Vanunu: Das
schreckliche Geheimnis
Uri Avnery, 24.4.04
In der Dunkelheit
eines Kinosaales hört man eine Frauenstimme: „He! Nimm deine Hände weg!
Nicht du! Du!“
Dieser alte Witz
illustriert die amerikanische Politik, wenn es sich um Atomwaffen im Nahen
Osten handelt. „He, ihr da, der Irak, der Iran und Libyen macht Schluss
damit! Nein, Israel, du nicht!“
Die Gefahr der Atomwaffen
war der Hauptvorwand für den Einfall im Irak. Der Iran wird bedroht,
um ihn zu zwingen, seine nukleare Aufrüstung zu stoppen. Libyen hat
aufgegeben und ist dabei, seine nuklearen Installationen zu demontieren.
Und wie ist es mit
Israel?
In der vergangenen Woche
wurde klar, dass die Amerikaner bei der Schaffung von Israels
„nuklearer Optionen“ volle Partner sind.
Wie wurde dies entlarvt?
Mit der Hilfe von Mordechai Vanunu natürlich.
Während der Woche fand
rund um den Gefangenen, der am Mittwoch entlassen wurde, ein Festival
statt.
Das
Sicherheitsestablishment hörte nicht auf, ihn zu schikanieren, selbst dann
nicht, nachdem er 18 Jahre im Gefängnis saß, 11 davon in vollständiger
Einzelhaft – eine Behandlung, die er nach der Entlassung als „grausam und
barbarisch“ beschrieb. Nach seiner „Entlassung“ wurden ihm strenge
Beschränkungen auferlegt. ( Es ist ihm verboten, das Land zu verlassen, er
darf sich nur in einer Stadt aufhalten, darf nicht in die Nähe von
Botschaften oder Konsulate gehen, darf nicht mit Ausländern reden, darf
kein Handy benützen und nicht im Internet surfen ) All diese
Beschränkungen beruhen auf Notstandsbestimmungen aus der britischen
Kolonialzeit, die von den Führern der jüdischen Gemeinschaft damals
„schlimmer als die Nazigesetze“ verurteilt wurden.
Beschränkungen? -
Gott bewahre – nicht etwa wegen Rachegelüsten.
Die Sicherheitsdienste
erklären von jedem Podium, dass dies keine Rache für die Blamage sei, die
Vanunu den Sicherheitsdiensten zugefügt habe. Es sei auch keine weitere
Verfolgung, sondern im Wesentlichen eine Sicherheitsmaßnahme. Es darf
ihm nicht erlaubt werden, das Land zu verlassen oder mit Ausländern zu
sprechen, weil er im Besitz von Geheimnissen sei, die die vitale
Sicherheit des Staates gefährdeten.
Man kann sich denken,
dass er keine Geheimnisse mehr hat. Was kann ein Techniker nach 18 Jahren
Gefängnis noch wissen, während der die Technologie sich mit
Riesenschritten weiterentwickelte?
Doch nach und nach wird
deutlich, wovor sich das Sicherheitsestablishment wirklich fürchtet.
Vanunu ist in der Lage,
die enge Partnerschaft mit den USA bei der Entwicklung von Israels
nuklearer Rüstungsindustrie aufzudecken.
Dies beunruhigt
Washington so sehr, dass die im Außenministerium verantwortliche Person
für „Waffenkontrolle“, der Unterstaatssekretär John Bolton, aus diesem
Anlass höchst persönlich nach Israel kam. Vanunu scheint der riesigen
Supermacht schweren Schaden zufügen zu können. Aber die Amerikaner wollen
nicht so wie die Dame im dunklen Kinosaal erscheinen.
(Übrigens ist dieser
Bolton ein leidenschaftlicher Unterstützer der zionistischen
Neo-Konservativen, die eine zentrale Rolle im Bush-Theater spielen. Er
widersetzt sich der Waffenkontrolle der USA und seiner Satellitenstaaten
und wurde selbst gegen den Wunsch des Außenministers im Außenministerium
angestellt).
In der kurzen Ansprache,
die Vanunu direkt nach seiner Entlassung gegenüber den Medien halten
konnte, machte er eine seltsame Bemerkung: die junge Frau, die vor 18
Jahren als Köder für seine Entführung diente, war keine
Mossad-Agentin, wie allgemein vermutet wurde, sondern eine Agentin FBI
oder des CIA. Warum war es für ihn so wichtig, dies zu enthüllen?
Vom ersten Augenblick an
gab es um die ganze Vanunu-Affäre etwas Seltsames.
Mein erster Gedanke war,
dass er ein Mossad-Agent sei. Alles deutete darauf hin.
Denn, wie kann man die
Tatsache erklären, dass es einem einfachen Techniker gelungen war, einen
Fotoapparat in die geheimste und geschützteste Einrichtung Israels zu
schmuggeln und, ohne anscheinend daran gehindert zu werden, Aufnahmen zu
machen? Wie kann man erklären, dass jene Person als Student der Be’er
Sheva Universität bekannt war, zur extremen Linken zu gehören und
seine freie Zeit mit arabischen Studienkollegen verbrachte? Wie
konnte man ihm erlauben, mit Hunderten von Photos, das Land zu verlassen?
Wie konnte er zu einer britischen Zeitung gelangen und britischen
Wissenschaftlern Material übergeben, das sie davon überzeugte, dass Israel
200 Atombomben hat?
Ist das nicht absurd?
Aber es ist logisch für den, der vermutet, dass Vanunu von Anfang an im
Auftrag des Mossad handelte. Seine Enthüllungen gegenüber der britischen
Zeitung verursachten der israelischen Regierung nicht nur keinen
Schaden, sondern im Gegenteil, stärkten Israels Abschreckung ohne Zutun
der Regierung, die weiterhin in der Lage war, alles abzuleugnen.
Was folgte, verstärkte
nur die Vermutung. Während er in London mitten in der Kampagne der
Enthüllungen war und wusste, dass ein halbes Dutzend Geheimdienste jede
seiner Bewegungen beobachtete, begann er eine Affäre mit einer fremden
Frau, wurde dazu verführt, mit ihr nach Rom zu kommen, wo er gekidnappt
und nach Israel transportiert wurde.
Wie naiv kann man sein?
Kann eine vernünftige Person, in solch eine primitive Falle geraten?
Natürlich nicht. Das bedeutet, dass die ganze Sache nichts anderes
als ein klassisches Täuschungsmanöver war.
Aber als die Geschichte
weiterging und die Einzelheiten der jahrelangen täglichen Misshandlungen
des Mannes bekannt wurden, musste ich die erste Theorie aufgeben. Ich
musste mich der Tatsache stellen, dass unsere Sicherheitsdienste noch
dümmer waren, als ich vermutet hatte ( ich konnte nicht glauben, dass dies
möglich sei.) und dass all dies tatsächlich geschehen war und dass
Mordechai Vanunu eine aufrichtige und idealistische, wenn auch ziemlich
naive Person war.
Ich zweifle nicht daran,
dass seine Persönlichkeit von seinem familiären Hintergrund geprägt war.
Er kam aus einer kinderreichen Familie, der es in Marokko einigermaßen gut
ging, aber in Israel in einem primitiven „Übergangslager“ lebte, bevor sie
nach Be’er Sheva zog und dort in armen Verhältnissen lebte. Trotzdem
gelang es ihm, an die Universität zu kommen und seinen Magister zu
machen, durchaus eine Leistung. Er litt aber anscheinend an der anmaßenden
Haltung und den Vorurteilen seiner aschkenasischen Kollegen. Das brachte
ihn zweifellos in extrem linke Kreise, wo solche Vorurteile nicht
herrschten.
Der Haufen
„Sicherheitskorrespondenten“ und anderer Kommentatoren, die an den Eutern
des Sicherheitsestablishments hängen, haben schon verbreitet, dass Vanunu
„alle möglichen Dinge phantasiert“ - was mit der langen Einzelhaft
zusammenhinge - er selbst aber sei davon überzeugt. Nun neige
er dazu, „alle Arten von Märchen zu erfinden“. Das bedeutet wohl die
amerikanische Verbindung.
Auf diesem Hintergrund
kann man plötzlich all die scharfen Beschränkungen verstehen, die auf den
ersten Blick absolut idiotisch aussehen. Die Amerikaner jedenfalls sind
sehr beunruhigt. Die israelischen Sicherheitsdienste müssen nach ihrer
Pfeife tanzen. Mit allen verfügbaren Mitteln muss verhindert werden, dass
die Welt von den Lippen eines glaubwürdigen Zeugen vernimmt, dass
die Amerikaner volle Partner beim Atomwaffenprogramm Israels sind, während
sie behaupten, der Weltpolizist zu sein, der die Weiterverbreitung der
Atomwaffen verhindert.
Und die Dame schrie: „
Nicht du! Du!“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Alle deutschen Texte von
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