Nasser
und ich
Uri Avnery, 3.Oktober 2015
VOR 45 JAHREN
starb Gamal Abd-al-Nasser im frühen Alter von 52 Jahren. Es ist kein
Ereignis der Vergangenheit. Es hat einen riesigen Einfluss auf die
Gegenwart und wird diesen wahrscheinlich weiter auch auf die
Zukunft haben.
Mein Zusammentreffen
mit ihm geht ins Jahr 1945 zurück. Ich pflegte zu scherzen, dass
„wir einander sehr nah waren, aber wir haben uns nicht rechtzeitig
vorgestellt.“
Es geschah so: Im
Juli 45 versuchten wir verzweifelt, den Vormarsch der ägyptischen
Armee auf Tel Aviv zu stoppen. Der Eckstein unserer Front war ein
Dorf mit Namen Negba. An einem Abend wurde uns mitgeteilt, dass eine
ägyptische Einheit uns die einzige Straße zu diesem Kibbuz
abgeschnitten und sich auf der andern Seite dort eingegraben hat.
Die Kompanie, zu der
ich gehörte, war eine mobile Kommando-Einheit mit Jeeps von denen
jedes mit zwei Maschinengewehren bewaffnet war. Wir hatten den
Befehl, die Position zu stürmen und sie um jeden Preis zu erobern.
Es war eine verrückte Idee – man verwendet keine Jeeps, um
eingegrabene Soldaten anzugreifen. Aber die Kommandeure waren auch
verzweifelt.
Also fuhren wir in
der Dunkelheit die schmale Straße entlang, bis wir die ägyptische
Position erreichten, und wurden mit mörderischem Feuer empfangen.
Wir zogen uns zurück. Aber dann schloss sich uns der
Bataillon-Kommandeur an und leitete einen anderen Angriff. Dieses
Mal überrannten wir buchstäblich die Ägypter, ja fühlten menschliche
Körper unter unsern Rädern. Die Ägypter flohen. Ihr Kommandant wurde
verletzt. Wie ich später herausfand, war es ein Major mit Namen
Gamal Abd-al-Nassar.
Danach wandte sich
das Kriegsglück. Wir bekamen die Oberhand und umzingelten eine ganze
ägyptische Brigade. Ich war ein Teil des belagernden Militärs und
wurde schwer verletzt. Auf der andern Seite war Major
Abd-al-Nassar.
VIER JAHRE
später rief mich Ginger sehr aufgeregt an. „Ich muss dich sofort
treffen“, sagte er mir.
Gingi ist der
hebräische Slangausdruck für Gingerhead, wie die Briten einen
Rothaarigen nennen. Dieser besondere Rotschopfige war ein kleiner,
sehr dunkler Jemenite. Er wurde mit diesem Spitznamen genannt, weil
er sehr schwarzes Haar hatte – das war die Art unseres Humors.
Der Gingi –( sein
tatsächlicher Name war Yerucham Cohen) hatte während des Krieges
als Adjudant des Kommandeurs der Südfront, Yigal Alon, gedient.
Während des Kampfes war eine kurze Feuerpause eingelegt worden, um
beiden Seiten zu ermöglichen, die Toten und Verletzten, die zwischen
den Linien lagen, herauszuholen. Der Gingi, der ausgezeichnet
arabisch sprach, wurde gesandt, um mit dem Emissär der
eingekesselten Brigade zu verhandeln.
Wie es manchmal
geschieht, bildete sich bei den Begegnungen eine Freundschaft
zwischen den beiden Männern. Einmal, als der Ägypter sehr
niedergeschlagen war, versuchte Gingi ihn zu trösten und sagte: „
Verzweifle nicht, Gamal, du wirst hier lebend herauskommen und
Kinder haben!“
Die Prophezeiung
wurde erfüllt. Der Krieg war zu Ende; die umzingelte Brigade kehrte
nach Kairo zurück. Yerucham wurde zum Mitglied einer
israelisch-ägyptischen Waffenstillstands-Kommission ernannt. Eines
Tages erzählte ihm sein ägyptischer Gesprächspartner: „ Ich wurde
von meinem Oberstleutnant Abd-al-Nasser gebeten, dir zu sagen, dass
ihm ein Sohn geboren worden sei.“
Yerucham kaufte einen
Babyanzug und beim nächsten Treffen gab er diesen seinem Kollegen.
Nasser schickte seinen Dank zurück: eine Mischung von Gebäck vom
berühmten Groppi-Cafe in Kairo.
IM SOMMER
1952 rebellierte die ägyptische Armee und in einem unblutigen Coup
sandte der Playboy König Faruk weg. Der Coup wurde von einer Gruppe
„Freier Offiziere“ angeführt, geleitet von einem 51 jährigen
General. Muhammad Naguib.
Ich veröffentlichte
in meinem Magazin an die Offiziere. eine Gratulation .
Als ich Gingi traf,
sagte er mir. „Vergiss Naguib. Er ist nur ein Strohmann. Der
wirkliche Führer ist ein Bursche mit Namen Nasser!“ Mein Magazin
hatte also einen Sensationsbericht – lange bevor jemand in der Welt
wusste, verrieten wir, dass der wirkliche Führer ein Offizier mit
Namen Abd-al-Nassar war.
(Ein Wort über
arabische Namen: Gamal ist ein Kamel, ein arabisches Symbol für
Schönheit. Ad al Nasser – ausgesprochen Abd-an-Nassar – bedeutet
„Diener von (Allah) dem Siegreichen“. Indem wir den Mann nur
Nasser nannten, wie wir es alle taten, verliehen wir ihm einen der
99 Namen Allahs.)
Als Nasser offiziell
der Führer wurde, verriet mir Yerucham ein großes Geheimnis, dass er
gerade eine erstaunliche Einladung erhalten hat. Nasser hatte ihn
privat eingeladen, ihn in Kairo zu besuchen.
„Geh!“ bat ich ihn
inständig. „Dies könnte eine historische Öffnung sein!“
Aber Yerucham war ein
gehorsamer Bürger. Er bat das Außenamt um Erlaubnis. Der Minister
Moshe Sharett , die bekannte Friedenstaube, verbat ihm, die
Einladung anzunehmen. „Wenn Nasser mit Israel zu reden wünscht, muss
er sich ans Auswärtige Amt wenden,“ wurde Yerucham gesagt. Das war
natürlich das Ende der Sache.
NASSER WAR
ein neuer Typ eines Arabers, groß, gut aussehend, charismatisch,
ein faszinierender Redner. David Ben Gurion, der schon alt geworden
war, fürchtete ihn und beneidete ihn vielleicht. Also schmiedete er
mit den Franzosen ein Komplott, um ihn abzusetzen.
Nach einem kurzen
freiwilligen Exil in einem Kibbuz, kehrte Ben Gurion 1955 auf seinen
Posten als Verteidigungsminister wieder zurück. Das erste, was er
tat, war ein Angriff auf die ägyptische Armee in Gaza. Nach einem
Plan oder durch ein Versehen wurden viele ägyptische Soldaten
getötet. Nasser - wütend und gedemütigt –wandte er sich an die
Sowjets und erhielt große Schiffsladungen mit Waffen. Ben Gurion
reagierte dadurch, dass er ein enges Bündnis mit den US knüpfte, das
bis heute andauert.
Seit 1954 stand
Frankreich einem Befreiungskrieg der Algerier gegenüber. Sie
konnten sich nicht vorstellen, dass die Algerier aus freiem Willen
sich gegen Frankreich erheben werde. Sie klagten Nasser an, sie
aufzuhetzen. Die Briten schlossen sich dem Klub an, weil Nasser die
Britisch-Französische Gesellschaft, die für den Suezkanal
verantwortlich war, verstaatlichte.
Das Ergebnis war 1956
das Suez-Abenteuer. Israel griff die ägyptische Armee in der
Sinai-Wüste an, während die Franzosen und die Briten in ihrem Rücken
landeten. Der ägyptischen Armee, nun praktisch umzingelt, wurde
befohlen, so schnell wie möglich umzukehren. Einige Soldaten ließen
sogar ihre Stiefel zurück. Israel war von dem überwältigenden Sieg
wie betrunken.
Aber die Amerikaner
waren ärgerlich, so auch die Sowjets. Der US-Präsident Eisenhower
und der sowjetische Präsident Bulgarin erließen Ultimatums und die
drei konspirierenden Mächte, mussten sich sofort zurückziehen.
„Ike“ war der letzte amerikanische Präsident, der es wagte, mit
Israel und den US-Juden sich anzulegen.
Übernacht wurde
Nasser der Held der ganzen arabischen Welt. Seine Vision einer
Pan-arabischen Nation war in Reichweite. Die Palästinenser, ihrer
eigenen Heimat beraubt und zwischen Israel, Jordanien und Ägypten
aufgeteilt, sahen ihre Zukunft in solch einer gemeinsamen Nation und
verehrten Nasser.
In Israel wurde
Nasser der größte Feind, der Teufel in Person. Er wurde offiziell
und in allen Medien als „der ägyptische Tyrann“ und häufig als
„der zweite Hitler“ bezeichnet. Als ich vorschlug, mit ihm Frieden
zu schließen, hielten mich die Leute für verrückt.
ABGEHOBEN DURCH
seine immense Popularität in der ganzen arabischen Welt und darüber
hinaus, tat Nasser eine törichte Sache. Als der israelische
Stabschef Yitzhak Rabin den Syrern mit einer Invasion drohte, sah
Nasser darin einen einfachen Weg, seine Führung zu zeigen. Er warnte
Israel und sandte seine Armee in die entmilitarisierte Sinai-Wüste.
Jeder in Israel hatte
Angst. Jeder –außer mir ( und der Armee). Ein paar Monate vorher
wurde ich in ein Geheimnis eingeweiht, das ein führender
israelischer General Freunden anvertraut hatte: Ich bete jede Nacht,
dass Nasser seine Armee in den Sinai sendet. Dort werden wir sie
zermalmen!“
Und so geschah es. Zu
spät realisierte Nasser, dass er in eine Falle getappt war (Wie mein
Magazin es in seiner Schlagzeile ankündigte). Um das Unglück
abzuwehren, publizierte er Furcht einflößende Drohungen: „ Israel
ins Meer zu werfen“ und sandte einen hochrangigen Gesandten nach
Washington, die US-Regierung darum zu bitten, Israel zu stoppen.
Zu spät. Nach viel
Zögerung und extra erhaltener Genehmigung von Henry Kissinger griff
die israelische Armee an und zerrieb die ägyptischen, jordanischen
und die syrischen Kräfte innerhalb von 6 Tagen. (1967)
Das hatte zwei
historische Ergebnisse (a) Israel wurde zur Kolonialmacht und (b)
das Rückgrat des Pan-arabischen Nationalismus war gebrochen.
NASSER BLIEB
noch drei Jahre an der Macht – ein Schatten seiner selbst.
Offensichtlich dachte er nach.
Eines Tages bat mich
mein französischer Freund, der berühmte Journalist Eric Rouleau,
dringend, nach Paris zu kommen - ein in Ägypten geborener Jude, der
für die repräsentative französische Zeitung „Le Monde“ arbeitete,
war mit der ägyptischen Elite bekannt. Er sagte mir, dass Nasser ihm
gerade ein langes Interview gegeben hätte. Wie abgemacht
übermittelte er den Text an Nasser zur Bestätigung. Nach einiger
Durchsicht strich Nasser einen wichtigen Teil aus: ein Angebot an
Israel, Frieden zu machen. Es war im Wesentlichen das Angebot, das
die Grundlage für das Sadat-Begin-Friedensabkommen neun Jahre
später bildete.
Aber Rouleau hatte
das volle Interview auf seinem Tonband. Er bot mir den Text an,
damit ich ihn der israelischen Regierung unter totaler
Verschwiegenheit geben konnte.
Ich eilte nach Hause
und rief ein zentrales Mitglied der israelischen Regierung an. Der
Finanzminister Pinchas Sapir, der als das sanfteste Mitglied des
Kabinetts galt. Er empfing mich auch gleich, lauschte dem, was ich
zu sagen hatte, und zeigte nicht das geringste Interesse. Ein paar
Tage später, während der Schwarzen-September-Krise in Jordanien
starb Nasser plötzlich.
MIT IHM
starb die Vision des Pan-arabischen Nationalismus‘. Die Wiedergeburt
der arabischen Nation unter der Flagge einer europäischen Idee
stützte sich auf einen rationalen säkularen Gedanken.
Ein spirituelles und
politisches Vakuum wurde in der arabischen Welt geschaffen. Aber die
Natur toleriert - wie wir alle wissen - keine leeren Räume.
Mit dem toten Nassar
und nach dem gewalttätigen Ende seines Nachfolgers und Imitatoren
Sadat, Mubarrak, Gaddafi und Saddam lud das Vakuum eine neue Kraft
ein: den salafistischen Islamismus.
Ich habe in der
Vergangenheit viele Male gewarnt, falls wir Nasser und den
arabischen Nationalismus zerstören, würden religiöse Kräfte nach
vorne kommen. Statt eines Kampfes zwischen rationalen Feinden, die
einen vernünftigen Frieden schließen können, wird es zum Beginn
eines religiösen Krieges kommen, der per definitionem irrational
sein wird und keinen Kompromiss erlaubt.
Genau hier sind wir
jetzt. Anstelle von Nasser haben wir jetzt DAESH =IS. Anstelle der
arabischen Welt, die von einem charismatischen Führer geleitet
wurde, der den arabischen Massen überall einen Sinn für Würde und
Erneuerung gab, stehen wir jetzt einem Feind gegenüber, der das
öffentliche Köpfen rühmt und uns ins 7.Jahrhundert zurückbringt.
Ich gebe der
israelischen und amerikanischen politischen Blindheit und reinen
Dummheit die Schuld für diese Entwicklung. Ich hoffe, uns bleibt
noch genug Zeit, um dies rückgängig zu machen
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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