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Der große Graben
Uri Avnery
23. Juli 2016
Der Staat Israel war noch
jung, als zwei berühmte Komödianten eine kurze Show produzierten:
Zwei Araber stehen am Strand und verfluchen ein Boot, das neue
jüdische Einwanderer trägt.
Als Nächstes stehen zwei der neuen Einwanderer am Strand und
verfluchen ein Boot, das neue Einwanderer aus Polen trägt.
Als Nächstes stehen zwei Einwanderer aus Polen am Strand und
verfluchen ein Boot, das neue Einwanderer aus Deutschland trägt.
Als Nächstes stehen zwei Einwanderer aus Deutschland am Strand und
verfluchen ein Boot, das neue Einwanderer aus Nordafrika trägt.
Und so weiter…
Vielleicht ist das die Geschichte aller Einwanderer-Länder, wie die
USA, Kanada und anderer. Aber in Israel mit einer nationalistischen
Ideologie, die alle Juden einschließt (und alle anderen
ausschließt), ist diese ein Bisschen abwegig.
DIE NEUE Jüdische Gemeinde ( „der Jischuv“ genannt) in dem, was
damals Türkisch-Palästina, war, wurde hauptsächlich von Einwanderern
aus Russland gegründet.
Davor gab es eine kleine jüdische Gemeinde, die aus ultra-orthodoxen
Juden aus Osteuropa bestand, und eine andere kleine Gemeinde
sephardischer Juden. Sie waren Nachkommen von Juden, die aus Spanien
(in Hebräisch: Sepharad) im frühen 15. Jahrhundert vertrieben worden
waren. Viele von ihnen waren ziemlich wohlhabend, da sie den einzig
wertvollen Besitz in dem Land besaßen: Land.
Es war die russische Einwanderung vor dem Ersten Weltkrieg, die den
Jischuv für Generationen geprägt hat. Ein großer Teil Polens gehörte
zu der Zeit zu Russland. Die Einwohner dieser Gebiete schlossen sich
der russischen Einwanderungswelle an. Einer von ihnen, ein junger
Mann, der David Green hieß, änderte seinen Namen in Ben-Gurion.
In den 1920ern füllte eine Welle von Juden aus dem neuerdings
unabhängigen und antisemitischen Polen die Reihen des Jischuvs.
Als meine Familie aus Deutschland nach Palästina kam, im Jahre 1933,
war es die russisch-polnische Gemeinschaft, die sie hier vorfanden.
Die „Deutschen“ wurden mit Verachtung von den alten Einwanderern
behandelt, die sie „Jeckes“ nannten (woher diese Bezeichnung stammt,
weiß Niemand), und sie betrogen sie regelmäßig.
Das war ein ziemlicher Rollentausch: in Deutschland waren es die
einheimischen Juden, die die weniger zivilisierten Einwanderer aus
Polen und Russland, „Ostjuden“, mit Verachtung behandelten.
ALL DAS machte uns, den Kindern dieser Zeit, keine Sorgen. Wir
wollten keine Einwanderer sein und keine Deutschen, Polen oder
Russen. Wir gehörten einer neuen Nation an, die in diesem Land
gerade im Begriff war, zu entstehen. Wir sprachen Hebräisch, eine
sehr lebendige Sprache, die vom Tod erweckt worden war. Wir wollten
Bauern sein, Pioniere.
Wir schufen eine neue perfekte, einheimische Rasse. Ihr Spitzname
war „Sabra“, eine lokale Kaktuspflanze, außen stachelig, innen süß.
Diese Pflanze konnte man im ganzen Land sehen,
Unsere Idee war, uns all dieser charakteristischen Eigenschaften der
verschiedenen jüdischen Gemeinden zu entledigen und sie in einen
Schmelztiegel zu werfen, von wo sie als neugeborene Hebräer wieder
herauskämen, eine neue Rasse, die tief im Boden dieses Landes
verwurzelt ist.
Am Ende der 1930er Jahre machte die neue Terminologie, die unbewusst
von jedem angenommen wurde, eine klare Unterscheidung zwischen dem
Jüdischen und dem Hebräischen. Wir träumten von einem hebräischen
Staat, beteiligten uns am hebräischen Untergrund und sprachen über
hebräische Kultur, hebräische Industrie und die zukünftige
hebräische Armee. Die Juden waren im Ausland: die jüdische Diaspora
(allgemein genannt das „jüdische Exil“), die jüdische Religion, die
jüdische Tradition.
Diese Gepflogenheit war natürlich, verstand sich von selbst. Wir
waren damit beschäftigt, etwas vollkommen Neues aufzubauen. Wir
sahen die Diaspora-Juden mit Herablassung. Einige kleine Gruppen
propagierten sogar einen vollkommenen Bruch mit den Juden und deren
Geschichte. Aber die Sabras hatten keine Geduld mit all diesem
ideologischen Nonsens. Sogar das Wort „Zionismus“ wurde ein Synonym
für Nonsens - „Sprich nicht vom Zionismus“, bedeutete: „ Hör auf,
hochgestochene Phrasen zu äußern“.
Wir waren damit beschäftigt und uns ziemlich bewusst, eine neue
hebräische Kultur, Poesie, Literatur, Tanz, Malerei, Theater,
Journalismus zu schaffen, die unsere neue Realität in unserem neuen
Heimatland widerspiegelte.
Dann kam der Holocaust. Als seine volle Grausamkeit im Jahr 1944
unbestreitbar wurde, schwappte eine Welle von Gewissensbissen über
den Jischuv. Aber da waren wir bereits alle dabei, den „im Entstehen
begriffenen Staat“ zu schaffen.
ALS DER Staat Israel offiziell erklärt wurde, mitten im Krieg von
1948, waren wir 650.000 Juden in dem Land. Innerhalb von ein paar
Jahren brachten wir Hunderttausende, dann Millionen neuer
Einwanderer hinein.
Von wo? Ein paar Hunderttausende wurden aus den Lagern in Europa
gebracht, wo der klägliche Rest der Überlebenden des Holocaust
wartete. Aber die große Mehrheit kam aus islamischen Ländern, von
Marokko bis zum Iran.
Für uns waren sie alle gleich. Einwanderer, die in den Schmelztiegel
geworfen werden sollten, um so wundervolle Menschen wie wir zu
werden.
Fast niemand achtete auf den gewaltigen Wandel in der demografischen
Zusammensetzung des jüdischen Volkes, den der Holocaust verursacht
hatte. Vorher waren die orientalischen Juden eine kleine Minderheit
unter den Juden. Nachher waren sie ein bei weitem größerer Teil. Das
sollte ihr Bewusstsein verändern.
Ein paar wenige vorher eingewanderte Einwohner (darunter auch ich
selbst) warnten, dass man sich mit einer neuen Realität
auseinandersetzen müsse. Die Ideale, die von Europa eingeführt
wurden, passten nicht wirklich zu den orientalen Einwanderern.
Menschen wie Ben-Gurion und seine Kollegen waren unbeeindruckt. Sie
waren sicher, dass die Dinge sich von selbst regeln würden. Hatten
sie das nicht immer schon getan?
Nun, sie taten es nicht. Die erste Generation der neuen Einwanderer
aus dem „Osten“ (derzeit liegt Marokko weit im Westen von uns) war
nur damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie
verehrten auch Ben-Gurion. Aber die zweite Generation begann, Fragen
zu stellen. Die dritte ist nun in vollem Aufruhr.
Die zionistische Auffassung, dass alle Juden gleich sind, mit
kleinen Unterschieden in Sprache und Hautfarbe, ist anachronistisch.
Die „orientalischen“ Juden zeigen keine Neigung, in irgendeinen
Schmelztiegel geworfen zu werden. Sie sind in fast jeder Hinsicht
anders.
Der Schmelztiegel ist zerbrochen. Orientalische Juden (oft
fälschlisch Sephardis genannt) sind stolz auf ihr Erbe. Sie
rebellieren gegen die europäische Überlegenheit.
Dieser Kampf dominiert nun das israelische Leben. Kein Lebensbereich
ist davon ausgenommen. Er ist sozial, wirtschaftlich, kulturell,
politisch, oft verborgen hinter einer anderen Fassade, aber, er ist
immer da.
Dies ist ein soziales Problem. Da die meisten Europäer Zeit hatten,
einigen wirtschaftlichen Status vor der Ankunft der Orientalen zu
erwerben, sind sie in der Regel wohlhabender. Sie sind auch in den
meisten wirtschaftlichen Schlüsselpositionen. Die Orientalen fühlen
sich ausgebeutet, diskriminiert, als Unterklasse.
Die Orientalen sind in der Regel stolz darauf, emotionaler zu sein,
besonders in Bezug auf nationale Angelegenheiten. Sie klagen die
Ashkenazis (von einem alten, ausgedienten, hebräischen Namen für
Deutschland) an, kaltblütig und weniger patriotisch zu sein.
Sie haben auch ein sehr unterschiedliches Verhalten gegenüber der
Religion. Einwohner von muslimischen Ländern sind generell gemäßigt
religiös, weder Atheisten, noch Fanatiker. Die Juden aus
islamistischen Ländern sind genauso. Einige Wenige sind sehr
religiös, aber noch weniger bezeichnen sich selbst als „säkular“.
Ashkenazis sind ganz anders. Es stimmt, die Ultra-Orthodoxen, die
anti-zionistischen „haredim“ (die, die Gott „fürchten“) sind
meistens Ashkenazis, wie auch die „Religiösen Zionisten“, die an
Faschismus heranreichen. Aber die große Mehrheit der Ashkenazis ist
„säkular“, eine höflich Art einen Atheisten zu bezeichnen. Fast alle
Gründer des Zionismus waren radikale Atheisten. Nun gewinnt die
national-religiöse Gemeinschaft in dem Land immer mehr an Boden.
DIE TRAGÖDIE vom heutigen Israel ist nicht, dass es so viele
Divisionen gibt, sondern dass sie sich alle in einem großen Graben
sammeln .
Der Enkelsohn eines Einwanderers aus Marokko gehört wahrscheinlich
einer niederen sozialen und wirtschaftlichen Klasse an, ist gemäßigt
religiös und ein radikaler Nationalist. Das bedeutet, dass er
verbittert ist über „die alten Eliten“ (die meisten sind Ashkenazis),
über die säkulare Kultur, über die „Linken“ (die für ihn alle
degenerierte Ashkenazis sind). Er ist auch ein Fan bestimmter Araber
hassenden Fussballteams und ein Liebhaber von "orientalischer Musik"
– ein Genre, das weder ziemlich arabisch, noch ziemlich griechisch
ist, aber so weit entfernt von klassischer Musik ist, wie Teheran
von Wien.
Das bedeutet in politischer Hinsicht, dass diese Person fast sicher
den Likud wählt, unabhängig davon, was der Likud tut. Ashkenazis
können sie darauf hinweisen, dass der Likud eine Politik betreibt,
die im krassen Gegensatz zu ihren besten Interessen ist, eine
neo-liberale, anti-soziale Politik, die die sehr Reichen begünstigt.
Sie wird nicht zuhören. Sie ist dem Likud verpflichtet durch tausend
Verbindungen von Gefühl und Tradition.
Dasselbe gilt auch für die andere Seite. Die Arbeiterpartei (was von
ihr geblieben ist) wird die Partei der Ashkenazis bleiben, ebenso
wie Meretz. Ihre Mitglieder bilden die "alte Elite", auch wenn sie
von der sozialen Sicherheit abhängen. Sie wird hinuntersehen auf die
religiösen aller Couleur, Beethoven hören (oder es behaupten),
Lippenbekenntnisse zur „Zweistaatenlösung“ geben und Netanyahu
verfluchen – der natürlich Ashkenazi ist, wie man es nur sein kann.
DER GEGENWÄRTIGE GRABEN zwischen den Europäern und den Orientalen
ist nicht der einzige.
Als der Schmelztiegel zerschmettert wurde, wurde jeder Teil der
israelischen Gesellschaft autonom.
Der arabische Sektor von Israel, über 20%, ist praktisch abgetrennt.
Arabische Bürger sind in der Knesset vertreten, aber diese Woche
verabschiedete die Knesset ein Gesetz, dass 90 (von 120) Mitgliedern
der Knesset erlaubt, jedes Mitglied auszuschließen. Das ist eine
direkte Bedrohung für die Abgeordneten der Vereinigten Arabischen
Partei, die nun 13 Mitglieder zählt.
Die neuen Einwanderer aus Russland (neu bedeutet seit 1989) leben
ein eigenständiges Leben, stolz auf ihre russische Kultur und sehen
auf uns, die Primitiven, herab und verachten auch die Religion,
Sozialisten jeglicher Couleur und - mehr als alles andere – die
Araber aus ganzem Herzen hassen. Sie haben ihre eigene
ultra-nationalistische Partei, angeführt von „Ivet“, Lieberman.
Und dann gibt es noch die Ultra-Orthodoxen, die nicht dazu gehören,
die Zionismus hassen und in ihrer eigenen Welt leben, fast völlig
isoliert. Für sie sind die religiösen Zionisten Ungläubige, verdammt
dazu, in der Hölle zu schmoren.
DAS IST mehr oder weniger das Spektrum. All diese Sektoren pflegten
durch die Armee vereint zu werden (mit Ausnahme der Araber und der
Orthodoxen), die eine sakrale Institution war – bis ein
orientalischer Soldat, genannt Elor Azarya, einen tödlich
getroffenen arabischen Angreifer auf dem Boden liegen sah und ihn
geradewegs in den Kopf schoss.
Für die Massen der Orientalen ist er ein Nationalheld. Für das
Armeekommando und die Masse der Europäer ist er Abschaum. Der Riss
wird zur tiefen Kluft.
Was kann Israel nun vereinen?
Nun, ein guter Krieg beispielsweise.
(aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf) |