte ich hiermit um Entschuldigung).
- In was unterscheidet sich
dieser Krieg von anderen?
Zunächst einmal war es nicht ein Krieg, sondern zwei Kriege, die
ohne Bruch auf einander folgten.
Zunächst war es ein Krieg, der zwischen Juden und Arabern im Lande
ausgefochten wurde. Er begann am Morgen nach der UN-Vollversammlung
am 29. November 1947, die die Resolution zur Teilung Palästinas in
einen jüdischen und arabischen Staat verkündigte. Dieser Krieg
dauerte bis zur Ausrufung des Staates Israel am 14. Mai 1948. An
jenem Tag begann der zweite Krieg – der zwischen dem Staat Israel
und den benachbarten Ländern, die ihre Armeen in die Schlacht
warfen.
Es
war kein Krieg zwischen zwei Ländern um ein Stück Land zwischen
ihnen, wie die Kriege zwischen Deutschland und Frankreich um das
Elsass. Es war auch kein Bruderkrieg wie der amerikanische
Bürgerkrieg, wo beide Seiten zur selben Nation gehörten. Ich möchte
ihn als einen „ethnischen Krieg“ bezeichnen.
Solch ein Krieg wird zwischen zwei Völkern ausgefochten, die auf
demselben Land leben und die beide das ganze Land für sich
beanspruchen. In solch einem Krieg geht es nicht nur darum, einen
militärischen Sieg zu erringen, sondern auch darum, so viel Land wie
möglich - dies aber ohne die Bevölkerung der anderen Seite
- in Besitz zu nehmen. Genau das geschah, als Jugoslawien
auseinanderbrach und als dabei– keineswegs zufällig – der
hässliche Ausdruck „ethnische Säuberung“ entstand.
- Wäre der Krieg vermeidbar gewesen?
In
jener Zeit hoffte ich bis zum letzten Augenblick, dass er vermieden
werden könne (darüber später). Im Rückblick ist mir
klar geworden, dass es zu diesem Zeitpunkt zu spät war.
Die
jüdische Seite war entschlossen, einen eigenen Staat zu gründen.
Dies war eines der fundamentalen Ziele der zionistischen Bewegung,
die vor 50 Jahren entstanden war. Diese Bestrebung wurde nach dem
Holocaust, der ja erst zwei ein halb Jahre vorher geendet hatte,
um das hundertfache verstärkt.
Die
arabische Seite war entschlossen, die Errichtung eines jüdischen
Staates im Lande, das sie (zurecht) als ein arabisches Land
betrachteten, zu verhindern. Deshalb begannen die Araber den Krieg.
(damals nannte man die Araber im Lande noch nicht „Palästinenser“,
da ja beide Seiten Einwohner Palästinas – also alle Palästinenser -
waren)
- Was habt Ihr, die Juden, gedacht, als Ihr in den
Krieg gingt?
Als
ich mich zu Beginn des Krieges meldete, waren wir vollkommen davon
überzeugt, dass wir vor der Gefahr der Vernichtung standen und dass
wir uns, unsere Familien und die ganze hebräische Gemeinde
verteidigen mussten. Der Satz „Es gibt keine Alternative“ war kein
Slogan, sondern eine tief empfundene Überzeugung. (Wenn ich „wir“
sage, meine ich das Gefühl der jüdischen Gemeinschaft allgemein und
insbesondere das der Soldaten ). Ich denke nicht, dass die arabische
Seite von genau derselben Überzeugung erfüllt war. Das war ihr
Verderben.
Dies erklärt, warum die jüdische Gemeinschaft vom ersten Augenblick
an total mobilisiert war. Wir hatten eine geeinte Führung (selbst
die Irgun und die Sterngruppe akzeptierten ihre Autorität) und eine
geeinte militärische Kraft, die sehr schnell die Eigenschaften
einer regulären Armee annahm.
Auf
der arabischen Seite geschah nichts Derartiges. Sie hatten keine
vereinigte Führung, keine vereinigte arabisch-palästinensische
Armee. Das bedeutet, sie konnte ihre Kräfte nicht an den
entscheidenden Stellen konzentrieren. Wir erfuhren dies aber erst
nach dem Krieg.
- Dachtet Ihr, Ihr wäret die stärkere
Seite?
Überhaupt nicht. Damals waren die Juden nur ein Drittel der
Bevölkerung des Landes. Hunderte von arabischen Dörfern im ganzen
Land beherrschten die Hauptverbindungsstraßen, die für unser
Überleben wichtig waren. Bei unseren Bemühungen, diese Verbindungen
– besonders die Straße nach Jerusalem - offen zu halten, hatten wir
große Verluste. Ehrlich gesagt, empfanden wir es so: „wir wenige
gegen so viele.“
Langsam veränderte sich das Machtverhältnis. Unsere Armee
organisierte sich besser und sammelte Erfahrungen, während die
arabische Seite noch von der „faz’ah“ abhing, der einmaligen
Mobilisierung von lokalen Dorfbewohnern, die nur mit ihren eigenen
alten Waffen ausgerüstet waren. Ab April 1948 erhielten wir große
Mengen leichter Waffen aus der Tschechoslowakei, die uns auf Stalins
Befehl gesandt wurden. Mitte Mai, als wir mit einer Intervention
arabischer Armeen rechneten, waren wir aber schon in Besitz eines
zusammenhängenden Gebietes.
- Mit anderen Worten, Ihr habt die
Araber vertrieben?
Dies war noch keine „ethnische Säuberung“, sondern ein Neben-Produkt
des Krieges. Unsere Seite war auf einen massiven Angriff
arabischer Armeen vorbereitet und konnte keine feindliche
Bevölkerung in unserm Rücken lassen. Diese militärische
Notwendigkeit war natürlich mit der mehr oder weniger bewussten
Tendenz verbunden, ein homogenes jüdisches Territorium zu schaffen.
Im
Laufe der Jahre haben Gegner Israels einen Verschwörungsmythos über
den „Plan Dalet“ geschaffen, als ob dieser die Ursache für die
ethnische Säuberung gewesen wäre. In Wirklichkeit war er ein
militärischer Plan, um ein zusammenhängendes Gebiet unter unserer
Kontrolle zu schaffen, um die entscheidende Konfrontation mit den
arabischen Armeen vorzubereiten.
- Wollen Sie damit sagen, dass es in
diesem Stadium noch keine grundsätzliche Entscheidung gab, alle
Araber zu vertreiben?
Man
muss sich an die politische Situation erinnern: nach der
UN-Resolution sollte der „jüdische Staat“ mehr als die Hälfte
Palästinas umfassen ( so wie es 1947 unter britischem Mandat
bestand). Auf diesem Gebiet war mehr als 40% der Bevölkerung
arabisch. Die arabischen Sprecher vertraten den Standpunkt, es sei
unmöglich, einen jüdischen Staat dort entstehen zu lassen, wo fast
die Hälfte der Bevölkerung arabisch sei und verlangten die
Rücknahme der Teilungsresolution. Die jüdische Seite, die an der
Teilungsresolution festhielt, wollte beweisen, dass es möglich sei.
So gab es einige Bemühungen (z.B. in Haifa), die Araber davon zu
überzeugen, ihre Häuser nicht zu verlassen. Aber die Realität des
Krieges selbst verursachte den Massenexodus.
Es
muss festgestellt werden: In keinem Stadium „flohen die Araber aus
dem Land“. Im allgemeinen geschah es so: im Laufe des Kampfes kam
ein Dorf unter schweren Beschuss. Seine Einwohner – Männer, Frauen
und Kinder – flohen natürlich ins nächste Dorf. Wenn wir auf das
nächste Dorf schossen, flohen sie ins übernächste usw. bis der
Waffenstillstand in Kraft trat und es plötzlich eine Grenze –
die Grüne Linie – zwischen ihnen und ihren Häusern gab. Das Deir
Yassin-Massaker veranlasste andere zur schnellen Flucht.
Selbst die Einwohner von Jaffa verließen das Land nicht –
schließlich war der Gazastreifen, in den sie flohen, ein Teil
Palästinas.
- Wenn dem so ist, wann begann die
„ethnische Säuberung“, von der Sie schon sprachen?
In
der zweiten Hälfte des Krieges, nachdem das Vordringen der
arabischen Armeen gestoppt worden war, wurde eine bewusste Politik
der Vertreibung der Araber ein Kriegsziel für sich.
Um
der Wahrheit willen muss man daran erinnern, dass dies nicht
einseitig war. Nicht viele Araber blieben in den Gebieten, die von
uns erobert wurden. Aber kein Jude blieb in den Gebieten, die von
den Arabern erobert wurden, wie die Kibbuzim im Gush Ezion und das
jüdische Viertel in der Altstadt Jerusalems. Die jüdischen Bewohner
wurden getötet oder vertrieben. Der Unterschied war ein
qualitativer, weil die jüdische Seite große Strecken Land
eroberten. Der arabischen Seite gelang es, nur kleine Landgebiete zu
erobern.
Die
wirkliche Entscheidung kam nach dem Krieg: den 750 000 arabischen
Flüchtlingen nicht zu erlauben, zurückzukehren.
-
Was geschah, als die
arabischen Armeen eingesetzt wurden?
Anfangs sah unsere Situation verzweifelt aus. Die arabischen Armeen
waren reguläre Truppen, gut trainiert (meistens von den Briten), und
sie waren mit schweren Waffen ausgerüstet: mit Kampfflugzeugen,
Panzern und Artillerie, während wir nur leichte Waffen hatten,
Gewehre, Maschinengewehre, leichte Mörsergranaten und einige
unwirksame Antipanzerwaffen. Erst ab Juni erreichten uns schwere
Waffen.
Ich
selbst beteiligte mich am Ausladen der ersten Kampfflugzeuge, die
aus der Tschechoslowakei kamen. Sie waren für die deutsche Wehrmacht
produziert worden. Über unsere Köpfe flogen „deutsche“ Flugzeuge auf
unserer Seite (Messerschmidts) gegen britische Flugzeuge, die von
Ägyptern geflogen wurden ( Spitfires).
-
Warum unterstützte
Stalin die jüdische Seite?
Am
Vorabend der UN-Resolution hielt der sowjetische Vertreter, Andrej
Gromyko, eine leidenschaftliche zionistische Rede. Das direkte Ziel
Stalins war, die Briten aus Palästina zu treiben, wo sie
möglicherweise amerikanische Raketen hätten stationieren können.
Eine zuweilen vergessene Tatsache sollte hier erwähnt werden: die
Sowjetunion war der erste Staat, der Israel nach der Ausrufung des
Staates de jure anerkannt hatte, die USA erkannte damals
Israel nur de facto an.
Stalin kehrte Israel erst dann den Rücken , als dieses sich einige
Jahre später offen dem amerikanischen Block anschloss. Zu jener
Zeit wurde Stalins antisemitische Paranoia offenkundig. Die
Verantwortlichen für Moskaus Politik waren damals der Meinung,
dass es für sie besser wäre, auf den wachsenden arabischen
Nationalismus zu setzen .
-
Was empfanden sie
selbst während des Krieges?
Am
Vorabend des Krieges glaubte ich noch an eine „semitische“
Partnerschaft aller Bewohner des Landes. Einen Monat vor Ausbruch
des Krieges, veröffentlichte ich eine Broschüre „Krieg oder Frieden
in der semitischen Region“, in der ich diese Idee darlegte. Im
Rückblick ist mir klar, dass dies viel zu spät war.
Als
der Krieg ausbrach, schloss ich mich sofort einer Kampfbrigade
(Givati) an. In den letzten Tagen, bevor ich einberufen wurde,
gelang es mir - mit einigen Freunden – noch eine zweite Broschüre
herauszugeben „Von der Verteidigung zum Krieg“, in der ich
vorschlug, den Krieg so zu führen, dass er zu dem erwünschten
Friedensabkommen führt (Ich war sehr vom britischen
Militärkommentator Basil Liddell Hart beeinflusst, der solch einen
Kurs während des 2. Weltkrieges verfolgte).
Meine Freunde jener Zeit versuchten, mich davon zu überzeugen, mich
nicht bei der Armee zu melden. So könnte ich für die Aufgabe frei
bleiben, die viel wichtiger wäre, und meine Meinung während des
Krieges äußern. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht Recht hatten –
dass der Platz eines jeden anständigen jungen und gesunden Mannes in
solch einer Zeit bei den Kampftruppen ist. Wie hätte ich zu Hause
bleiben können, wenn Tausende meiner Altersgruppe Tag und Nacht
ihr Leben riskierten? Und außerdem, wer würde schon auf meine Stimme
hören, wenn ich in solch einem entscheidenden Augenblick unserer
nationalen Existenz nicht meine Pflicht erfüllen würde?
Zu
Beginn des Krieges war ich ein gemeiner Infanteriesoldat und
kämpfte um die Straße nach Jerusalem. In der zweiten Hälfte diente
ich in der motorisierten Kommandoeinheit „Samsons Füchse“ an der
ägyptischen Front. Das erlaubte mir, den Krieg von vielen
verschiedenen Punkten zu erleben.
Während des Krieges schrieb ich meine Erfahrungen auf. Meine
Berichte erschienen in den Zeitungen und wurden später in einem
Buch mit dem Titel zusammengefasst: „In den Feldern der Philister,
1948“ . Der militärische Zensor erlaubte mir nicht, Negatives zu
äußern. Deshalb schrieb ich direkt nach dem Krieg ein zweites Buch
„Die Kehrseite der Medaille“ , als literarisches Werk getarnt,
damit ich mich der Militärzensur entziehen konnte. Dort berichtete
ich unter anderem, dass wir Befehle erhalten hatten, jeden Araber
zu töten, der versuchte, zu seinem Haus zurückzukehren.
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Was lehrte Sie der
Krieg?
Die
Brutalitäten, derer ich Zeugen wurde, machten mich zu einem
überzeugten Friedensaktivisten. Der Krieg lehrte mich, dass es ein
palästinensisches Volk gibt und dass wir niemals Frieden erlangen
werden, wenn es nicht einen palästinensischen Staat neben unserm
Staat geben wird. Dass dies noch nicht geschehen ist, ist einer der
Gründe, dass der Krieg von 1948 bis zum heutigen Tag weitergeht.
(Aus dem Englischen Ellen Rohlfs/
Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
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