Die
Erzählung von zwei Geschichten
Uri Avnery. 30. September 2017
DIES IST die Geschichte: um sieben Uhr
morgens nähert sich ein Araber dem Tor von Har Adar, einer Siedlung
nahe an der grünen Linie in der Nähe des israelisch-arabischen
Dorfes von Abu Gosh.
Der Mann ist ein „guter Araber“. Ein
guter Araber mit einer Arbeitsgenehmigung in der Siedlung. Er lebt
im nahen Westbank-Dorf Beit Surik. Er empfing eine
Arbeitsgenehmigung dort, weil er all den dafür nötigen Kriterien
entspricht – er ist 37 Jahre alt, verheiratet und Vater von vier
Kindern. Die Bewohner von Har Adar kennen ihn gut, weil er seit
Jahren ihre Wohnungen gereinigt hat.
An diesem Dienstagmorgen kommt er wie
gewöhnlich an das Tor. Aber da lässt die Wächter etwas Verdacht
schöpfen. Er trägt eine Jacke, obwohl das Wetter an diesem frühen
Herbsttag ziemlich warm war. Die Wächter bitten ihn, seine Jacke
auszuziehen.
Stattdessen zieht der Mann eine
geladene Pistole heraus und schießt aus kurzer Entfernung drei der
Wächter in den Kopf – zwei zivile Wächter und ein Mitglied der halb
militärischen Grenzwache. Zwei der Opfer waren Araber (einer von
ihnen ein Druse) und einer war ein Jude. Ein anderer Jude, der
lokale Kommandeur der Wächter, wurde schwer verwundet. Da der
Angreifer niemals militärisches Training erhalten hatte, war die
Genauigkeit seiner Schüsse erstaunlich. Die Pistole war vor 15
Jahren gestohlen worden.
Ganz Israel war geschockt. Wie konnte
dies geschehen? Ein guter Araber wie dieser? Ein Araber mit
Arbeitsgenehmigung? Warum tat er so etwas an einem Ort, an dem er
geachtet und gut behandelt wurde? Wo er mit den Kindern spielte?
Und das, nachdem er sorgfältig vom Sicherheitsdienst überprüft
worden war, der unzählige arabische Spione hat und fast als
unfehlbar angesehen wurde?
Etwas Außerordentliches muss
geschehen sein. Irgendjemand muss ihn gegen die Juden und die
netten Leute von Har Adar, die ihn gut behandelt haben, aufgehetzt
haben. Vielleicht die UN-Rede von Mahmoud Abbas. Oder vielleicht
einige heimliche Kontakte mit der Hamas? „Aufwiegelung!“ schrie
Benjamin Netanjahu.
Doch da taucht eine andere Tatsache
auf, die alles erklärt. Der Mann hatte sich mit seiner Frau
gestritten. Er hatte sie geschlagen und sie war zu ihrer Familie
nach Jordanien geflohen und hatte die vier Kinder zurück gelassen.
Er war also aus dem Gleichgewicht
gebracht worden. In einem Zustand psychischer Verwirrung hatte er
die Freundlichkeit der Har Adar-Leute vergessen. Ein einmaliger
Fall, über den man sich nicht weiter Sorgen machen sollte.
DAS IST ALSO die Geschichte. Aber es
gibt auch noch eine andere Geschichte. Die Geschichte, wie sie von
dem Mann selbst gesehen wurde.
Von seinem Haus im benachbarten Beit
Surik konnte der Mann – dessen Name übrigens Nimr („Leopard“)
Mahmoud Ahmed al-Jamal war – Har Adar jeden Tag, wenn er aufwachte,
sehen. Für ihn wie für jeden Araber war es eine blühende jüdische
Siedlung, auf enteignetem arabischem Land. Wie sein eigenes Dorf
gehörte sie zur palästinensischen West Bank, die besetztes Gebiet
ist.
Er musste in dunkler Nacht aufstehen,
um zeitig - um 7 Uhr am Morgen – in Har Adar zu sein und bis in
die Nacht hart arbeiten, um etwa um 10 Uhr zu Hause zu sein. Dies
ist das Los von Zehntausenden anderer arabischer Arbeiter. Sie mögen
freundlich aussehen, besonders wenn ihr Lebensunterhalt davon
abhängt. Sie mögen sogar wirklich freundlich gegenüber den
wohlwollenden Herren sein. Aber tief in ihren Herzen können sie
keinen Moment vergessen, dass sie die Toiletten der Juden reinigen,
die ins arabische Palästina kamen und die Heimat der Palästinenser
besetzten.
Da der größte Teil des
landwirtschaftlichen Landes ihrer Dörfer für jüdische Siedlungen
enteignet worden war, haben sie keine Wahl, als in diesen Jobs von
niedrigem Status zu arbeiten. Es gibt keine nennenswerte Industrie
in der Westbank. Die Löhne sind minimal, oft unter dem legalen
Minimum-Lohn im eigentlichen Israel (etwa 1500 Dollar im Monat). Da
sie keine andere Wahl haben, sind sie nicht weit davon entfernt,
Sklaven zu sein. Wie die netten Sklaven in „Gone with the Wind“.
Solch ein Mann mag mit dieser Realität
in Frieden leben, aber wenn etwas Schlimmes passiert, kann er
plötzlich mit diesem Status außer Rand und Band geraten und sich
entscheiden, ein Märtyrer zu werden. Nimr hinterließ einen Brief, in
dem er seine Frau verteidigt und ihr jede Verantwortung für die Tat
abspricht, die er für den nächsten Tag geplant hatte.
DIES SIND die beiden Geschichten, die
sehr wenig gemeinsam haben.
Die Leute von Har Adar sind äußerst
schockiert. Da sie nur mit einer 20 Minuten-Autofahrt von Jerusalem
entfernt wohnen, betrachten sie sich überhaupt nicht als Siedler,
sondern als Israelis wie jeder andere. Sie sehen die Araber rund um
sich herum nicht als Leute wie sie selbst, sondern als primitive
Eingeborene.
Die Har Adar-Leute sind nicht wie die
fanatischen, religiöse und fast faschistischen Leute in einigen
Siedlungen. Weit davon entfernt. Die Har Adar-Leute stimmen für alle
Parteien, einschließlich Meretz, die linke zionistische Partei, die
die Rückgabe der besetzten Gebiete an die Palästinenser
befürwortet. Dies schließt natürlich nicht Har Adar ein, da es einen
allgemeinen Konsens unter den Zionisten gibt, rechten wie linken,
dass die Siedlungen nahe der Grünen Linie an Israel annektiert
werden sollten.
Har Adar-Leute können richtig stolz
auf ihre Leistungen sein. Aus der Luft sieht der Ort sehr
ordentlich aus. Er hat 3858 Einwohner. Ihr durchschnittliches
Einkommen ist etwa 5000 Dollar im Monat, weit über dem national
israelischen Durchschnitt (3000 Dollar) Ihr Ortsrat ist der dritt
wirksamste im ganzen Land.
In der bergigen Gegend rund um
Jerusalem gibt es eine wunderbare Landschaft. Sie hat auch von
Menschen gewirkte Annehmlichkeiten: eine Bibliothek, einen
Jugend-Club, einen Schlittschuh-Park und ein Amphitheater mit 720
Sitzen. Selbst für einen durchschnittlichen Israeli ist dies ein
Paradies. Für die Araber rund herum, die nicht ohne
Sondergenehmigung dieses betreten dürfen, ist es eine ständige
Erinnerung an ihre nationale Katastrophe.
Natürlich liegt Har Adar wie andere
Siedlungen nicht auf Land, das leer war. Es besetzt den Ort, auf dem
einst ein Dorf mit dem Namen Hirbat Nijam lag, ein Ort , der schon
in persisch-hellenistischen Zeiten, vor etwa 2500 Jahren dort
stand. Wie die meisten palästinensischen Dörfer, waren sie
kanaanitisch, dann judäisch, danach hellenistisch, danach
byzantinisch, muslimisch, dann gehörte es den Kreuzfahrern, dann
den Mameluken, schließlich den Ottomanen und den Palästinensern -
ohne dass die Bevölkerung sich änderte. Bis 1967.
ALS NIMR geboren wurde, war diese
lange Geschichte längst vergessen. Was blieb, war die Realität der
israelischen Besatzung.
Dies sieht jetzt wie der normale Stand
der Dinge aus. Die Bewohner von Har Adar sind glücklich, fühlen sich
sicher und gut vom Sicherheitsdienst, dem Grenzschutz und lokalen
Söldnern, meistens arabische Bürger aus Israel beschützt. Nachbarn
wie Nimr scheinen zufrieden zu sein und sind es wahrscheinlich auch,
und glücklich, einen Job und eine Arbeitserlaubnis zu haben, wenn
auch mit erbärmlichem Lohn. Der historische Groll liegt tief in
ihrem Bewusstsein verborgen.
Und dann geschieht etwas, etwas das
ganz irrelevant ist - wie die Flucht seiner Frau nach Jordanien –
was alles außer Rand und Band bringt. Nimr, der bescheidene Arbeiter
wird plötzlich Nimr, der Freiheitskämpfer, Nimr der Märtyrer auf dem
Weg ins Paradies. Alle seine Nachbarn respektieren sein Opfer und
seine Familie.
Die Israelis sind wütend, dass den
Familien der „Märtyrer“ eine finanzielle Unterstützung von der
palästinensischen Behörde gezahlt wird. Benjamin Netanjahu klagt
Mahmoud Abbas (Abu Mazen) an, mit diesen Zahlungen zum Mord
aufzustacheln. Doch ist es für Abbas unmöglich, diese zu annullieren
- die Reaktion seines Volkes würde gewaltig sein. Märtyrer sind
heilig, ihre Familien werden respektiert.
AM TAG nach Nimrs terroristischen Akt
und oder heroischem Märtyrertum, begann eine grandiose nationale
Feier in einer anderen Siedlung.
Alle größeren Würdenträger des Landes,
angeführt vom Präsidenten und Ministerpräsidenten waren eingeladen,
um den 50. Jahrestag „unserer Rückkehr in unsere Heimat Judäa und
Samaria, das Jordantal und die Golanhöhen zu feiern.“
(In der Liste fehlt der Gazastreifen,
das Israel evakuiert hat und ein schwieriges Land und eine
Meer-Blockade zurückließ, die von Ägypten unterstützt wird. Im
Streifen leben über zwei Millionen Palästinenser. Wer zum Teufel
will sie in Israel haben?)
Die Hölle brach aus, als die
Präsidentin des Obersten Gerichtes, von der angenommen wurde, dass
sie einen Richter als Vertreter des Gerichtes zu dieser Feier
schickt, seine Anwesenheit wegen des hoch propagandistischen Stils
der Veranstaltung, strich. Sie entschied, dass dies
Partei-Propaganda sei, an der ihr Gericht nicht teilnehmen würde.
ALLES ZUSAMMEN genommen, gibt es
keinen ruhigen Tag in diesem Land: ein Staat ohne Grenzen und ohne
Verfassung, in dem jede Geschichte zwei total verschiedene Seiten
hat, in dem freundliche und ruhige Leute plötzlich in Wut geratene
Märtyrer werden.
Es wird keine Ruhe geben bis Frieden
sein wird, in dem jedes der beiden Völker in seinem eigenen Staat
leben wird, eine Situation, in der wirkliche Freundschaft eine
Chance zum Blühen hat. (dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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