„Gieße aus Deinen Zorn!“
Uri Avnery, 7.April 2012
ICH SCHREIBE dies am Freitagabend, am Vorabend von
Pessach. In diesem Augenblick sind in der ganzen Welt Millionen von
Juden um den Familientisch versammelt, begehen den Sederabend und
lesen laut aus demselben Buch: der Haggadah, die die Geschichte des
Exodus aus Ägypten erzählt.
Die Auswirkungen dieses Buches auf das jüdische Leben
sind immens. Jeder Jude nimmt an dieser Zeremonie von frühester
Kindheit an teil und spielt bei dem Ritual eine aktive Rolle. Wo
immer ein jüdischer Mann oder eine jüdische Frau im späteren Leben
hingeht, nehmen sie in der Erinnerung an die Wärme des
Zusammenseins der Familie, die zauberhafte Atmosphäre mit – und die
offene und unterschwellige Botschaft, die der Text vermittelt.
Wer auch immer das Seder- („Ordnung“) Ritual vor
vielen Jahrhunderten erfunden hat, war ein Genie. Alle menschlichen
Sinne sind beteiligt: sehen, hören, schmecken, riechen. Es schließt
das Essen eines vorgeschriebenen Mahles ein, das Trinken von vier
Gläsern Wein, das Berühren von verschiedenen vorgeschriebenen
symbolischen Dingen, das Spielen eines Spiels mit den Kindern (das
Suchen nach einem versteckten Stück Matze) Es endet mit dem
gemeinsamen Singen mehrerer religiöser Lieder. Die angesammelte
Wirkung ist fast magisch.
Mehr als jeder andere jüdische Text formt die
Haggadah bewusst – oder eher unbewusst – die Gesinnung heute wie in
der Vergangenheit, beeinflusst unser kollektives Verhalten und die
nationale Politik Israels.
Es gibt viele verschiedene Wege, dieses Buch zu
betrachten.
ALS LITERATUR: als literarisches Werk ist die
Haggadah ziemlich miserabel. Dem Text fehlt die Schönheit, er ist
voller Wiederholungen, Plattitüden und Banalitäten.
Dies mag Verwunderung auslösen. Die hebräische Bibel
– die Bibel auf hebräisch – ist ein Werk von einzigartiger
Schönheit, an vielen Stellen ist seine Schönheit berauschend. Die
Spitzen westlicher Kultur – Homer, Shakespeare, Goethe, Tolstoi -
kommen ihr nicht einmal nahe. Selbst die späteren jüdischen
religiösen Texte – Mishna, Talmud usw. – auch wenn sie nicht so
erbaulich sind, enthalten Passagen von literarischem Wert. Die
Haggadah hat keinen. Es ist ein Text der rein für Indoktrination
gedacht ist.
ALS GESCHICHTE ist sie nichts wert. Obwohl sie
vorgibt, Geschichte zu erzählen. Die Haggadah hat nichts mit realer
Geschichte zu tun.
Es kann nicht mehr der geringste Zweifel daran
bestehen, dass der Exodus sich nie ereignet hat. Weder der Exodus
noch die Wanderung durch die Wüste, auch nicht die Eroberung von
Kanaan.
Die Ägypter waren besessene Chronisten. Zig Tausende
von Täfelchen sind schon entziffert worden. Es würde für ein
Geschehen wie den Exodus unmöglich gewesen sein, über ihn nicht
lang und breit zu berichten. Nicht wenn 600 000 Menschen
wegziehen, wie die Bibel erzählt, oder 60 000 oder sogar nur 6000.
Besonders wenn während der Flucht ein ganzes ägyptischen
Armee-Kontingent, einschließlich Streitwagen, ertrinkt.
Dasselbe gilt für die Eroberung Kanaans. Nachdem es
einmal von Kanaan erobert wurde, hatten die Ägypter akute
Sicherheitsbefürchtungen, was dieses Nachbarland betraf . Sie
beschäftigen jetzt eine Menge Spione, Reisende, Kaufleute und
andere, die eng den Ereignissen im benachbarten Kanaan in jeder
einzelnen seiner Städte und zu allen Zeiten folgten. Eine Invasion
in Kanaan, selbst eine kleine, hätte man berichtet. Abgesehen von
den regelmäßigen kleinen Einfällen durch Beduinenstämme, wurde
nichts berichtet.
Außerdem existierten die in der Bibel erwähnten
Städte zu jener Zeit noch gar nicht, als das Geschehen angeblich
passiert ist. Sie existierten allerdings später, als die Bibel
geschrieben wurde – im 1. und 2. Jahrhundert v. Chr.
Es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass nach
hundert Jahren fieberhafter archäologischer Suche durch fromme
christliche und zionistische Zeloten nicht eine Scherbe als
konkreter Beweis für die Eroberung Kanaans gefunden worden ist (auch
nichts davon, dass ein Königtum Sauls, Davids oder Salomos je
existierten).
Aber ist das wirklich wichtig? Überhaupt nicht!
Die Passahgeschichte leitet ihre immense Macht nicht
von der angeblich historischen Geschichte ab. Es ist ein Mythos,
der die menschliche Vorstellung fesselt, ein Mythos, der die
Grundlage einer großen Religion ist, ein Mythos, der bis auf den
heutigen Tag das Verhalten der Menschen bestimmt. Ohne die
Exodus-Geschichte gäbe es wohl den Staat Israel von heute nicht –
und gewiss nicht in Palästina .
DER RUHM: Man kann die Exodusgeschichte als ein
leuchtendes Beispiel für alles, was gut und inspirierend in den
Annalen der Menschheit ist, lesen.
Hier ist die Geschichte eines kleinen machtlosen
Volkes, das sich gegen einen brutalen Tyrannen erhebt, seine Fesseln
abwirft, eine neue Heimat gewinnt und dabei einen revolutionären
neuen Moralcodex schafft.
So betrachtet, ist der Exodus ein Sieg des
menschlichen Geist, eine Inspiration für alle unterdrückten Völker.
Und tatsächlich hat er viele Male in der Vergangenheit diesem Zweck
gedient. Die Pilgerväter, die Gründer der amerikanischen Nation,
wurden davon inspiriert und so waren es auch viele andere
Rebellionen im Laufe der Geschichte.
DIE ANDERE SEITE : wenn man sorgfältig den biblischen
Text liest, ohne religiöse Scheuklappen, dann geben uns einige
Aspekte Nahrung für andere Gedanken.
Nehmen wir die zehn Plagen. Warum wurde das ganze
ägyptische Volk für die Untaten eines Tyrannen, des Pharao,
bestraft? Warum verhängte Gott wie ein göttlicher Sicherheitsrat so
grausame Sanktionen, verunreinigte ihr Wasser mit Blut, zerstörte
ihren Lebensunterhalt mit Hagel und Heuschrecken? Und noch
grausamer: wie konnte ein gnädiger Gott seine Engel senden, um jedes
erst geborene ägyptische Kind zu töten?
Beim Verlassen Ägyptens waren die Israeliten
ermutigt, Besitz ihrer Nachbarn zu stehlen.
Es ist ziemlich seltsam, dass der biblische
Geschichtenschreiber, der sicher tief religiös war, dieses Detail
nicht vergaß. Und dies nur wenige Wochen bevor den Israeliten die
Zehn Gebote von Gott persönlich gegeben wurden, einschließlich des
Gebotes: „Du sollst nicht stehlen!“
Keiner scheint sich je viele Gedanken über die
ethische Seite der Eroberung Kanaans gemacht zu haben. Gott
versprach den Kindern Israels ein Land, dass die Heimat anderer
Völker war. ER sagte ihnen, diese andern Völker zu töten, ja
ausdrücklich befahl er ihnen, Völkermord zu begehen. Aus irgendeinem
Grund nahm er das Volk der Amalekiter heraus und befahl den
Israeliten, sie alle zusammen, zu vernichten. Später wurde der
ruhmreiche König Saul von Gottes Propheten entthront, weil er Gnade
gezeigt und nicht alle seine amalekitischen Kriegsgefangenen,
Männer, Frauen und Kinder umgebracht hatte.
Natürlich wurden diese Texte von Leuten vor langer
Zeit geschrieben, als die Moral der Individuen und Nationen anders
war, und so auch die Regeln des Krieges. Aber die Haggadah wird –
heute wie früher – unkritisch aufgesagt, ohne Überlegungen über
diese schrecklichen Aspekte. Besonders in religiösen Schulen in
Israel wird das Gebot, einen Völkermord gegen die nicht-jüdische
Bevölkerung Palästinas zu begehen, von vielen Lehrern und Schülern
ganz buchstäblich genommen.
INDOKTRINIERUNG: Dies ist der wirkliche Punkt dieser
Reflektionen.
Da gibt es zwei Sätze in der Haggadah, die immer
noch eine tiefe Wirkung auf die Gegenwart haben.
Einer der zentralen Gedanken, auf den fast alle Juden
ihre historische Ansicht gründen: „In jeder
Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu zerstören.“
Dies gilt nicht für eine bestimmte Zeit oder einen
bestimmten Ort. Es wird als eine ewige Wahrheit
angesehen, die für alle Orte und Zeiten gilt. „Sie“ ist die ganze
Welt, alle Nicht-Juden überall. Die Kinder hören dies am Sederabend
auf dem Schoß ihres Vaters, lange bevor sie lesen und schreiben
können, und von da an hören sie es oder rezitieren sie es jedes Jahr
– jahrzehntelang. Es drückt die ganze bewusste und unbewusste
Überzeugung fast aller Juden aus, ob in Los Angeles, Kalifornien
oder in Lod in Israel. Es lenkt sicherlich die Politik des Staates
Israel.
Der zweite Satz, der den ersten ergänzt, ist ein
Schrei zu Gott: „Gieße deinen Zorn über die Völker, die dich nicht
kennen …denn sie haben Jakob verschlungen und sein Haus verwüstet!
Möge Dein lodernder Zorn sie ereilen! Verfolge sie unter den Himmeln
des Herrn…“
Das Wort „Nationen“ hat in diesem Zusammenhang eine
doppelte Bedeutung. Das hebräische Wort ist „Goyim“, ein alter
hebräischer Ausdruck für „Völker“. Selbst die Israeliten wurden als
„Heilige Goyim“ bezeichnet. Aber während der Jahrhunderte erhielt
das Wort eine andere Bedeutung und meint alle Nicht-Juden, und zwar
in abfälliger Weise. ( Wie in einem jiddischen Lied: „Oy,Oy,Oy,
betrunken ist ein Goy!“)
Um diesen Text richtig zu verstehen, erinnere man
sich daran, dass es als ein Schrei aus der Tiefe des Herzens eines
wehrlosen, verfolgten Volkes kam, das keine Mittel hatte , sich bei
seinen Folterern zu rächen. Um ihre Gemüter zum fröhlichen
Sederabend zu erheben, mussten sie ihr Vertrauen auf Gott setzen und
zu IHM schreien, Er möge an ihrer Stelle Rache nehmen.
(Während des Seder-Rituals steht die Tür immer offen.
Offiziell bedeutet sie, dass der Prophet Elia eintreten kann, sollte
er wunderbarerweise von den Toten auferstehen. Tatsächlich sollte
aber es den Goyim erlauben, hereinzusehen, um die antisemitische
Verleumdung zu widerlegen, dass Juden ihr ungesäuertes Pessachbrot
mit dem Blut gekidnappter christlicher Kinder backen.
DIE LEKTION: In der Diaspora war dies Verlangen nach
Rache verständlich und harmlos. Aber die Gründung des Staates Israel
hat die Situation vollkommen verändert. In Israel sind die Juden
weit davon entfernt, wehrlos zu sein. Wir müssen uns nicht auf Gott
verlassen, dass er die realen oder eingebildeten Untaten, die uns
in der Vergangenheit und Gegenwart angetan wurden, räche. Wir
können jetzt unsern Zorn selbst ausgießen über unsere Nachbarn, die
Palästinenser, und die andern Araber , auf unsere Minderheiten, auf
unsere Opfer.
Das ist die wirkliche Gefahr der Haggadah, wie ich
sie sehe. Sie wurde von und für hilflose Juden geschrieben, die in
ständiger Angst lebten. Es hob ihre Gemütsverfassung einmal im Jahr,
wenn sie sich für den Augenblick sicher fühlten, beschützt von ihrem
Gott, umgeben von der Familie.
Aus diesem Kontext herausgenommen und in einer neuen,
völlig anderen Situation angewandt, kann es uns auf einen bösen Kurs
bringen. Wenn wir uns sagen, dass jeder darauf aus ist, uns zu
zerstören – gestern und bestimmt morgen, betrachten wir den
übertriebenen Bombast eines iranischen Großmauls als lebendigen
Beweis der Gültigkeit der alten Maxime. Sie sind darauf aus, uns zu
töten. Also müssen wir – entsprechend der alten jüdischen Anordnung
– sie zuerst töten, bevor sie uns töten.
An diesem Sederabend lasst uns also den edlen,
inspirierenden Teil der Haggadah betrachten, den Teil über die
Sklaven, die sich gegen den Tyrannen erheben und ihr Schicksal in
ihre eigenen Hände nehmen – und nicht den Teil, indem es um das
Ausgießen des Zorns geht.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)