„Nicht genug!“
Uri Avnery, 14. Juli 2018
DER STAAT ISRAEL hat
keine Ölquellen. Er hat keine Goldminen. Was hat er bekommen? Er ist
Besitzer der Erinnerung an den Holocaust.
Dies ist eine Menge
wert. Jeder, der sich selbst von den Blutflecken reinigen möchte,
braucht eine Unbedenklichkeitserklärung vom Staat Israel. Solch ein
Dokument ist sehr viel wert. Und je größer die Schuld des
Antragsstellers ist, umso größer ist der Preis der Dispensation.
Woran erinnert dies?
WÄHREND VIELER
Jahrhunderte verkaufte die katholische Kirche „Absolutionen“. Das
waren Dokumente, die vom Papst und den Kardinälen ausgegeben
wurden, die ihnen erlaubte, religiöse Pflichten zu erteilen oder
von der Kirche verbotene Dinge zu tun.
Der berüchtigtste
Fall ist der von Heinrich VIII. König von England. Der Papst gab ihm
eine Absolution, die ihm erlaubte, eine spanische Prinzessin zu
heiraten, obwohl sie eine ferne Familienverbindung mit ihm hatte, im
Gegensatz zu einem Kirchengesetz. Aber als er sich von ihr trennen
wollte, um die Tochter eines englischen Edelmannes zu heiraten,
verweigerte der Papst ihm die nötige Absolution. Die Folge war die
Trennung (Englands) von der katholischen Kirche und die Entstehung
der unabhängigen Kirche von England, in der der König (oder die
Königin) als eine Art Papst handelt.
Das Problem war, dass
in jener Zeit das Vergeben von Absolutionen ein erstklassisches
Geschäft war, von dem der Papst und Priester reich wurden. Diese
Situation veranlasste die Rebellion Martin Luthers und die anderer
Reformatoren, die unabhängige neue Kirchen gründeten.
DIE FÜHRER Israels,
geführt von Benjamin Netanjahu, handeln jetzt wie der Papst in
früheren Zeiten. Sie verkaufen Holocaust-Absolutionen.
Netanjahu erfand das
Geschäft nicht. Er erbte es von seinen Vorgängern. Es begann mit
David Ben Gurion, bald nach dem Ende des 2. Weltkrieges, als er mit
dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer ein Geschäft machte.
Ben-Gurion erklärte, dass es ein „neues Deutschland“ gibt, das total
koscher ist, und genau dafür zahlten die Deutschen dem Staat Israel
drei Milliarden DM als Wiedergutmachung sowie individuelle Pensionen
an Holocaust-Überlebende.
Auch ich erhielt eine
kleine Summe für „Bildungsverlust“ und meine Eltern erhielten eine
monatliche Pension, die den Rest ihres Lebens erträglich machte.
In den Augen von
Ben-Gurion war dies eine rein wirtschaftliche Sache. Der neue Staat
Israel war bankrott. Die deutschen Wiedergutmachungsgelder halfen
ihm in den ersten Jahren zu überleben.
Aber hinter dem
Geschäft gab es eine andere verborgene Entscheidung. Israel ist -
weithin bekannt als ein „Jüdischer Staat“. Die Regierung Israels
trägt zwei Kronen: Es ist die Regierung eines souveränen Staates und
sie ist der Führer einer weltweiten jüdischen Diaspora. Die
ideologische Annahme ist, dass diese zwei Aufgaben ein und dieselbe
ist.
Doch dies ist eine
Fiktion. Von Zeit zu Zeit gibt es eine Sache, die eine Divergenz
zwischen den Interessen Israels und jenen der Diaspora gibt. Bei all
diesen Gelegenheiten werden die Interessen Israels bevorzugt.
SOLCH EINE Situation
hat sich jetzt ergeben.
Benjamin Netanjahu,
König von England und Kaiser des jüdischen Volkes, hat ein
gemeinsames Statement mit der polnischen Regierung unterschrieben,
das tatsächlich klärt, dass das polnische Volk von aller
Verantwortung für den Holocaust freispricht. Es verurteilt mit
demselben Atemzug den Antisemitismus und den Anti-Polenismus.
Das Dokument ließ
einen Sturm aufkommen, vor allem um zwei Fragen: 1. Stimmt es? Und
2. Warum unterzeichnete Netanjahu dies?
Die zweite Frage ist
leichter zu beantworten: Netanjahu fühlt eine tiefe Verwandtschaft
mit den Regimen in Osteuropa, die einen neuen Block bilden, der von
Polen geleitet wird, und der auch Ungarn, die Tschechei und die
Slowakei einschließt.
Alle diese Regime
sind extrem rechts, fast totalitär, gegen die Flüchtlinge. Man
könnte sie beinahe Faschisten nennen.
Im gegenwärtigen
Europa, sind sie alle in Opposition zur Führung von Kanzlerin Angela
Merkel und ihren Verbündeten, die mehr oder weniger liberal sind,
Flüchtlinge willkommen heißen und die israelische Besatzung der
palästinensischen Gebiete und die israelischen Siedlungen
verurteilen. Netanjahu glaubt, dass seine Verbindung mit der
europäischen Opposition die Merkelanhänger abschreckt.
Die jüdischen
Institutionen in der ganzen Welt sehen dies in einem vollständig
anderen Licht. Sie erinnern sich, dass diese extrem rechten Parteien
die Nachkommen der pro-Nazi-Parteien der Hitler-Periode sind. Für
sie ist Netanjahus Zynismus ein Verrat an den jüdischen Opfern des
Holocaust.
EINE WEIT wichtigere
Frage ist: ist das gemeinsame Statement wahr?
In Israel wird
Netanjahus pro-polnisches Statement auch weithin verurteilt. Der
Hass auf Polen sitzt viel tiefer als der Hass auf Deutschland. Es
ist eine lange und komplizierte Geschichte.
Vor dem Holocaust war
Polen die Heimat für die größte jüdische Gemeinde in der Welt. Nur
wenige Juden fragten sich jemals: Warum? Wie kommt das?
Die einfache
(vergessene) Wahrheit ist, dass jahrhundertelang Polen das
progressivste Land Europas war. Während Juden in den meisten andern
Ländern – einschließlich England, Frankreich und Deutschland -
verfolgt, getötet und vertrieben wurden, wurden sie vom polnischen
König Kasimir im 14. Jahrhundert mit offenen Armen willkommen
geheißen. Ein König hatte eine jüdische Geliebte, edle Landbesitzer
benützten Juden als Manager ihres Besitzes; Juden fühlten sich
beschützt.
Im Laufe der Zeit
änderte sich dies vollständig. Die Polen ärgerten sich über die
große Minderheit in ihrer Mitte, die anders aussah und sich anders
kleidete, eine andere Sprache sprach (Jiddisch) und eine andere
Religion hatte. Sie ärgerten sich auch über die wirtschaftliche
Konkurrenz. Während langer Zeiten der Vorherrschaft und
Unterdrückung durch Russland und andere Nachbarn wurden Polen extrem
nationalistisch und dieser Nationalismus schloss die Juden aus. Der
Antisemitismus wurde eine starke Kraft.
Die jüdische Antwort
war ein tief sitzender Hass gegenüber Polen und alles Polnische.
Der Überfall der
Nazis auf Polen schuf eine sehr komplizierte Situation. Für die
meisten Juden ist es klar, dass die Polen mit den Nazis bei der
Vernichtung der Juden mitgearbeitet haben. Es war normal, über die
polnischen Vernichtungslager zu sprechen.
Dies machte die Polen
wütend. Sie erließen ein neues Gesetz, dass die Anwendung dieser
und ähnlicher Ausdrücke zu einer Straftat wurde.
Als Netanjahu also
ein Statement unterzeichnete, das Polen von jeder Verantwortung für
die Vernichtung der Juden in Polen freispricht, verursachte dies in
Israel und in der ganzen jüdischen Welt einen Sturm der Entrüstung.
Vor einem Dutzend
Jahren besuchte ich das erste Mal Polen. Es war ein Teil meiner
Nachforschung für mein hebräisches Buch „Lenin lebt nicht mehr
hier“, das die Situation in Russland und mehreren andern Ländern
unmittelbar nach dem Fall des Kommunismus beschrieb.
Kein Land überraschte
mich so wie Polen. Ich erfuhr, dass während der Nazi-Besatzung es
nicht nur eine, sondern zwei Untergrund-Organisationen gab, die
gegen die Nazis kämpften. Millionen von christlichen Polen wurden so
außer den Juden von den Nazis exekutiert.
(Als wir nach Israel
zurückkehrten, hörte meine Frau Rachel, die mich auf der Reise
begleitete, eine Ladenbesitzerin in Tel Aviv polnisch spreche n.
„Wusstest Du, dass die Deutschen auch drei Millionen Polen getötet
haben?“ unterbrach sie noch immer unter dem Einfluss von dem, was
sie in Polen gehört hatte. „Nicht genug!“ erwiderte die
Ladenbesitzerin.)
Während des
Holocausts kam die erste verlässliche Information über die
Vernichtungslager, die die westlichen Verbündeten und die jüdische
Institution erreichten, von der polnischen Exil-Regierung in London.
Tausende von Polen wurden in Israel dafür ausgezeichnet, dass sie
Juden zu überleben halfen, wobei sie oft ihr eigenes Leben und das
ihrer Familie riskierten.
Es stimmt, dass viele
andere Polen den Deutschen halfen, Juden zu töten, wie es lokale
Leute in all den Ländern unter der Nazi-Herrschaft taten. Auch
unmittelbar nach dem Ende der Nazi-Besatzung gab es mindestens ein
lokales Pogrom. Aber da gab es keine polnischen „Quislinge“.
Verglichen mit den andern besetzten Völkern kamen die Polen ziemlich
gut weg.
Warum waren die
Konzentrationslager in Polen? Weil dort der Großteil der Juden lebte
und weil es so leicht war, die Juden aus andern Ländern dorthin zu
bringen. Aber es gab keine „polnischen KZs“.
Es gibt in
Netanjahus-Polen-Statement einige Übertreibungen. Zum Beispiel die
Erwähnung von Antisemitismus und anti Polenismus – was immer dies
bedeutet – in einem Satz. Aber sicherlich verdient dies nicht den
Sturm, den es in Israel auslöste.
VOR EINIGEN Jahren
las ich eine kurze Geschichte eines israelischen Schriftstellers. Er
beschrieb die Invasion eines mongolischen Volkes in den Nahen Osten.
Dies hatte einen zwanghaften Hass auf Araber. Die Besatzer baten die
Juden darum, ihnen beim Vernichten der Araber zu helfen und
versprachen ihnen alle Arten von Vorteilen.
Wie viele taten dies?
Was würdest DU getan haben?
(dt. Ellen Rohlfs und
vom Verfasser autorisiert)
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